Also ist sein Rat: Auf die Ressourcen – auch eingeschränkter Menschen – vertrauen, ihnen etwas zutrauen, zunächst ihre eigenen Kräfte und Möglichkeiten mobilisieren; erst dann sollte die fachliche Unterstützung kommen. Professor Hinte (Universität Duisburg-Essen) verdeutlichte eine seiner wesentlichen Thesen mithilfe des „Tests mit dem Wasserglas“: einem alten Menschen beim Zu-Mund-Führen helfen, darf nicht dessen noch vorhandene Fähigkeiten abschneiden oder ignorieren. Es muss beim Helfen bleiben und darf die (noch) mögliche eigene Handlung nicht ersetzen. Und: wenn mal etwas „verschüttet“ wird, ist das nicht so wichtig – wohl aber das Erlebnis des Betroffenen, es allein geschafft zu haben: er erlebt seine eigene Handlungskompetenz.
Erneut sehr leidenschaftlich, weitblickend und unterhaltsam warb Professor Hinte für sein Konzept der Sozialraumorientierung. Er war bereits zum dritten Mal auf Einladung des Vogelsbergkreises in Lauterbach und sprach vor knapp 100 Fachleuten aus den Bereichen Jugend- und Behindertenhilfe sowie Mitarbeitern der Kreisverwaltung und des Landeswohlfahrtsverbandes. Erster Kreisbeigeordneter Dr. Jens Mischak, begrüßte den „Erfinder der Sozialraumidee“. Zu Gast war auch eine Delegation aus dem Werra-Meißner-Kreis mit Landrat Stefan Reuß an der Spitze, um sich über die Aktivitäten im Vogelsbergkreis zu informieren.
Weil es schon gute Erfahrungen mit Vernetzungen von Fachleuten im Allgemeinen und zusätzlich neue aktuelle wesentliche Erkenntnisse zum Prinzip „Sozialraumorientierung“ im Bereich der Jugendhilfe gibt, wollen der Landkreis und viele im Kreis agierende Einrichtungen und Dienste auch im Bereich der Behindertenhilfe neue Wege gehen. „Doch gemach, gemach…“ warnte Professor Hinte.
Bei aller Freude, dass sich alle gerne vernetzen wollen, brauche es vor allem eines: Geduld. Und außerdem: „Erst muss das fachliche Ringen um die Inhalte und das Klären der Begriffe kommen, dann die Klärung einer gemeinsamen Haltung. Und wirklich erst danach folgen dann der Umgestaltungsprozess, die Ausprägung der Vernetzungsidee einschließlich der Frage nach der Organisation und der Frage des Geldes.“ Am Schluss könne dann eine große Reform stehen, mit mehr Vernetzung und mehr Abstimmung zum Wohle der Hilfesuchenden. Diskutiert wurde in Lauterbach auch eine möglicherweise notwendige Veränderung der Finanzierung der Leistungen. Denn das jetzige Finanzierungssystem bringe teilweise auch den Hilfebedarf hervor, da die Vergütung oft an die Schwere der Fälle gekoppelt sei.
Die Aspekte des Sozialraums als Ressource, die vor der fachlichen Unterstützung genutzt werden müsse, seien auch im Feld der Behindertenhilfe von höchster Bedeutung. Was kann ein Mensch noch selbst, wer steht im Umfeld zur Verfügung (Verwandte, Freunde, Vereinskameraden usw.). Deshalb rät Professor Hinte zur Zurückhaltung. Denn „wenn die Profis kommen, lähmt das gelegentlich die reale Lebenswelt“. Und statt die eigenen Ressourcen zu mobilisieren, „lehnt sich der Betroffene zurück“.
„Was kann ich selbst tun, damit das eintritt, was ich mir wünsche“, sei die Kernfrage. Erst dann sollten die „Profis ran“ und das vorhandene „System“ stärken, erst dann sollte Hilfe „hinzugefügt“ werden. Dann könne man den Willen des Betroffenen sozusagen „katalysieren“ und als Schwungrad nehmen. Wunsch und Wille des Betroffenen sollten hier übrigens nicht verwechselt werden. Den Willen hinter dem Wunsch zu erkennen: das genau sei die professionelle Arbeit.
Professor Dr. Wolfgang Hinte leitet das Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) an der Uni Duisburg-Essen.
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