„Fließende Identität“ ist das Motto der androgyn-multiplen Körperlichkeit der Techno-, Pop- und Cyber-Kultur – alltäglich schon längst angekommen in einem transsexuell-synthetischen Idol wie Michael Jackson. Utopien im Sinne des totalen Selbstentwurfes setzen sich zunehmend durch. Im Ausspielen des „Körperpotentials“ vollziehen sich „Performances“, in welchen vorzugsweise Frauen ihren eigenen Körper als Kunstwerk nutzen. Man ist nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch seines Körpers Schneider. Unnötig zu sagen, daß wir damit in einem Post-Feminismus angelangt sind: Die Frauenbefreiung hat ihr Subjekt verloren, da es Frauen nicht einfach „gibt“. In der „Gender“-Theorie ist nicht mehr das biologische, sondern einzig das soziale oder zugeschriebene Geschlecht Gegenstand des Nachdenkens. Das Hauptwort dieser Prozesse lautet „Dekonstruktion“. Das irritierende „Spiel mit dem eigenen Fleisch“ verwischt die Grenzen zwischen Fleisch und Plastik, Körper und Computer und noch schärfer: zwischen Mann und Frau. Folgerecht polarisiert die neue Körperlichkeit dabei nicht mehr weiblich gegen männlich, sondern unterläuft diesen Gegensatz. gender nauting ist angesagt: das Navigieren zwischen den Geschlechtern. Konkret ist gemeint, daß ein Ausschöpfen aller sexuellen Möglichkeiten, insbesondere der Gleichgeschlechtlichkeit, von den bisherigen Konstruktionen freisetzen könne. Die eigentliche Stütze der Geschlechter-Hierarchie sei die „Zwangsheterosexualität“, die als bloßer Machtdiskurs entlarvt werden könne. Festzustellen sind mannigfaltige, auch künstlerische Ansätze zur Auflösung und Neuinstallation des Körpers im Sinne einer fortlaufend zu inszenierenden Identität, die sowohl die bisherige angebliche Starre des Körperbegriffs als auch seine Abgrenzung von der Maschine aufhebt – zumindest fiktiv in spielerischer Virtualität (transgender), teils bereits real mit Hilfe operativer Veränderung (transsexuell).
Unsere Lebenswelt ist damit auf dem Weg zur grundsätzlichen Überholung des eigenen Körpers. Nicht mehr nur der science fiction-Leser läßt sich die mögliche Kombination von Mensch und Maschine vorführen; sie rückt vielmehr in Praxisnähe. Die Feministin Donna Haraway entwickelt den gedanklichen Entwurf des „Cyborg“ = Cyber Organism: einen durch Transplantate und technische Einbauten immer wieder funktionsfähig erneuerten Organismus. Dem Mathematiker Roy Kurzweil schwebt der Einbau von Nanocomputern in den menschlichen Körper vor. Seine fortschrittliche Frage lautet: „Braucht die Zukunft noch den [bisherigen] Menschen?“ Berühmte Transsexuelle schwelgen von den Möglichkeiten der Medizin: Mann kann Frau werden, den eigenen Samen einlagern und eine gute Freundin bitten, Leihmutter zu werden – so eine High-Tech-Kooperation zwischen Schweiz und England. Umgekehrt: Vor kurzem hat ein Mann in Berlin, der zuvor eine Frau war, ein Kind geboren, mit dem er/sie schon schwanger war … Der Schritt zu dem bereits um 1900 aufgetauchten Schlagwort vom „Dritten Geschlecht“ liegt nahe – und ist in Deutschland durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 2017 vollzogen worden.
