Wenn Menschen ernsthaft und dauerhaft erkranken, ist das für die jeweilige Person und für ihr Umfeld eine Extremsituation. Um mit dieser neuen Lebenssituation gut umzugehen, haben die Betroffenen zunächst einmal das starke Bedürfnis sich zu informieren. Die Informationen holen sich die Patienten aber nicht nur von den Heilberuflern wie Arzt oder Apotheker – diese haben dafür häufig keine Zeit und bekommen diese auch nicht vergütet. Deswegen sind Informationen zu Krankheiten und Therapiemöglichkeiten die im Internet am häufigsten gesuchten Suchbegriffe. Die Fülle, die Art und die Unkenntnis über die Qualität der Informationen überfordern die Patienten und deren Angehörigen. Daher ist es sinnvoll und hilfreich für schwere, chronische Erkrankungen den Patienten Betreuungsprogamme anzubieten. Dort gibt es qualitätsgesicherte Informationen und hilfreiche Services zum Umgang und zur Bewältigung der Erkrankung.
2. Ist es denn wirklich so, dass Patienten solche Programme gut finden?
Gute Patientenbetreuungsprogramme werden von den Patienten sehr gerne und dankbar angenommen. Der wichtigste Faktor für die Akzeptanz der Programme durch die Patienten ist die Zuwendung, die der Betroffene durch das Programm erfährt. Im deutschen Gesundheitswesen bleibt immer weniger Zeit für Gespräche und menschliche Zuwendung. Die Art und Intensität der Zuwendung ist für die Patienten das entscheidende Kriterium für den erlebten Nutzen. Es geht zum Beispiel nicht nur darum, die Blutwerte des Patienten zu verbessern, das ist der messbare Nutzen. Sondern es geht um den erlebten Nutzen. Ob der Patient das Gefühl hat, dass ihn jemand versteht in seiner Situation. Das scheint mir der entscheidende Erfolgsfaktor zu sein.
3. Versuchen wir doch erst einmal einen Überblick zu bekommen. Welche Patienten werden denn begleitet und wie findet diese Begleitung dann statt?
In der Regel handelt es sich um schwerwiegende und chronische Erkrankungen, für die den Patienten ein Begleitprogramm angeboten wird. Dazu zählen Krankheiten wie Rheumatoide Arthritis, Multiple Sklerose, Morbus Crohn, Psoriasis aber auch Volkskrankheiten wie Diabetes oder Asthma.
Neben relevanten Informationen zu der Erkrankung selber gibt es vielfältige Unterstützung z.B. zu den Themen Therapietreue oder Ernährung bis hin zu Hinweisen über die Versorgung der Patienten im Urlaub.
Dafür kommen alle denkbaren Kommunikationskanäle zum Einsatz. Patienten schätzen persönliche und empathische Gespräche am Telefon. Aber auch schriftliche Informationen oder Social Media spielen eine wichtige Rolle.
4. Wie lange werden die Patienten denn betreut?
In der Regel schreiben sich interessierte Patienten nach einer ausführlichen Beratung mit ihrem betreuenden Arzt in das Patientenbegleitprogramm ein. Und der Idealfall ist, dass die Patienten dann auch dauerhaft während ihrer Erkrankung je nach Bedarf die Betreuungsangebote nutzen.
5. Worauf kommt es besonders an beim Aufbau von Begleitprogrammen für Patienten?
Entscheidend ist neben der inhaltlichen Qualität vor allem niedrigste Hürden beim Zugang in das Programm für den Patienten: die Convenience. Der Zugang muss patienten- und zielgruppenadäquat sein. Ein Programm für Jugendliche muss zum Beispiel die Mindesthürde Facebook und Co. haben. Für ältere Patienten ist dagegen noch das Telefon wichtiger. Es muss für die Betroffenen bequem sein, das Leistungsspektrum in Anspruch zu nehmen. Und es sollte ausreichend viele Touchpoints, also Betreuungspunkte, geben, die den Patienten jedoch nicht einschränken, sondern unterstützen.
6. Jetzt mal ganz konkret: Was bringt das den teilnehmenden Patienten?
Der Anspruch an gute Patientenbegleitprogramme ist in ganz konkreten Bereichen tatsächlich auch die Versorgung des Betroffenen zu verbessern und diesem einen erlebbaren Nutzen zu bieten. Ein Beispiel: Es gibt Patienten mit Multipler Sklerose, die in einem bestimmten Stadium ihrer Erkrankung noch gerne verreisen. Es gibt natürlich Angst vor einem „Schub“ während der Reise und die Sorge, ob die medizinische Versorgung in diesem Urlaubsort adäquat wäre. Hier bieten zum Beispiel Patientenprogramme Informationen über Kliniken und Ärzte am jeweiligen Urlaubsort an, bis hin zur telefonischen Unterstützung, wenn dieser Notfall tatsächlich eintritt.
