Glück in den Augen der Liebe

Die Krankheit unserer Zeit – in der Liebe, in der Politik, in der Wirtschaft – besteht nicht nur darin, dass wir unsere Versprechen brechen, sondern sie besteht in erster Linie auch darin, dass wir Versprechungen machen, von denen wir bereits wissen – noch bevor wir sie ausgesprochen haben –, dass wir sie weder halten können noch halten werden. Etwas, was ich verspreche und was von vornherein nicht haltbar ist, wird zwangsweise gebrochen werden. Die Erkenntnis sagt uns, dass wir ehrlich und offen Rechenschaft darüber ablegen müssen, was wir versprechen können. Egon Zehnder hat das sehr schön zusammengefasst: »Seriosität ist, auch zu wissen, was man nicht kann.« Damit mir das nicht mehr passiert, halte ich mich an den Satz: »Verspreche wenig und halte viel.« Ein Versprechen bedeutet für mich, mir jederzeit der Verantwortung bewusst zu sein, die mir aus diesem Versprechen zuwächst. Nicht nur aus Pflichtbewusstsein, sondern aus Treue und Liebe gegenüber dem gegebenen Wort möchte ich es gerne einhalten.

Hier in dieser Welt gibt es kein stabiles Gleichgewicht, sondern nur ein labiles Gleichgewicht. Alles bleibt nur frisch in der permanenten Bewegung. Auch bei einem Unternehmen ist das nicht anders. Nach Gründungsphase und Aufbau geht es um die Weiterführung, das Bewahren und die permanente Anpassung an die Veränderungen des Marktes. Nach zehn Jahren muss vielleicht die ursprüngliche Geschäftsidee neu erfunden werden, damit das Unternehmen vor dem Ruin bewahrt wird. So hat auch die Ehe oder die Partnerschaft nach zehn Jahren andere Aufgaben, denen sich die Partner stellen müssen. Jeder Stillstand ist immer auch eine Art Tod. Und der Erfolg von gestern ist der Feind von morgen. Das gilt in der Ehe genauso wie in Unternehmen und Freundschaften. »Ruhelos ist man, bevor alles im Paradies ist«, sagte Friedrich Weinreb. Ruhelos und in gutem Sinne unterwegs ist eine Liebe vielleicht deshalb, weil sie im Innersten weiß, dass es in der Liebe keinen Automatismus gibt. Die Liebe ist zwar ewig, aber in dieser Welt bedarf sie unserer Zuwendung. Sie ist ein Element unseres Lebens und soll wie eine Quelle sein. Die Quelle sprudelt und fließt in einer permanenten Bewegung vom Bach zum Fluss ins Meer. Vielleicht ist das Meer ein Symbol für das Paradies, das Jenseitige, in dem die Quelle wieder zur Einheit gelangt. Alles, was steht, verdirbt oder fällt um. Ob es nun ein Fahrrad oder eine Partnerschaft ist.

Das, was uns gestern verbunden hat, ändert sich im Laufe der Jahre. Vielleicht wird der Partner krank, ein Freund verliert seinen Job … Die Treue der Liebe besteht darin, alles anzunehmen, wie es kommt. Nicht in dem Sinne, dass man das Unglück liebt, aber indem man versucht, alles zu teilen. Es gilt zu erkennen, was nun gefordert ist: Man hält Ausschau nach einem Arzt mit fortschrittlichen Kenntnissen oder nach einer neuen Idee für das Unternehmen. Es gilt, Abschied zu nehmen und sich Neuem zuzuwenden. Die Online-Welt hat Media Markt und Saturn im Schlaf heftig durchgerüttelt. Auch in einer Beziehung muss man sich der Veränderung stellen. Die Krankheit eines Partners stellt einen vor neue Aufgaben und konfrontiert einen mit Leid und Schmerz. Das ist das Schöne an einer Bewährung der Liebe: sich auch bei der Krankheit eines Partners jederzeit fürsorglich und helfend einzubringen.