Der Nach-Phänomene also kein Ende; „The Day After“ ist mehr als ein Filmtitel, er ist bewusstseinsmäßige Wirklichkeit. Bisherige Orientierungen sind totgesagt. Wir sind die Generation „danach“: nach Geschichte, Herkunft, Nation, Geschlecht, Körper, sogar: nach der Familie… Sexualität aber ist das Minenfeld schlechthin und steht heute mitten im Strudel unterschiedlichster Auslegungen. In diese überhitzte Entwicklung setzt Antonio Malo seine Analyse der Sexualität. Er tut dies mit sicherem Griff, was die Sachfragen angeht, philosophisch wie naturwissenschaftlich, und mit dem Skalpell eines sorgfältig zupackenden Denkens. Gerade das begrifflich scharfe Lesen der durchwegs komplizierten Autoren ist zugleich Ansatz für seine treffende Kritik. Beispiele liefern die Sexualitäts-Theorien von Simone de Beauvoir, Judith Butler, Michel Foucault und anderen Wortführern, deren unterschwellige Widersprüche bei genauer Betrachtung aufscheinen. Der Umgang mit solchen erfolgreichen Suggestiv-Thesen bedarf der Kenntnis der Argumentationsstränge von der antiken bis zur neuzeitlichen Philosophie; er bedarf eines hohen Problembewusstseins und der Fähigkeit, das komplexe Thema sicher durch seine verschiedenen Spielarten zu leiten, ohne den roten Faden zu verlieren und zu vereinfachen.
Diesen roten Faden bildet die Frage, ob Geschlecht nur ein zufälliges „Beiwerk der Evolution“ darstellt oder ob es für das Personsein einen Sinn hat, ja konstitutiv ist. Malo zeigt eingehend, daß sich von den Höheren Säugern zum Menschen mehrere Transformationen einstellen, die das Geschlecht in die Person einbinden. Aus der instinkthaften Neigung des Tieres wird menschliches Begehren, mehr noch: Begehren, begehrt zu werden; aus der Vermehrung die Zeugung mit bleibender Verantwortung; aus dem Geschlechtsakt die Ehe; aus der Ehe die dauernde, generationenübergreifende Familie. Kraft solchen Umformungen wandeln sich tierisch-naturale Anlagen in eine personale = gewollte, bejahte, kultivierte Sinnhaftigkeit.
Allerdings kann menschliche Sexualität auch zentrifugal werden, wenn sie sich den ordnenden Transformationen verweigert. Etwa wenn sie nur noch vom Individuum und seiner Freiheit her gedacht wird, wie es die „Gender“-Theorie versucht. Das Modell einer „freien Wahl“ des eigenen Geschlechts – gegen die Biologie – kann über verschiedene Stadien der Immer-noch-nicht-Identität bis zur „Freiheit der Gleichgültigkeit“ führen, überhaupt jemand Bestimmter sein zu wollen. Sofern Wirklichkeit nur über Rollenspiel – gleichgültig ob dekonstruiertes oder neu konstruiertes – „hergestellt“ wird, verlieren sich gültige Aussagen über Selbstsein.
Mit „gender“ wird Sexualität jedenfalls – wie Malo zeigen kann – ausgespart, untergeordnet und reduziert, ja degradiert zu einer bloßen Eigenschaft am (unbeseelten) Körper. Die Pointe besteht jedenfalls darin, daß solche dekonstruktiven Thesen durchaus in einer männlich (!) geprägten Philosophie wurzeln, nämlich im neuzeitlichen Körper-Maschinen-Paradigma von Descartes. Dieser Reduktionismus der Neuzeit führt zu einer Quantifizierung und Materialisierung der Welt und des Menschen – als sei Sexualität eine Software mit der entsprechenden Verpflichtung zur mehrfachen Neubeschriftung. Eine solche Vision kennzeichnet die Zerstörung, zumindest die Vernachlässigung eines umfassenden Begriffs von Sexualität, die Malo als „Verfaßtheit“ viel weitgreifender bestimmt: „Die sexuelle Verfaßtheit ist gleichermaßen natürlich und kulturell, psychologisch (durch die Prozesse der Identifikation und der Abgrenzung), ethisch (mittels der Integration), beziehungshaft (familiär, intergenerationell, gemeinschaftlich) und nicht zuletzt menschlich (sie steht am Beginn des Menschen und seiner Entwicklung).“
