Außerdem ist in dieser Woche ein E-Book von Krimi-Autor Ulrich Hinse mit Schweriner Mordgeschichten für sieben Tage zum Superpreis von nur 99 Cents zu haben. Mehr dazu am Ende dieser Ausgabe.
Erstmals 1973 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) der Roman „Auf der Suche nach Gatt“ von Erik Neutsch: Der Autor erzählt in diesem Buch die erregende Geschichte des Bergarbeiters Eberhard Gatt, der aufstieg mit dem Aufstieg seiner Klasse, der aus den Kupferschächten in die Redaktion einer Zeitung kam, der Macht ausübte, streng gegen sich und andere, der sein Leben einsetzte, wenn es Not tat, der einen Lehrer fand und ein Mädchen, das ihn liebte. Aber die Stärken des Mannes Gatt waren zugleich seine Schwächen. Er wusste zu wenig von den Schwierigkeiten des Kampfes, von der Kompliziertheit des Sozialismus. So verlor er in einer entscheidenden Situation das Vertrauen zu Ruth, der Frau, die ihn liebte, und er verlor sie. Und er verlor sich selbst, weil es ihm an Wissen fehlte, das Kommende zu erkennen. So finden wir ihn wieder auf Bahnhöfen und in Zügen, auf Zwischenstationen, denn ein Mann vom Schlage Gatts kann sich nicht wirklich verlieren, nicht hierzulande und in dieser Zeit. Es beginnt der mühsame Weg der Erkenntnis, der Selbsterkenntnis, der ihn wieder in die Nähe Ruths führt, die mittlerweile verheiratet, sich nun gestellt sieht zwischen zwei Männer. Sie alle, Gatt, Ruth, Weißbecher, der Erzähler haben die Frage zu beantworten nach den Möglichkeiten des Menschen, nach seiner Selbstverwirklichung. Ein Buch, voller äußerer und innerer Dramatik, eine bedeutsame erzählerische Leistung des Autors. Das Buch erschien erstmals 1973 im Mitteldeutschen Verlag Halle, das E-Book ist die inzwischen 16. Auflage dieses Titels. Der Deutsche Fernsehfunk drehte 1976 den gleichnamigen Film mit dem noch jungen Dieter Mann in der Titelrolle. Und so hören wir das erste Mal von diesem außergewöhnlichen Menschen, einem typischen Helden Neutscher Prägung:
„GATT LEBT.
Gatt lebt also noch. Seit Jahren ging er mir nicht aus dem Sinn, wie ein Feind saß mir seine Geschichte im Nacken, und jetzt diese Nachricht. Jeremias Weißbecher rief mich an. „Hallo, alter Freund! Ich wollte dir einen Brief schreiben. Aber das dauert zu lange. Wir haben ihn gefunden. Fahr hin. Beeile dich. Ich komme nach…“
Zwar scheint ein Zeitalter zwischen damals und heute zu liegen, die Entfernung von Himmelskörpern zwischen unserer Begegnung in M. und meiner jetzigen Reise, die Welt hält keinen Tag still, doch nun, da ich mich jeder Einzelheit zu erinnern versuche, ist alles eine Denksekunde erst her. Ich sitze im Zug. Angetrieben durch die Erwartung, ihn wiederzusehen, zögerte ich keinen Augenblick, fuhr sofort zum Bahnhof und löste eine Karte. Wohin? Nach Mansfeld oder doch nur ins Ungewisse? Von Weißbecher weiß ich nur, daß er, Gatt, sich dort in der Nähe aufhalten muß. Vielleicht in E. Vielleicht in S. Aber er lebt. Wird jedoch unsere Anstrengung nicht vergebens sein? Was ist ein Mensch? Ich entsinne mich, wie er den Atlas mit den Bildern in seiner Hand hielt, Bamberger Reiter, Kreidefelsen auf Rügen und Karten von Europa. Ich entsinne mich seiner Worte: Man müßte sich irgendwo als Punkt darauf eintragen, wie eine neue Stadt, schwarz oder rot…
Und ich nahm auch die Manuskripte mit. Lose Blätter. Halbfertig. Kein Ende. Hier und dort schon mit GilbsteIlen versehen. Denn ich hatte es aufgegeben, noch weiter daran zu schreiben. Mir fehlte das Urteil, mir fehlte der Mut, über ihn zu urteilen, ein entscheidendes letztes Wort, mit dem vielleicht auch er gerechnet hatte.
Es ist Nacht. Die Räder hämmern über die Schienen. Draußen liegt die Erde unter dem Schnee, und weit oben, kann ich erkennen, sobald ich die Stirn fest an die Scheibe presse, flimmern die Sterne. Unendlichkeit. Nirgends ist die Welt zu Ende. Die Astronomen sagen, daß auch das Leben auf unserem Planeten nichts Außergewöhnliches sei. Irgendwo existiert die Vernunft noch einmal. Sie liegt nur noch außerhalb der Reichweite unserer Teleskope, außerhalb unseres heutigen Wissens. Also: Was ist der Mensch? Ein Gegenzug rast vorbei. Licht und Schatten. Lichtschatten. So nahmen wir damals Abschied. Im Gegenüber des Zuges glaubte ich Gatts Gesicht zu entdecken. Ich suchte ihn. Ich durchbohrte die Nacht mit meinen Blicken. Hinter einem der erleuchteten Fenster war ein Schattenriß aufgetaucht, seinem Profil sehr ähnlich. Doch die Lichtpunkte wurden kleiner. Bald verschwanden sie in der Dunkelheit. Und später begann ich zu schreiben. Und jetzt halte ich die Fetzen des Geschriebenen auf den Knien und lese. Der Weg bis Mansfeld, wo ich Gatt wiederzufinden hoffe, ist noch weit.