Natürlich muss man sich Leid und Schmerz stellen und annehmen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und geteilte Freude ist doppelte Freude. Das ist sehr viel. Es verlangt uns viel ab, sich dem Leben mit all seinen Herausforderungen immer wieder zu stellen. Dort, wo wir die Pflicht nur als Pflicht sehen, wird sie zur Belastung, und wenn die Belastung zu groß ist, bricht alles zusammen. Eine große Hilfe ist es, diese Pflicht als eine essenzielle, tiefe Herausforderung, als eine Bewährung zu sehen. Aber das ist nicht leicht. Idealerweise wird die Pflicht zur Freude, zur Passion. In jeder Beziehung und in jedem Leben gibt es Krisen. »Jede Krise macht es möglich, dass die Liebe gestärkt, gereift und neu geboren wird…. Jede Krise birgt auch eine gute Nachricht, die zu hören man lernen muss, indem man das Ohr des Herzens verfeinert“ (Papst Franziskus). Wer Leid und Schmerz überwindet, dem fließt neue Kraft zu. Das macht ihn zu einem anderen Menschen – zu einem Geläuterten, der auf dem Weg weitergekommen ist. Man hat auch die andere Seite erlebt und auf sich genommen. Wo es Freude und Glück gibt, gibt es auch Leid. Dazu eine Geschichte, die ich mit meinem Mentor Weinreb erlebt hatte, als ich einmal mit ihm Sabbat feiert. Es war eine große Ehre für mich, dass Weinreb mich eingeladen hatte. Ich erinnere mich, wie er eine Flasche koscheren Wein mit einem Tablett und einem Glas hereinbrachte. Er öffnete die Flasche und schenkte den Wein ein, so lange, bis das Glas überlief und der Wein sich auf das Tablett ergoss. Ich fragte ihn, was das bedeuten soll. Und er erklärte: »Das ist ein Symbol. Das Gefäß ist der Mensch und Gott ist der, der den Wein einschenkt. Und dieser Gott will nur Glück für uns. Also schenkt er nur Glück ein in dieses Glas. Aber durch die Begrenztheit des Gefäßes, durch die Begrenztheit des Menschen läuft es über. Und das Glück, das überläuft, wandelt sich zu Leid. Das Leid ist also nichts anderes als das Glück, das wir nicht fassen konnten.«

Liebe und Zeit

Wenn Schmerz, Leid und Trauer in unser Leben einbrechen, stehen wir vor ganz besonderen Herausforderungen. Gerade für die Bewältigung der Trauer gibt Franziskus einen Rat: »Der geliebte Mensch hat weder unser Leiden nötig, noch erweist es sich für ihn als schmeichelhaft, wenn wir unser Leben ruinieren. Ebenso wenig ist es der beste Ausdruck der Liebe, jeden Moment an ihn zu denken und ihn zu erwähnen, denn das bedeutet, von einer Vergangenheit abhängig zu sein, die nicht mehr existiert, anstatt diesen realen Menschen zu lieben, der sich jetzt im Jenseits befindet … Stark wie der Tod ist die Liebe.« Und über die Liebe, die dies ermöglicht bis ins hohe Alter, schreibt er: »Man verliebt sich in den ganzen Menschen mit seiner beson deren Identität, nicht nur in den Körper, auch wenn der Körper – unabhängig vom Verschleiß der Zeit – niemals aufhört, in gewisser Weise die Persönlichkeit auszudrücken, die das Herz einmal gefesselt hat….  Die Liebe bis ins hohe Alter ist sicher ein Traum, den wir alle haben. Ab und an können wir ein älteres Liebespaar beobachten, das noch immer zärtlich und liebevoll miteinander umgeht, und wir sind tief berührt, dass es möglich ist, diese Liebe bis ins hohe Alter zu leben“.

Mein erster Meister, Dr. Johannes Ludwig Schmitt, ein Mediziner, der sich der Atemheilkunst verschrieben hat, hat den menschlichen Körper als einen Tempel betrachtet, der vom äußeren Entschwinden bedroht und fragil ist. Der Körper ist unser Tempel, er ist unser Zuhause. Der Körper ist Ausdruck unseres Seins in dieser Welt. Er ist der Ort, an dem unsere Liebe und unsere Seele wohnen. Der wesentliche Teil von uns ist bei unserem ersten Atemzug eingezogen. Bei unserem letzten Atemzug verlassen Seele und Geist wieder unsere menschliche Hülle. Es gibt dazu ein wunderbares Bild aus dem Tibetischen Buch vom Leben und vom Sterben: »Das tibetische Wort für Körper ist Lü; es bezeichnet etwas, das man zurücklässt – wie Gepäck. Jedes Mal, wenn wir Lü sagen, erinnert es uns daran, dass wir bloß Reisende sind, die vorübergehend Herberge in diesem Leben und in diesem Körper genommen haben.«