Sachlich kommt man nicht um den Spannungsbogen herum, den Malo kenntnisreich skizziert: die Zuordnung von Geschlechtsleib („Natur“) zum personalen Selbstentwurf („Selbstsein“) und darin spiegelbildlich eingeschlossen die gesellschaftlichen Zuschreibungen („Kultur“). Wesentlich wird hinzugenommen die Beziehung zum Woher und Wohin des Daseins, nämlich die – gendertheoretisch völlig ausgesparte – Frage nach dem schöpferisch-göttlichen Ursprung des Daseins. Denn die transzendente Eigenart des Menschen wird besonders durch die biblischen Texte gestützt, die das naturhafte Dasein dem Personalen, Freien, mit sich Identischen, Beziehungsvollen eingeordnet sehen. Und zugleich kommt durch die Lebendigkeit des individuellen Geschaffenseins in das polare Grundmuster die eigentliche Lebensspannung: Jeder Mann, jede Frau kann und soll sich selbst wie den anderen das göttlich gewollte Unverwechselbare, Eigene zugestehen, ja darauf ausdrücklich die Anstrengung richten. Es ist Gott, der das je eigene Profil, das Selbstsein seines Geschöpfes wünscht. Und zugleich hat er es auf den anderen, das Gegenüber so ausgerichtet, daß niemand narzißtisch zu sich kommt, sondern nur, indem er aus sich heraustritt in die leibhafte Begegnung.
Die Autonomie der Aufklärung führte nur bis zur Selbsthabe. Deutlich und unabweisbar ist daher die Notwendigkeit eines weitergehenden Nachdenkens über „Wirklichkeit“ als „gegeben“ und nicht bloß „(selbst)gemacht“ und „(selbst)besessen“. Auch Geschlecht ist nicht ein selbstgemachtes „factum“, um annehmbar zu sein, sondern ein „datum“. Malo denkt über die Selbsthabe hinaus an die Selbstgabe: an das anerkannte Sich-Gegebensein durch einen Geber, an die Eigengabe an andere, an die Freiheit erfüllender Beziehung. Solche Fragen betreffen nicht allein die Philosophie, sondern bereits die Alltagskultur.
So läßt sich Malos These nochmals zuspitzen: Die gleiche Würde des Sich-Gegebenseins nimmt dem (dennoch bleibenden) Unterschied seine Schärfe, seine Macht der Zerstörung des anderen. Der Unterschied zwischen Frau und Mann ist dann nicht mehr einengend, zum ständigen Überholen und Niederwerfen des anderen zwingend. Im Gegenteil: Er bleibt gerade seiner fruchtbaren Asymmetrie wegen wichtig. Asymmetrie ist ein Gesetz des Lebendigen, und übrigens auch des Schönen. Alles, was lebendig ist, was der Entwicklung und reizvollen Antwort auf Neues fähig ist, besteht nicht aus symmetrischen Kräften, die einander genau die Waage halten. Es setzt sich vielmehr zusammen aus ungleichen Energien mit unterschiedlichem Antrieb und getrennten Aufgaben. Allerdings sind die Kräfte auf ein einheitliches Ziel hin zu versammeln, sonst brechen die Strebungen aus dem Lebendig-Ganzen aus. So sind die Geschlechter weiterhin einander asymmetrisch zugeordnet – und das macht den Reiz der Beziehung aus. Zum Glück verschieden. Malo erneuert die alte Genesis-Vision, daß sich in dem Einlassen auf das fremde Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Not (wendigkeit) asymmetrischer Gemeinschaft ausdrückt. Schöpferisches, erlaubtes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – das ist sein Vorschlag an alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen. Um es mit Gilbert Keith Chesterton zu sagen:
“Make not the grey slime of infinity
To swamp these flowers thou madest one by one;
Let not the night that was thine enemy
Mix a mad twilight of the moon and sun.” (1)
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
(1) Gilbert Keith Chesterton, A Wedding in War-Time, in: ders., The Ballad of St. Barbara and Other Verses, C. Palmer, London 1922, S. 15: „Laß nicht im grauen Schleim des Grenzenlosen / versumpfen diese Blumen, die Du einzeln schufst; / laß nicht die Nacht, die Deine Feindin war, / zum dumpfen Zwielicht mischen Mond und Sonne.“
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