Das Jahr war kalt, und folgerichtig kam der November mit nassen Nebeln. Die Fabrikdämpfe ätzten die Straßen, auf dem Pflaster lag Wasser wie geschmolzenes Blei. Grauheit, Gräue, milchigblasse Nebel, verschleierte Gegend, am Himmel eine Sonne, strahlenlos, die mehr einer abgegriffenen Aluminiummünze glich als sich selbst. Es war ein Jahr der Rechenschieber, und die Natur schien willfährig und sich danach zu richten. Mit ihren Nebeln zuerst, mit ihrer klammen Kälte. Wir glaubten schon, wir hätten die Logik neu erfunden. Nach unserem Willen sei alles zu messen, sogar der Mensch, seine Arbeit und seine Lust, das einmalige, für jeden von uns unwiederholbare Leben. Die dumpfen Nebel würden weichen, dachten wir, und das nächste Jahr würde von Wärme und Freundlichkeit strotzen, sobald wir es nur im voraus berechnet hätten. Ich war ein eifriger Vertreter dieser Theorie der gesteuerten Hoffnung.
Doch dann begegnete ich ihm. Während der Nebelzeit. Ein Mann im besten Alter, Ende der Dreißig, kein unbeschriebenes Blatt mehr, was ich zunächst, wie ich nun sagen muß, nur erriet. Denn erst später wurden meine Vermutungen bestätigt, hundertfach von ihm selbst und, nachdem ich einer der Spuren in seinem Leben nachgegangen war, eben jener, die zu Weißbecher führte, auch von ihm, dem Chefredakteur, Gatts einstigem Freund. Damals aber, als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, konnte ich noch nicht ahnen, daß er mir um so rätselhafter werden würde, je näher ich ihn kennenlernte.
Er stand auf dem Bahnhof von M., für mich noch ein Fremder, und M., eine mittlere Kreisstadt, befand sich gerade im Aufbruch, kehrte ihr Unterstes zuoberst. Die Chemie färbte ihr Gesicht, und Forschung und Ökonomie prägten ihr Ansehen. Schon bestanden exakte Pläne, von elektronischen Gehirnen programmiert, den alten Stadtkern einzureißen, die winkligen Gassen, in denen der Schwamm nagte und die Ratten pfiffen, unter Hochstraßen zu bringen. Ringsum ragten Schlote und Destillierkolonnen auf, umklammerten hufeisenförmig die Stadt wie ein riesiges Gatter und ließen nur eine Lücke zum Fluß frei, dort, wo die Sümpfe und die dunklen Gehölze begannen, dahinter die Äcker und dahinter die anderen Städte… Die Fahrdämme waren seit langem überbelastet, hatten sich unter den Rädern krumm gebuckelt; sie würden sich dehnen müssen, und sie würden gedehnt werden, um auch dem Verkehr der Jahrtausendwende gewachsen zu sein. Bis dahin jedoch trugen die Schienenstränge, was die Straßen nicht fassen konnten. Und so war der Bahnhof dieser Stadt, wie in früheren Jahren vielleicht der Markt, der Ort ihres größten Gewimmels, besonders in jenem November. Denn die Fahrpläne stimmten nicht mehr, hingen nur noch pro forma aus. In der gläsernen, hochkuppligen Vorhalle stauten sich täglich die Menschen, am dichtesten während der Zeit des Schichtwechsels, vom späten Nachmittag bis in den frühen Abend. Die meisten wußten nicht, wo sie sonst hätten warten sollen. Der öffentliche Garten, der unmittelbar vor den Schwingtüren angelegt war und im Sommer zu Spaziergängen einlud, troff vor Feuchtigkeit; seine Kieswege waren aufgeweicht, und die jungen Linden reckten kahl und starr ihre Zweige, so daß niemand wagte, sich hier noch auszuruhen. Das Restaurant und die Wartesäle hingegen waren überfüllt, und obwohl eine stickige Luft das Bleiben dort zur Qual machte, verteidigte doch jeder einen einmal erkämpften Platz bis zur Abreise. Nur die Halle, der Glasbauch, nahm jeden auf. Stundenlang oft standen die Männer und Frauen hier, frierend und müde, und warteten darauf, daß die knarrende Stimme im Lautsprecher sie erlöste, den Zug anmeldete, mit dem sie nach Hause fahren wollten, in ein Wohnnest, zur Familie, zu den Kindern. Aber die Züge hielten auf offener Strecke irgendwo im Nebel, irgendwo in der Dunkelheit, sie kamen nur mühsam voran.
Inmitten der Menge bemerkte ich sein Gesicht zum ersten Mal. An der Sperre. Neben dem eisernen Zaun, der die Halle von der Unterführung trennte, die die Bahnsteige miteinander verband. Heute weiß ich, daß er diesen Platz nie – bis zu jenem Augenblick jedenfalls nicht, da ich mich nach Ruth umschaute, seiner Frau – verließ, um es den anderen, den Reisenden, gleichzutun, um sich der Reise anzuschließen.“
Erstmals 1976 legte Steffen Mohr im VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig sein Beschäftigungsbuch für kleine Kinder „Ein Tag voll Musik“ vor: Ein Kinderbuch mit viel Musik und schönen Liedern, aber kein Liederbuch. Kleine Geschichten und der jeweils anschließende Beschäftigungsteil führt Kinder ab 4 Jahre an Musik und das Musizieren heran. Man kann das Hören, Singen und Rhythmus schlagen mit den Kindern üben. Sie lernen laute und leise, hohe und tiefe Töne, traurige und fröhliche Weisen zu unterscheiden. Ein pädagogisch wertvolles Buch aus der DDR, das auch jetzt noch in den Kindergärten und zu Hause den Eltern eine wertvolle Hilfe ist, den Kleinen aber viel Spaß macht. Absichtsvoll vorangestellt hat er seinem großen Buch für die Kleinen ein …
„Kleines Vorwort an die Großen
Die Mädchen und Jungen, für die unser Buch gedacht ist, sind drei bis sechs, höchstens sieben Jahre alt. Sie können noch nicht lesen. Tragen wir ihnen etwas vor, dann sitzen sie nicht lange still. Immer wollen sie beschäftigt sein. Deshalb enthält unser Buch nicht nur die lustige Geschichte zum Vorlesen. Viele Beschäftigungen sind darin, die wir mit den kleinen Zuhörern gemeinsam spielen können. Nahtlos
fügen sich diese Spiele, Lieder und Szenen in unsere Vorlesegeschichte ein, und sie beginnen genau dann, wenn Jürgen und Kathrin, Uwe oder Britta zapplig werden und von sich aus spielen und sich beschäftigen wollen. Aufgepasst — nun setzt unsere Kunst ein! Jetzt zeigt sich, ob wir gute Spielleiter sind, mit Fantasie und Witz. Und außerdem sollen unsere kleinen Freunde nicht merken, dass wir sie „erziehen“ oder ihnen „etwas beibringen“ wollen! Wie stellen wir das an?
