Elisabeth Schulz-Semrau ist in „Suche nach Karalautschi. Eine Kindheit in Königsberg“ nicht nur ihrer Kindheit, sondern nicht mehr und nicht weniger als ihrem Leben auf der Spur und – den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Eine biografisch-literarische Entdeckungsreise.
Wissen Sie noch, was ein Fahnenappell war oder ein Pionierleiter? Beidem begegnen wir in „Pfeif auf ‘ne Perücke“ von Hildegard und Siegfried Schumacher wieder. Der Pionierleiter mit dem (damals) ziemlich altmodischen Namen Paul schien ein ebenfalls für damalige Zeiten ziemlich cooler Typ gewesen zu sein und kommt trotzdem oder gerade deswegen in die eine oder andere Schwierigkeit.
Im besten Sinne des Wortes merk-würdige Geschichten aus der Provinz erzählt Maria Seidemann in „Nasenflöte“.
Und in „Gambit“ von Karl Sewart geht es um bewegende und den Leser vielleicht sogar verändernde Geschichten – unter verschiedenen gesellschaftlichen Umständen. Und damit zurück in die Wendezeit und in die von Christoph Hein so bezeichnete Heldenstadt Leipzig. Dort wohnt, nein kein Wutbürger, diesen Ausdruck kannte man damals noch nicht, aber ein wütender Bürger schon …
Erstmals 1995 erschien als Heft Nummer 188 der DIE-Reihe (Delikte, Indizien und Ermittlungen) des Verlages Das Neue Berlin „Satans tötende Faust“ von Jan Flieger: Die vielen kleinen und großen Betrügereien, die nach der Wende im Osten geschehen, die lassen die Wut in Horst Horstmann hochkochen. Aber Horstmann ist nicht einfach nur ein Bürger, sondern Horstmann war auch ein NVA-Elitesoldat, ein Fallschirmjäger, der gelernt hat, lautlos zu töten. Seine Wut steigt und steigt und dann fasst Horstmann einen tödlichen Plan der Rache. Aus Horstmann wird „Satans tödliche Faust“ … Hier der Anfang dieses spannenden Buches und der Beginn der Verwandlung des ehemaligen Fallschirmjägers in einen wütenden Rächer:
„1. Kapitel
Gohlis erwachte, der Stadtteil, den der Leipziger Bauboom immer farbiger machte und zu einer guten und überteuerten Adresse für neue Mieter. Über den Coppiplatz rasten die Autos, eine endlose Schlange wilder Kamikazefahrer. Eine Katze, von einem BMW erfasst, wurde in Minuten von vielen Rädern zermalmt. Am Zeitungskiosk, neben den Stufen, die zum S-Bahnsteig hinabführten, grüßte mit brüllenden Lettern die Morgenpost: Leipzig – im Osten Krachstadt Nummer 1. Bald würde das erste Surren eines Krans beginnen, würde das dumpfe Plumpsen von Zementsäcken das Kreischen der sich nähernden S-Bahn übertönen, würde der Kies von den Ladeflächen rauschen. Auf zweitausend Baustellen in der regsamsten Metropole Deutschlands begann Leben und Lärm. Boomtown … Leipzig kommt prangte nicht umsonst auf einer großen Plakatwand.
Horstmann hörte den alten Trabbi Lehmanns, der nicht anspringen wollte, und er wusste, dass er nun nicht mehr einschlafen konnte. Dieses elende Auto! Er schlug das Deckbett zurück, stieg aus dem Bett, um dann minutenlang reglos hinter der Gardine zu verharren. Er hörte Karin in der Küche husten, sie, die stets früher als er erwachte, aber ihr Bett sehr vorsichtig verließ, um ihn nicht zu wecken. Es war immer halb sieben, wenn sie gemeinsam am Tisch in der Küche saßen. Die Macht der Gewohnheit war wie ein Sog, obwohl sie seit Monaten arbeitslos waren und wesentlich länger hätten schlafen können.