7. Und mich interessiert natürlich auch die andere Seite: Welche Unternehmen setzen denn solche Programme auf?
Meist handelt es sich um Unternehmen, die für die jeweilige Erkrankung patentgeschützte und damit noch margen-attraktive Arzneimittel anbieten. Patientenbegleitprogramme kosten viel Geld.
8. Hand aufs Herz, die Unternehmen machen das doch nicht aus reiner Menschenliebe. Welche Treiber stecken da noch dahinter?
Pharmaunternehmen haben ein Interesse daran, dass die Patienten ihre Medikamente nicht nur regelmäßig, sondern auch in der richtigen Art und Weise einnehmen. Eine stabile und wirksame medikamentöse Therapie ist quasi der Schlüssel für die „Kundenbindung“ – oder in diesem Fall die Bindung der Patienten an die Therapie.
Dazu kommt, dass Pharmaunternehmen mit patentgeschützten Medikamenten in einem unter Kostendruck stehenden Markt ein großes Interesse daran haben, Patienten, Ärzten und Krankenkassen zusätzlich zu ihrem Produkt weitere „Mehrwerte“ für eine wirksame Versorgung anzubieten. Adhärenz, Arzneimitteltherapiesicherheit oder Patientencoaching sind Beispiele für solche Mehrwerte.
9. Welche Rolle spielen denn die Krankenkassen in dem ganzen Feld?
Die Krankenkassen haben natürlich Interesse an guten Programmen. Mangelnde Therapietreue und die damit verbundenen Folgekosten ist für die Krankenkasse z.B. ein noch nicht ausreichend gelöstes und darüber hinaus sehr teures Problem.
10. In der modernen Welt kann ich ja jederzeit Fitnesstracker, Diat-APPs oder Videos von Gesundheitsgurus über mobile Medien nutzen. Welchen Vorteil bringt mir dann noch ein Begleitprogramm?
Keine App vermag ein individuelles, persönliches mit Empathie und Zuwendung geprägtes Gespräch zu ersetzen. Selbstverständlich gehören ausgewählte mobile Health-Lösungen zu einem qualitativ hochwertigen Begleitprogramm. Aber versetzen Sie sich mal in Ihre Gefühlslage, wenn Sie erkrankt sind: dann brauchen Sie zusätzlich individuelle Informationen, menschliche Wärme und Empathie. Daher kommt kein wirksames Begleitprogramm ohne die Kommunikation über Telefon oder Fachpersonal vor Ort (Nurses) aus.
11. Für chronisch kranke Patienten stehen ja viele Herausforderungen an. Wie können hier Begleitprogramme in der individuellen Situation helfen?
Es beginnt mit fundierten und inhaltlich qualitätsgesicherten Informationen über die Erkrankung, geht ggf. weiter mit Beratung und Schulung z.B. zur Einnahme oder Applikation der Medikation (Injektionen) durch Krankenschwestern vor Ort zuhause bis hin zu Patientencoaching-Elementen wie Ernährungsberatung.
12. Jetzt noch ein Blick in die Zukunft: Liegt die Zeit für große Begleitprogramme noch vor uns?
Ich bin davon überzeugt dass die Möglichkeiten der Patientenbegleitung für die Verbesserung der individuellen Patientenversorgung erst am Anfang stehen. eHealth-Lösungen und die Digitalisierung des Lebensumfeldes bieten künftig ganz neue Möglichkeiten für effektive und nutzenstiftende Betreuungsangebote für Patienten. eHealth ohne Compassion bleibt auf Dauer wirkungslos. Bei aller Digitalisierung wird es aber auch in Zukunft auf eine individuelle und empathische Kommunikation mit dem betroffenen Patienten ankommen.
Über Rainer Seiler:
Rainer Seiler ist geschäftsführender Gesellschafter der solutions Beratung GmbH in Ulm. Er berät Akteure im Gesundheitsmarkt bei der Entwicklung und Etablierung von Versorgungsmodellen, Produkten und Dienstleistungen. Er verfügt über langjährige Führungserfahrung im Gesundheitswesen, zuletzt als Vertriebsleiter der ratiopharm GmbH, Ulm und Geschäftsführer der Schweizer Zur Rose AG. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Bücher, u.a. zu den Themen Versorgungsmanagement, Patientencoaching und Pharma Key Account Management.
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