Dafür gibt es eigentlich kein Rezept. Vielleicht nur ein Tipp für die Eltern und Erzieher, die bisher noch nicht mit einem solchen Beschäftigungsbuch umgegangen sind: Schauen Sie sich’s vorher in Ruhe an. Die Beschäftigungsteile unseres Buches bestehen nämlich bloß aus kurzen Ratschlägen für den Spielleiter. Diese einfach vorlesen — das geht nicht. Sie müssen die kleinen Aufgaben schon in Ihre Sprache
übersetzen, in die Sprache also, die Sie auch sonst mit Ihren Kindern sprechen. Wählen Sie unter der Vielzahl der Beschäftigungen getrost diejenigen aus, die Sie für Ihre Kinder am brauchbarsten halten. Sie wollen ja keinen strengen „Spielunterricht“ halten, der würde Ihren Zuhörern den Spaß an unserem Buch sicher verderben.
Dieses Buch hat etwas mit Musik zu tun. Musik beginnt beim Hören. Können Ihre Kinder schon (oder noch) richtig hören? Oder müssen Sie Ihren Kindern das richtige Hören erst wieder beibringen? Dieses Buch will Ihnen dabei helfen. In unserer lärmerfüllten Zeit, in der eine Krachmaschine lauter dröhnt als die andere und der Tonregler des Fernsehers voll aufgedreht werden muss, um die Straßengeräusche zu überbieten, hat ein feines und genaues Zuhören scheinbar keinen Sinn mehr. Nur: Verlieren wir mit dem Verzicht auf ein genaues Hören, mit dieser Einstellung auf die bloß lauten und starken Hörreize nicht auch ein Stück Welt? Ein Stück Welt, das schön und erregend, wertvoll und bildend ist?
Schenken wir unseren Kindern diesen Reichtum wieder. Erziehen wir sie zum Zuhören, zum bewussten Hinhören, zur Freude an stillen und leisen Tönen und zum Vergnügen an der Stille selbst. Ein kleines Beispiel zeigt vielleicht, wie wichtig unser Vorhaben ist. Wenn der fünfjährige Andreas nur die Farben Rot und Blau unterscheiden könnte und beim Anblick eines grünen Baumes ausriefe: „Der Baum ist blau!“ — oder wenn er einen gelben Ball als roten bezeichnen würde, dann bekämen Sie es sicher mit der Angst zu tun. Alles würden Sie versuchen, um Ihrem Andreas die feineren Zwischentöne der Farbskala zu erklären. Machen Sie sich diese Mühe auch, wenn es um die vielfältige, überaus reiche Skala der Töne und Geräusche geht? Oder weiß Ihr Andreas gerade noch, was laut und leise klingt, und bestenfalls, welcher Ton tief und welcher hoch ist? Sehen Sie, da liegt der Sinn unseres Buches. Und nun wünschen wir Ihnen noch eines: Viel Spaß beim Lesen und beim fantasievollen Spiel!“
Bereits 1966 war in der damals sehr beliebten kap-Reihe (kap = Krimi, Phantastik, Abenteuer) des Verlages Kultur und Fortschritt Berlin die Historisch-fantastische Erzählung „Unter dem Banner des weißen Hirsches“ von Klaus Möckel erschienen: Satakru, Kaiser der Okirfen und Herrscher über siebenundzwanzig Königreiche, befindet sich auf einem bereits vier Jahre währenden Feldzug, der ihm den endgültigen Triumph über seine letzten Widersacher bringen soll. Seine Macht scheint unbegrenzt, doch Teredschan, sein Statthalter, warnt ihn vor Gefahren aus dem Inneren des Landes. Die Untertanen sind kriegsmüde, zu viel wurde zerstört, Handel und Gewerbe befinden sich im Niedergang. Obgleich nicht überzeugt von diesen Argumenten, beschließt Satakru, eine Wahrsagerin aufzusuchen, die ihm die Zukunft deuten soll. Zu seiner Überraschung trifft er auf eine junge, zugleich kluge wie auch schöne Frau, in die er sich verliebt, obwohl sie ihm nicht die erhoffte Weissagung verkündet. Die vorliegende Erzählung war eine der ersten Publikationen des Autors. In einer fiktiven Welt spielend, in der die Schwerter aufeinander klirren und der Herrscher seine Größe durch immer neue Eroberungen zu beweisen sucht, bestimmen Macht, Zerstörung und das Aufbegehren dagegen das Geschehen. Die Liebe, so stark sie auch sein mag, vermag den Kaiser nicht von seinem verhängnisvollen Weg abzubringen. Begleiten wir den überraschenden Besuch eines seiner engsten Vertrauten bei Kaiser Satakru und schauen wir, wie der Herrscher über siebenundzwanzig Königreiche darauf reagiert:
„I. Kapitel
Als sich Satakru, Kaiser der Okirfen und Herrscher über siebenundzwanzig Königreiche, im vierten Jahr auf einem Feldzug befand, den er bis hin zum Flusse Harfu führen wollte, wurde ihm eines Tages die Ankunft Teredschans, seines obersten Statthalters, gemeldet. Satakru, mit militärischen Projekten beschäftigt, zeigte sich überrascht. Ein wichtiger Grund musste vorliegen, wenn sich Teredschan zu ihm bemühte. Waren doch die Wege weit und unsicher, und er, der Kaiser, hatte nicht nach einem Mann verlangt, der ihm zwar im Frieden gute Dienste zu leisten wusste, im Krieg aber kaum zu gebrauchen war. Nichtsdestoweniger ließ er die gelben Feuer anzünden, wie es der Ritus verlangte, und zum Zeichen seiner freudigen Berührtheit mussten fünf der tapfersten Krieger das Banner mit dem weißen Hirsch über seinem Zelt flaggen.