Mein Geburtstag, dachte Horstmann, der neunundvierzigste. Er starrte auf seine geballten Fäuste und öffnete sie ruckartig. Es war der Tag, an dem er beginnen würde. Die Todesliste war lang und wuchs und wuchs, an jedem Tag kamen neue Kandidaten hinzu, er brauchte nur in die Zeitung zu sehen. Heute würde er diesen Russen ansprechen, damit der ihm die versprochene Waffe rasch beschaffte und die Patronen. Das Schulterhalfter besaß er schon. Der Tag war da! Die tötende Faust Satans würde er sein, als Faust des Bösen würde er selbst das Böse vernichten. Vielleicht waren es diese Gedanken gewesen, die seinen Geist immer hellwach gehalten hatten. Nie würde er aufgeben und sich gehen lassen wie Karin. Nie! Und er hatte das Töten auf theoretische Weise einmal erlernt, bei den Fallschirmjägern, das Töten mit der Waffe und das lautlose Töten, mit dem Messer und der Kante der Hand. Nichts hatte er vergessen. Wie Sam Croft würde er sein, Sam, der Held des Buches, das er mehrmals gelesen hatte. Sicher lag es daran, dass er sich mit Sam identifizierte. Er ähnelte ihm sogar körperlich. Er war schlank, von mittlerer Größe und hielt sich immer so gerade, dass er groß erschien. Und genau wie dieser Sam besaß er ein schmales, kantiges Gesicht, das immer ausdruckslos wirkte. Ebenso wie Sam hatte er eine harte schmale Kinnlade, hagere straffe Wangen und eine gerade, kurze Nase. Auch seine Augen waren ungewöhnlich blau. Er und Sam könnten eine Person sein, selbst der Hauptzug ihres Wesens war gleich, die überlegene Verachtung allen Menschen gegenüber. Und sie liebten beide nichts. Nur in der Haarfarbe unterschieden sie sich. Sam hatte dünnes, schwarzes Haar, er selbst hatte braunes, dichtes. Immer wieder hatte er die Stelle gelesen, wo Sam als Nationalgardist seinen ersten Menschen tötete, als er die Versuchung fühlte und ihr nachgab, weil die Gelegenheit günstig war.
Er begann seinen Frühsport, zwanzig Liegestütze und dreißig Kniebeugen, um dann, heftig atmend, das Schlafzimmer zu verlassen. Im Bad duschte er sich kalt. Er fühlte sich befreit, denn dieser Tag war schneller da gewesen, als er gedacht hatte. Und nun würde er beginnen, ohne Aufschub. Aber zuerst musste er die Waffe beschaffen. Gelang es ihm bei dem Russen nicht, würde er nach Hamburg fahren müssen, das wusste er, denn irgendein Zuhälter auf der Reeperbahn konnte ihm vielleicht helfen, die Pistole und die Patronen zu beschaffen. Doch diese Möglichkeit verwarf er wieder. Die Waffe würde sehr teuer sein, viel zu teuer. Und Tage würden vergehen, die Sache dort in Gang zu bringen. Heute oder morgen aber musste er das Problem gelöst haben. „Heute sagen, morgen haben“, hatte der Russe gesagt.
Er hörte Karin rufen und knurrte ein „Ja“ als Antwort. Als er die Küche betrat, fiel sie ihm um den Hals. „Ich gratuliere dir, Horst.“ Ihre Umarmung missfiel ihm, aber er wehrte sie nicht ab.
„Mm“, knurrte er abweisend. Seit ihrer Entlassung aus dem Schuldienst fühlte sich Karin ausgestoßen, minderwertig. Zurzeit hatte sie wohl den absoluten Tiefpunkt ihrer Resignation erreicht, heulte in die gähnende Langeweile ihres Alltags hinein. Ihre Selbstachtung hatte sie verloren, endgültig.
Er setzte sich und begann Butter auf ein Brötchen zu streichen. Da sah er die noch ungeöffnete Whiskyflasche. „Für diesen besonderen Tag“, sagte Karin leise.