Die wahre Liebe besteht darin, diese Heiligkeit des Körpers zu erkennen und den anderen Menschen zu lieben, wohl wissend, dass sein irdischer Körper nicht am Brunnen der Ewigkeit getauft ist und dennoch essenziell mit ihm verbunden ist. Denn wenn wir den anderen wirklich lieben, lieben wir ihn nicht nur in der Erscheinung seines Körpers, sondern wir lieben das, was in diesem Körper ist und was durch ihn hindurch scheint. Wir lieben die Person, die in diesem Körper, diesem Tempel lebt. Und so sehen wir den anderen mit dem liebenden Blick, von dem wir gesprochen haben, nicht nur in seiner äußeren Erscheinung, sondern auch in seiner Bedürftigkeit, seiner Vergänglichkeit. Wenn man den anderen wirklich liebt, gehört dazu auch, all die Gebrechlichkeiten seines Körpers zu lieben, ja, den anderen noch mehr zu lieben, um diese Gebrechlichkeiten auszugleichen. Darin besteht die wahre Liebe: Es ist das Gefühl des Einsseins mit dem anderen, dass seine Gebrechlichkeiten meine Gebrechlichkeiten sind, so wie sein Glück mein Glück ist.

Kürzlich las ich eine interessante Studie des Psychiaters und Harvard-Professors George E. Vaillant. Mehr als 70 Jahre begleiteten Forscher der Harvard University in Cambridge im Rahmen der Grant-Studie das Leben von 268 Harvard-Absolventen der Jahrgänge 1939 bis 1945. Sie untersuchten, wie Menschen ein erfülltes Leben gelingt und gingen der Frage nach, was glückliche Menschen anders machen als andere. Zu den Teilnehmern zählte auch der spätere Präsident John F. Kennedy. Die Studie, so berichtet Vaillant begeistert, »gewährt tiefe Einblicke in Schicksale, so wie es sonst nur dem Roman vorbehalten ist.« Die glücklichsten waren der Untersuchung zufolge zwei gut ausgebildete Männer, die gelernt hatten, ihr Wissen als Lehrer erfolgreich weiterzuvermitteln. Sie hatten glückliche Familien und Ehen, die sechzig Jahre lang gehalten hatten. Was also ist es, das sie so glücklich werden ließ? Professor Vaillant kennt die Antwort: »Glück ist, nicht immer alles gleich und sofort zu wollen, sondern sogar weniger zu wollen. Das heißt, seine Impulse zu kontrollieren und seinen Trieben nicht gleich nachzugeben. Die wahre Glückseligkeit liegt dann in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen.«  Vermutlich waren die beiden Männer deshalb so glücklich, weil sie Vaillants Rezept befolgt haben, wahre, tiefe Bindungen eingegangen sind und erfahren haben, wie glücklich liebevolle und vertrauensvolle Beziehungen machen. Glückseligkeit geht eben doch vom Herzen aus, und Liebe ist dafür der beste Garant. Auf die Frage, wie glücklich uns die Liebe macht, hat der Professor eine sehr einfache, prägnante Antwort gefunden: Man muss kein Hirnforscher sein, um zu wissen, dass in unserem Kopf etwas Euphorisches passiert, wenn wir lieben. Reife ist, sich mit Wonne zu erinnern, ohne es wieder erleben zu müssen. Denn das kurze Glück ist wie ein Kletterer. Er denkt an nichts anderes als den nächsten Schritt und ist eins mit sich und der Welt, sonst stürzt er ab. Das lange Glück aber ist es, Einfühlungsvermögen und Reife zu besitzen und nicht mehr jeden Gipfel erobern zu müssen.

Walter Gunz und Sandra Maxeiner, Das Geschenk, Jerry Media Verlag, Zollikon, 2017, hier Seiten 92-93, 94-99 und 106-107

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