Wolkenlos war der Himmel, als Teredschan, begleitet von fünfzehn Paladinen, im Lager des großen Feldherrn einritt. Am Hügel zum kaiserlichen Zelt standen die Offiziere Spalier, und Satakru kam seinem Untergebenen drei Schritte entgegen. Dann saßen sie sich im Zelt gegenüber. Satakru war korpulent und groß, ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Macht und seiner Kraft, ein Hüne, breit die Schultern und das Gesicht scharf geschnitten. Seine Stirn war hoch und sein Blick durchdringend. Während sonnengelb gekleidete Jungfrauen Jasmintee servierten und Gebäck aus fein gestoßenem Weizen anboten, erkundigte er sich ruhig und mit sorgfältig gewählten Worten nach dem Befinden seiner Gemahlin und der beiden jungen Prinzen.
„Es fehlt ihnen an nichts, es sei denn an der Anwesenheit des Herrn und Vaters“, versicherte der Statthalter, der von dem herzlichen Empfang angenehm berührt war.
„Und Zerina, meine Silberlöwin“, wollte der Herrscher wissen, „wird sie gut versorgt, wie ich es befohlen habe?“
„Sie wird gepflegt, Herr, wie du es angeordnet hast und wie es dem Lieblingstier am Hofe zukommt.“ Teredschan war gleichfalls kräftig, aber kleiner von Statur. Wer ihn von Weitem sah, hätte ihn für einen derben, vierschrötigen Kerl gehalten, für einen linkischen Klotz, den man in seidene Gewänder gesteckt hatte. Wer ihn jedoch näher kennenlernte, merkte schon bald, dass ein solcher Eindruck falsch war. Im Grunde ging von der ganzen Gestalt Ruhe und Besonnenheit aus. Die Stimme des obersten Statthalters war tief und wohlklingend.
Nachdem Satakru die Fragen nach dem Befinden der Familie gestellt und Auskunft auch über die sonstigen Vorgänge am Hof erhalten hatte, schickte er sich an, den eigentlichen Grund des Besuchs von Teredschan zu erkunden. Zwar hätte es die Höflichkeit geboten, den Gast von selbst darauf kommen zu lassen, doch der Kaiser fand, dass man in Zeiten des Krieges die Sitten verändern könne. Er war ungeduldig. Er hatte für den folgenden Tag einen beschwerlichen Marsch geplant, und er wollte das Gespräch nicht über die Maßen in die Länge ziehen.
Teredschan, dem man keinerlei Unzufriedenheit über die ungewohnte Eile des Herrschers anmerkte, kam denn auch zur Sache. Er hatte sorgfältig vorbereitet, was er nun mit sicherer Stimme vortrug. „Herr“, sagte er, und es schien, als wende er sich an eine Gottheit, die unsichtbar, hoch aufgerichtet hinter dem Kaiser stand, „Herr, du fragst, weshalb ich gekommen bin und es wage, Minuten deiner kostbaren Zeit zu rauben. Bescheiden stehe ich vor dir, denn dein Sinn fliegt, einem Adler gleich, deinen Truppen voraus und mag sich nicht bei Kleinigkeiten aufhalten. Dennoch spreche ich zu dir wie der Schatten zum Licht. Herr, vier Jahre schon führst du den Krieg, und das Glück stand dir bisher zur Seite. Dein Reich ist so groß, dass der Regen, die Sonne, der Sturm und die Windstille zu gleicher Zeit Platz darin haben. Berge, Wüsten und Meere gehören dir. Willst du jagen, so kannst du im Norden den weißen Bären, im Süden die Antilope, im Osten den Hirsch und im Westen den ergrauten Steinbock erlegen. Zwölf Flüsse strömen durch deine Länder, und sechsundzwanzig Fürsten haben sich deinem Befehl unterworfen. Deine Macht ist gewaltig, Herr. Du kannst ganze Völker vernichten oder sie dir Untertan machen. Gefällt es dir, einen Palast am Ufer des roten Sees oder auf dem Kamm des höchsten Gebirges errichten zu lassen, so werden Zimmerleute und Goldschmiede aus allen Teilen der Erde herbeieilen, um sich vor dir auszuzeichnen. Du bist der Kaiser, du befiehlst.“
„Sprich zur Sache, Teredschan“, unterbrach ihn Satakru, „Du bist nicht gekommen, mir ein Loblied zu singen.“
„Herr“, fuhr der Statthalter fort, und seine Stimme nahm einen entschiedeneren Klang an, „du hast vier Jahre Krieg geführt und viel Erfolg gehabt. Deine Wünsche sind erfüllt, du gehörst heute zu den Mächtigen der Erde. Aber jede Straße, so weit sie auch führen mag, hat einmal ein Ende, und man kann einen Fluss nicht weiter verfolgen denn ans Meer. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, Frieden zu schließen und nach Hause zurückzukehren? Dein Volk ist des ewigen Kampfes müde.“
Einen Augenblick lang war Stille im Zelt. Satakru, mehr verblüfft als erzürnt über die Wendung, die die Rede des Statthalters nahm, hielt die Stirn gesenkt und die Fäuste auf der Tischplatte zusammengepresst. Der Wind rüttelte schwach an den Zeltverstrebungen, doch das drang nicht ins Bewusstsein der beiden Mächtigen. „Und worauf begründet sich dein Urteil?“, fragte Satakru schließlich.