„Gut“, lobte er kauend. Vielleicht werde ich in drei Tagen den ersten Sauhund töten, dachte er dabei.“
Erstmals 1984 veröffentlichte Elisabeth Schulz-Semrau im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig ihr Buch „Suche nach Karalautschi. Eine Kindheit in Königsberg“: „Ohne meine Kindheitslandschaft würde ich sein wie jener Mann, der seinen Schatten verkaufte“, bekennt die Erzählerin. Seit Jahren hat sie die Stadt „eingekreist“, die einst Königsberg war. Doch erst nachdem „Ellachen“, letzte Zeugin der Kindheit, starb, fürchtet sie, unwiederholbar Vergangenes und damit sich selber zu verlieren. Was sie, nach einer uralten Bezeichnung, Karalautschi nennt, ist nicht allein jene unwiederbringlich zerstörte Stadt, die sie vierzehnjährig gegen Kriegsende verließ. Es ist vor allem die innere und äußere Landschaft des Kindes, das in ihr lebt. Es ist der konservative Vater ebenso wie die vergebens umworbene Mutter. Es ist Tante Ella mit dem gütigen Herzen. Es sind wechselnde Dienstmädchen, „verbotene“ Straßenkinder. Mitschüler und Lehrer, Grabsteinmetzen und eine Welt jenseits der Hofmauer, wo das Kind trotz aller Enge so viel Unverlierbares entdeckt. Es ist aber auch das heutige Kaliningrad, die neuerrichtete, verwandelte Stadt, nach der es sie zieht. Das „Suchen nach Karalautschi“ ist die Suche nach sich selbst, nach einer Lebenslandschaft, in der die einstige Welt des Kindes aufgehoben ist. Diesmal geht es aber nicht mit dem ersten oder zweiten Kapitel los, sondern mit dem dritten:
„Die Plätze meiner Kindheit, die mir wichtig waren, finde ich in keinem Buch als Sehenswürdigkeit angepriesen. Dass ich mich des Schlosses ziemlich genau erinnere, hat damit zu tun, dass mein Vater jeden nur möglichen Mittwoch ins Blutgericht, jene bekannte Gaststätte innerhalb des Schlosses, zu seinem Stammtisch ging. Königsberger Flecke, die es als Spezialität dort gab, habe ich nie gegessen, bilde mir aber ein, sie hätten um sehr vieles edler geschmeckt als sächsische Flecke, die mir inzwischen bekannt sind. Außerdem erinnere ich mich, mit der Schulklasse das Schloss mit jenem berühmten Bernsteinzimmer und dem 83 Meter langen und 18 Meter breiten Moskowitersaal über der Schlosskirche besucht zu haben. Geblieben ist davon nichts.
Wohl aber von einem Massenaufmarsch der Hitlerjugend, einem Bann- oder Gautreffen. Hingegangen bin ich sicher voll Stolz, dabei sein, das war doch was. Außerdem endlich in vorschriftsmäßiger Kluft, weißer Bluse, schwarzem Schlips mit Knoten und der gelben Affenhautjacke. Lange hatte ich vergeblich darum gebettelt, erst, als ein Mädchen in unserm Haus starb und die Mutter diese Montur billig zum Kauf anbot, bekam ich, was meine Freundinnen alle längst vor mir hatten. Gestanden aber habe ich auf dem Schlossplatz voller Enttäuschung, das weiß ich genau, denn es dauerte endlos. Ich, zu schnell gewachsen, wurde leicht schwindlig und fürchtete die ganze Zeit über, aus dem Glied zu kippen. Meine Zäh-wie-Leder-Entwicklung hatte ja gerade erst begonnen.