„Es wird immer schwerer“, antwortete Teredschan, „Soldaten für dein Heer auszuheben. Längst sind die Zeiten vorbei, da Freiwillige von allen Seiten zu deiner Fahne stießen. Zu viele sind gefallen, und die Weiber können nicht so schnell Krieger heranziehen, wie sie der Kampf verschlingt. Das Land ist von Männern entleert. Wohl wächst da und dort ein Jüngling heran, aber die Mütter verbergen ihn vor unseren Werbern. Und sie tun es nicht nur, um ihn vor dem feindlichen Schwert zu schützen – sie tun es auch, um Haus und Hof vor dem Verfall zu bewahren. Denn die Äcker liegen brach, Herr, und auf den Weinbergen wuchert wild das Unkraut. Das Volk in den Städten aber ist unruhig geworden. Noch halten sich die Gewerbe am Leben, und die Bäcker backen Brot. Doch das Getreide wird bereits knapp, und allerlei lichtscheues Gesindel versucht, sich durch Betrug zu bereichern. Die Getreidehändler klagen darüber, wie schwierig es sei, Korn und Weizen zu beschaffen, und sie fordern immer höhere Summen von den Käufern. Es ist an der Zeit, Herr, die Ordnung wiederherzustellen und die Spekulanten in ihre Grenzen zu verweisen.“
„Und bist du nicht Manns genug, sie selbst zur Ordnung zu rufen“, fragte der Kaiser unmutig, „brauchst du mich dazu?“
„Wie soll ich sie zur Ordnung rufen“, sagte Teredschan demütig, „wenn sie frech behaupten, mit ihren Gewinnen deinen Feldzug zu finanzieren? Einen Einzigen von ihnen in den Kerker werfen hieße eine Herausforderung an alle richten. Würde das aber nicht deinen Plänen zuwiderlaufen?“
Satakru wusste, dass der andere Recht hatte. Seit geraumer Zeit schon flossen die Quellen, die die kaiserliche Kasse füllen sollten, spärlicher, und es waren allein die Großhändler, die Plantagen- und Spielhausbesitzer, die die nötigsten Gelder aufbrachten. Ihre Macht antasten bedeutete, das ganze Unternehmen zu gefährden. Er ging deshalb auf die Frage des anderen nicht ein, sondern sagte ablenkend: „Hast du den Schwur vergessen, den ich getan habe? Bis zum Flusse Harfu will ich den Feldzug führen, dann soll Frieden sein. Vier Jahre kämpfe ich, manche Scharte gibt es an meinem Schwert, doch seine Schneide ist noch nicht stumpf.“
„Bis zum Flusse Harfu wollte Kim Fle gelangen und Sunos, der drei Jahrhunderte vor der Geburt des Mondes regierte“, ergriff Teredschan mutig von Neuem das Wort. „Zum dritten Mal willst du etwas versuchen, was dem Durchwaten des Grauen Meeres gleichkommt. Bedenke, welche Kraft es kostete, aus den Trümmern, die Kim Fle hinterließ, erneut emporzusteigen.“
Teredschan wollte weiterreden, doch Satakru fuhr ihm zornig ins Wort. Er ließ sich nicht gern die Schwierigkeiten vorhalten, die sein Vorgänger vor dem Volk der Okirfen aufgehäuft hatte. Wenn er den Statthalter auf diese Art sprechen hörte, wurde er immer daran erinnert, dass er in ihm einen Mann bäuerlicher Herkunft vor sich hatte. Er stammt von Bauern ab und denkt wie ein Bauer, sagte er sich. „Überlege dir, was du redest“, griff er den anderen an. „Es steht dir nicht zu, das Erbe Kim Fles und des gewaltigen Herrschers Sunos herabzusetzen. Ich will mir deine Gedanken durch den Kopf gehen lassen und über die Lage im Land nachdenken. Aber meinen Feldzug muss ich zu Ende führen, damit das Reich der Okirfen endlich für ewig gesichert sei. Noch hat die Sonne nicht gesehen, dass Satakru aus dem Sattel stieg, ehe die Schlacht gewonnen war. Ich werde die Fahne mit dem weißen Hirsch bis zum Flusse Harfu tragen, und das Volk wird über den Kleinmut lachen, den du und andere in schwieriger Situation zur Schau tragen. Jetzt nimm deine Paladine, reite nach Hause und gehe deinen Pflichten nach!“ Und zum Zeichen, dass das Gespräch beendet sei, erhob sich Satakru und ging schnellen Schritts zum Ausgang des Zeltes.“
Ein paar Jahre nach den Geschehnissen „Unter dem Banner des weißen Hirsches“ erschien erstmals 1972 beim Kinderbuchverlag ein Buch für Kinder ab 9 Jahre über „Die Pferdediebe von Seberitz“ von Marin Meißner: Am schönsten war es für Mikusch und seine Freunde, wenn Luci frei hatte. Luci war ein dickes Ackerpferd, das einen schweren Pflug über die Felder von Seberitz und Erntewagen voll beladen in die Scheunen zog. In der freien Zeit graste das Pferd draußen auf der Koppel. Dann durften die Kinder auf ihm reiten. Fünf mit einem Mal, so stark und gutmütig war das Tier. Auch Kunststücke machte es bereitwillig mit. Das änderte sich aber, als die Bauern der landwirtschaftlichen Genossenschaft Traktoren und große Erntemaschinen anschafften. Luci wurde arbeitslos und sollte verkauft werden. Eines Nachts aber war Luci verschwunden. Große Aufregung im Dorf! Wer waren die Pferdediebe von Seberitz? Aber ehe wir uns genauer mit möglichen Antworten auf diese kriminalistische Frage befassen, lernen wir erst mal Mikusch kennen, Mikusch und seine Freunde:
„Luci als Omnibus
Als Mikusch die Straße herunterschlenderte, war der Feierabend schon in das Dorf gekommen. Aber die Sonne glitzerte noch auf den Dächern. Das Trauerweidentrio warf seine langen Schatten auf den Teich. Der Junge hieß eigentlich Michael Kuschel, aber ob das alle wussten, war nicht einmal gewiss. Er wurde von jedermann nur Mikusch genannt. Sehr langsam ging er und trieb dabei eine zerbeulte Blechbüchse vor sich her. Das war nicht besonders günstig für die Schuhe, aber darum kümmerte sich der Junge jetzt nicht.
Seine Gedanken waren ganz woanders. Er wollte zum Pferdehof der Genossenschaft. Die LPG besaß natürlich viele Höfe. Doch damit man sie unterscheiden konnte, hatten die meisten einen bestimmten Namen. Manche wurden nach den Bauern benannt, die dort wohnten. So gab es den Dobberkauhof, den Reinkehof und den Babiaschhof. Andere hatten besondere Merkmale, wie der Eichenhof und der Lindenhof, die sich durch schöne Bäume vor den Wohngebäuden auszeichneten. Der Pferdehof hieß eben so, weil sich hier der Pferdestall der Genossenschaft befand. Als Mikusch sein Ziel erreicht hatte, ging er noch langsamer und schoss die Büchse jetzt auch mehr im Zickzack über die Straße.
Vor dem Pferdehof stand der dicke Bauer Rohkohl. Die Weste zog sich straff über seinen Bauch. Bei ihm hing die Uhrkette nicht herunter, sondern sie lag. Mikusch konnte den runden Bauern nicht recht leiden, denn der Junge war der Meinung, wer sich so viel Speck anfutterte, der konnte die Arbeit nicht gerade erfunden haben. Aber das war natürlich nicht der Fall. Rohkohl arbeitete genauso fleißig wie die anderen Bauern der Genossenschaft. Und die konnte sich im Kreis mit den besten durchaus messen. Bauer Rohkohl, der die Pferde versorgte, gehörte eben nicht zu den Kostverächtern. Er legte den Schinken in fingerdicken Scheiben aufs Brot, und gelegentlich leistete er sich ein Bier oder auch zwei. Abends stand er häufig vor dem Hof und wartete auf einen der Jungen vom Dorf, der die Pferde auf die Weide treiben sollte. Der eine oder andere fand sich auch stets hier ein, denn es war eine feine Sache, auf den Pferden durchs Dorf zu den Wiesen zu reiten. Allerdings hatte die Angelegenheit einen Haken und war von vornherein nicht so sicher. Reiten konnte man nämlich nur auf einigen Pferden. Die Stute Luci war so eins. Andere dagegen, der Wallach Harraß zum Beispiel, ließen nicht einmal eine Hand an ihr Fell, geschweige dass sie noch jemanden durch die Gegend trugen. Seitdem der Harraß einmal den jungen Bauern Hermann Göde in den Wiesenbach, die Bäke, gewirbelt hatte, war er als Reittier nicht mehr besonders begehrt.
So war es für die Jungen stets ein unsicheres Unterfangen. Wurde der Wallach auf die Koppel gebracht, so musste man die ganze Strecke zu Fuß hinterherlaufen und denselben Weg wieder zurück. Daran hatte natürlich niemand ein besonderes Interesse, Mikusch war hierbei keine Ausnahme. Es war nicht ratsam, sich anzubieten, dann konnte man nicht mehr wählen. Mikusch wusste, nein zu sagen bedeutete, dass er nie wieder ein Pferd auf die Weide reiten durfte. Bolle ging das schon so. Er hatte einmal abgelehnt, den Harraß auf die Weide zu bringen, jetzt musste er, wenn er reiten wollte, vor dem Dorf warten. Kam einer seiner Freunde auf Luci angetrabt, so hatte er die Chance, mitgenommen zu werden. Aber das ging nicht ohne Bezahlung ab. Unter fünf Kräheneiern, einer jungen Elster oder ähnlichem war da überhaupt nichts zu machen. Die Preise lagen hoch. So weit wie Bolle durfte man es mit dem dicken Bauern Rohkohl nicht kommen lassen. Mikusch musste also auf ein Angebot warten. Wenn es ungünstig ausfiel, konnte er ja noch sagen, er hätte leider keine Zeit, er müsste seine Cousine Trude aus dem Kindergarten holen. Obwohl Mikusch mit seiner Büchse nur sehr langsam vorankam, hatte er den Mann nun erreicht. Der Junge grüßte ihn nicht. Er tat so, als sei er sehr mit seinem Spielzeug beschäftigt und hätte den Dicken nicht bemerkt. In Wirklichkeit beobachtete er ihn aber mit einem Auge scharf. Als Mikusch an Rohkohl vorbeiging, sagte der nichts.
Ein unangenehmer Gedanke kam dem Jungen plötzlich, als er schon am nächsten Gehöft war. Sollten vielleicht gar keine Pferde weggebracht werden? Oder war eventuell schon ein anderer da gewesen? Schaute der Bauer möglicherweise nur nach dem Wetter? Der Junge wurde unruhig. Aber so einfach verschwinden, das wollte er nicht. Zumindest musste er noch erfahren, ob die Tiere schon weg waren. So kehrte er also um. Aber Bauer Rohkohl sagte noch immer nichts, als der Junge in seiner Höhe war. Mikusch sah genau hin. Er grüßte jetzt sogar freundlich. Rohkohl brummelte etwas, das auch „guten Abend“ heißen konnte. Zweimal schien es schon, als wollte der Dicke noch mehr sagen. Aber das schien nur so. Er ließ Mikusch wieder vorbeigehen. Wenn der Rohkohl wenigstens verschwinden würde, in den Stall gehen oder ins Haus, dann wäre alles klar. Aber er blieb stehen. Seine Nase leuchtete rot, und Mikusch dachte, dass sie einer Erdbeere nicht unähnlich sei. Allmählich wurde es dem Jungen zu viel. Er ging wieder zurück. Als er bei dem Bauern war, gab er seiner Büchse einen wuchtigen Stoß, sodass die Tauben auf dem Dach des Bürgermeisterhauses eilig abflatterten. Heute hatte Mikusch aber keinen Blick für den herrlichen weißen Kröpfertäuber, der jetzt hinter den Kastanienbäumen eintauchte. „Wer hat denn die Pferde weggebracht?“, fragte er und schaute auf die Spitzen seiner misshandelten Schuhe.“
Und damit sind wir bei dem Angebot zum Supersonderpreis von nur 99 Cents angekommen, das diesmal von Ulrich Hinse stammt, von dem Krimiautor Ulrich Hinse, der darin Schweriner Mordgeschichten gesammelt und seinen EKHK Raschke ermitteln lässt: Für die Freunde des Schweriner Kriminalkommissars Raschke aus Godern wurden in diesem erstmals 2015 als E-Book erschienen Buch von Ulrich Hinse insgesamt 12 kleine und große Geschichten des beliebten Kriminalisten zusammengefasst. Es geht von dem perfekten Mord über das Geheimnis des Modderteichs in Pinnow bis hin zu Ermittlungen des Schweriner Kommissars in der Türkei. Allein oder mit seinen Kolleginnen und Kollegen versucht der beleibte EKHK Raschke mit mehr oder weniger Erfolg den oder die Täter von Verbrechen zu überführen. Es wird wieder spannend, wenn Raschke ermittelt. Zum Schluss hat der Autor mit seiner Feststellung „Wir waren Helden“ eine Geschichte zum Nachdenken oder zum Schmunzeln, ganz wie man möchte, angefügt. Die erste seiner Kriminalerzählungen beginnt an einem ziemlich heißen Backofen-Tag in der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern:
Die Kanaille
Kriminalerzählung
Wegen des dichten Verkehrs hatte Schrader von der Yorkstraße in Schwerin fast eine halbe Stunde bis zur Rechtsmedizin am Obotritenring gebraucht. Die Sonne brannte auf den Dienstwagen nieder und verwandelte ihn in einen Backofen, gegen den selbst die Klimaanlage kaum etwas ausrichten konnte. Solche Tage gab es in Schwerin selten. Er hatte einen jungen Beamten von der Schutzpolizei gebeten, ihn zu fahren. Der Revierleiter hatte seine Zustimmung gegeben. „Warten Sie vor dem Eingang auf mich“, hatte der knapp dreißig Jahre alte, schneidige, selbstbewusste Kriminalhauptkommissar und stellvertretende Leiter des Morddezernats der Kriminalpolizeiinspektion Schwerin dem Fahrer gesagt, war ausgestiegen und schnell in das kühle Gebäude hineingegangen. Er sah ziemlich derangiert aus, die Krawatte hatte sich gelöst, der Hemdkragen war aufgegangen, das Hemd mit den Schweißflecken aus der Hose gerutscht und das Jackett hatte er sich locker über die Schulter geworfen. Die wenigen Mitarbeiter der Rechtsmedizin, denen er auf dem Gang begegnete, schienen nicht darauf zu achten. Bei dem heißen Sommerwetter heute schien es vielen so zu gehen wie ihm. Bevor er das Büro von Dr. Schade, dem Leiter der Rechtsmedizin, auch scherzhaft Albino genannt, erreichte, versuchte er, sich einigermaßen wieder herzurichten. Mit geringem Erfolg, wie er in seinem Spiegelbild in der Glaswand eines Schrankes auf dem Korridor erkennen konnte. Er klopfte an die Bürotür.
„Herein, herein“, hörte er die Stimme von Dr. Schade, „ganz schön heiß heute, was?“
„Ja und ganz schön viel Verkehr“, antwortete Schrader.
„Ja, heute ist es überall geschäftig“, wusste Dr. Schade zu ergänzen und Schrader rätselte, was er damit meinte.
„Was ist mit Herrn Raschke?“
„Der ist noch immer im Krankenhaus.“
„So, so. Grüßen Sie ihn bitte von mir, wenn Sie ihn besuchen. Ich wünsche ihm eine gute Besserung.“
„Ja, das mache ich gern. Aber große Sorgen machen wir uns nicht. Sie wissen ja, Unkraut vergeht nicht.“
„Na ja, wenn Sie meinen. Aber sitzen wir hier nicht herum, lassen Sie uns nach unten in den Obduktionsraum gehen. Es wird Zeit. Und vergessen Sie nicht, Ihr Jackett mitzunehmen. Dort unten ist es kalt.“
Schrader wusste, dass es unten im Keller kalt war, sonst hätte er seine Jacke auch im Wagen liegengelassen. Er trottete hinter dem Doktor her. Sie durchquerten den hermetisch verschlossenen Raum mit den Kühlzellen und gelangten in den Obduktionssaal, der an einer lateinischen Schrift über der Tür zu erkennen war: hic mors gaudet succurrere vitae. Hier gefällt es dem Tod, dem Leben beizustehen, oder so ähnlich, übersetzte Schrader im Vorbeigehen. Nachdem er sich hinter Dr. Schade durch die Tür begeben hatte, fiel ihm sofort die Leiche des Mädchens auf.
Sie lag ausgestreckt auf einem der Edelstahltische in der Mitte des Saals. Eine junge, knabenhaft wirkende Frau mit zarten Gliedmaßen, kleinen Brüsten und einem kaum angedeuteten Venushügel, bedeckt mit dunklem Haarflaum. Am großen Zeh ihres rechten Fußes hing ein mit Schnur befestigtes Kärtchen, auf das irgendetwas mit schwarzem Filzstift geschrieben worden war. Auf einem der Beine war der gleiche Text zu lesen.
Neben der Leiche wartete der Pathologieangestellte, Paul Haberlah. Schrader kannte ihn von seinen Besuchen im Obduktionssaal. Er hatte schon fast sein Rentenalter erreicht und die Erfahrung von Tausenden von Leichen sah man ihm an. Er war durch nichts mehr zu erschüttern. Wie immer kaute er auf einer erloschenen Zigarre herum, die von links nach rechts und wieder zurück durch den Mund wanderte.
Daneben stand Staatsanwalt Merger, für den es offenbar seine erste Obduktion war, an der er teilnehmen musste. Er war ein wenig bleich. Schrader begrüßte beide mit Handschlag und musste leicht schmunzeln, als er Merger die Hand gab. „Herr Merger, wenn Sie es nicht mehr aushalten, gehen Sie einfach hinaus. Das stört niemanden“, flüsterte Schrader ihm zu. Aber Merger ließ sich nichts anmerken.
Inzwischen hatte Dr. Schade seine Latexhandschuhe angezogen und begann mit der äußeren Leichenschau. Das, was er sah, sprach er gleich in sein Diktiergerät. „Eine Leiche, weiblichen Geschlechts, weiß, Alter schwer zu bestimmen, ich würde sie auf etwas über vierzehn Jahre schätzen, vielleicht sechzehn oder siebzehn. Stimmen Sie mir zu?“, fragte er die anderen Anwesenden. Paul Haberlah, der auf seinem erloschenen Zigarrenstummel kaute, grunzte eine Zustimmung, Schrader wollte sich nicht festlegen und Staatsanwalt Merger schloss sich Dr. Schade an.
„Gut, das ist im Moment auch nicht so wichtig“, brummte Dr. Schade und öffnete den Mund der Leiche, um die Zähne zu begutachten. „Sobald wir die Analyse vom Stadium der Knochenverkalkung vorliegen haben, können wir das Alter genauer eingrenzen, aber aus den Zähnen schließe ich, dass die junge Lady nicht
älter als siebzehn und nicht jünger als vierzehn Jahre ist. Die Körperlänge beträgt einhundertachtundfünfzig Zentimeter; die Haut weist keinerlei Verletzungen, Prellungen oder Blutergüsse auf. Ausgehend von Größe und Gewicht von 48 Kilogramm und 345 Gramm kann der Ernährungszustand als normal angesehen werden.“
Anschließend untersuchte er aufmerksam beide Arme. „An den Armen sind keinerlei Einstichmerkmale zu sehen, die auf den Gebrauch von Spritzen hindeuten, abgesehen von frischen Malen, die auf Infusionen beziehungsweise auf Blutabnahmen vom Notarzt zurückzuführen sein dürften. Ob die Lady Drogen zu sich genommen hat, wird die Untersuchung von Haaren, Leber und Galle ergeben.“ Dr. Schade ging dazu über, die Extremitäten zu überprüfen. „Unter den Fingernägeln und den Fußnägeln befinden sich weder Erde noch sonstige feste Partikel.“
„Ist das nicht ein wenig seltsam, wenn man bedenkt, wo sie gefunden wurde?“, fragte Schrader verwundert.
„Was soll ich sagen?“, brummte Dr. Schade, ohne einen Blick von der Leiche zu lassen, „wir wissen nicht, wie sie dorthin gekommen ist oder was sie dort gemacht hat.“ Er wandte sich nunmehr bei seinen Untersuchungen den Geschlechtsorganen zu, tastete sorgfältig die äußeren Schamlippen ab und führte mit gerunzelter Stirn einen Finger in die Vagina ein. „Das Hymen ist zerrissen und, falls die Untersuchung nichts anderes ergibt, bereits geschrumpft.“
„Was bedeutet das?“, fragte Staatsanwalt Merger.
„Dass sie keine Jungfrau mehr ist, und zwar schon seit längerer Zeit. Entgegen dem landläufigen Volksglauben verschwindet das Jungfernhäutchen nicht nach dem ersten Verkehr und auch nicht bei den folgenden. Die Schrumpfung des Hymens ist ein allmählicher Prozess.“ Während er sprach, hatte Dr. Schade das Becken der Leiche ein Stück angehoben und inspizierte den analen Schließmuskel. „Die Falten um den Anus weisen Spuren von Blutergüssen auf und trotz der Leichenstarre stelle ich eine deutliche Erschlaffung des Schließmuskels und eine trichterförmige Dehnung fest. Das heißt, sie hat wiederholt sexuelle Praktiken von hinten durchgeführt.“
„Sie ist vergewaltigt worden“, stellte Staatsanwalt Merger sachlich fest.“
Ob das aber wirklich stimmt und wie überhaupt alles wirklich gewesen ist, das erfährt man nur, wenn man Raschke begleitet, den inzwischen geradezu kultigen Schweriner Kriminalkommissar EKHK Raschke, der übrigens scheinbar keinen Vornamen hat. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte …
Viel Spaß beim Lesen, gute Gedanken über kleine, große und ganz große Utopien und bis demnächst.
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