Auch dass mir das alte kneiphöfsche Rathaus im Gedächtnis geblieben ist, hat keineswegs mit Historizität zu tun, sondern damit, dass im zweiten Stock eine Zahnarztpraxis untergebracht war, in die meine Klasse eines Nachmittags zu einer Routineuntersuchung bestellt worden war. Mir wurde die Zeit zu lang, und ich sah aus dem Fenster hinab auf die Straße, dabei ließ ich ab und an Spuckeblasen von meinen Lippen wachsen, eine verbreitete Kindergewohnheit einfach. Neben mich hatte sich der gefürchtetste Junge meiner Klasse gedrängt und hetzte: Traust dich nicht zu spucken! Als ich mich doch traute, lüftete unten gerade ein Mann seinen Hut, um eine Frau zu begrüßen, und meine Spucke schmatzte auf seine Glatze. Der Mann blickte empört hoch und sah mich schreckversteinert im Fenster hängen. Was würde das wieder zu Hause geben … Jener Otto triumphierte: Du warst es. Und als Mann und Lehrer sich im Wartezimmer nach dem Schuldigen umsahen, zeigte er sofort auf mich. Dass der Lehrer es nicht meinen Eltern mitteilte, ist schon fast eine andere Geschichte. Der war ein Mensch unter Lehrern. Er unterrichtete mich in den ersten zwei Jahren in der konfessionellen Schule, die ich, ein Zugeständnis meiner Eltern an die Großmutter, auf dem Sackheim besuchte. Ein Volksschullehrer also. Der erste von nur zweien in meiner gesamten Schulzeit, dem ich ein unabdingbares Vertrauen entgegenbrachte. Und es ist seltsam, erinnere ich mich heute, so viele Jahre später, so muss das Kind von damals eine große Wabe Liebe für den Mann gespeichert haben. Es wird mir warm um ihn.
Dass das alte, sehenswürdige Königsberg nicht mehr des Sehens würdig war, dafür sorgten die Engländer in zwei Luftangriffen noch im August neunzehnhundertvierundvierzig. Damals schon hatte die Stadt ihr Gesicht – hatten unzählige Menschen ihre Heimat verloren; und wenn offizielle Stellen vierzigtausend Tote zugestanden, wie viele mögen es wirklich gewesen sein? Mir scheint, wie bei der Zerstörung Dresdens entsteht hier die Frage: warum denn noch, der Krieg war ja schon entschieden. Und es war fast abzusehen, wann die Rote Armee die Stadt einnehmen würde, damals Bündnispartner doch. Ich habe in mein Zimmer eine ausgeschnittene Fotografie gehängt: zerstörte, rußgeschwärzte Häuser am Pregelufer, im Hintergrund die Ruinen des Schlosses. Daneben eine andere: Die heile Standardansicht des Schlosses, wie sie als Wahrzeichen Königsbergs verbreitet war.
Es wird mit ein glücklicher Tag sein, wenn ich eine dritte Ansicht dazuhängen kann: Kaliningrad, wie auch immer es mit meiner Kindheitsstadt Karalautschi korrespondiert. Dass es möglich ist, weiß ich, seitdem mir die sowjetische Stadt Kaliningrad einen Kollegen gesandt hat. Juri Iwanow kam neunzehnhundertfünfundvierzig. wenig älter als ich, nachdem er in Leningrad Eltern und Heimat verloren hatte, als Junge mit der Roten Armee nach Königsberg. Er lebt und schreibt heute in Kaliningrad wie ich in Leipzig. Irgendwie begreife ich das erst, seit ich hinter den Polarkreis gelangt und Menschen wirklich als meinesgleichen begegnet bin.
Obwohl Juri Iwanows Besuch davor, vor allem seine wunderbare Geschichte, mir meine Vorstellungswelt schon zu runden begann. Sie begab sich in der zweiten Hälfte des Jahres fünfundvierzig, der Zeit, die für Tante Ella dort wohl die schwerste ihres Lebens war: Leichen aus den Trümmern buddeln, sie namenlos, im Wettkampf gegen Epidemien, irgendwo in die Erde bringen. Tödliches hatte für mich vorgeherrscht. Und da nun nach Jahren kommen die Erlebnisse meines sowjetischen Kollegen auf mich. Der Junge Juri war in die Stadt gekommen, wenige Monate nachdem ich sie verlassen hatte. Er begegnete in der Totenzeit meiner Tante einem Mädchen. Einer Deutschen. Etwas, von dem ich nie gedacht habe, es hätte es dort gegeben, damals: Sie tanzten miteinander im Tiergarten. Nein, ich hatte überhaupt nicht gewusst, dass man im Tiergarten tanzen konnte. Den Tiergarten aber kannte ich nur zu gut. Er lag auf halbem Wege zu Tante Ellas Hufen, und ich besuchte ihn oft mit den Eltern, später allein mit Ball oder Puppenwagen, ich hatte über Jahre Freikarten. Der Direktor war ein Freund meines Vaters, er hieß Sepp Färber, und ich hätte ihn wohl längst vergessen, hätte er mir nicht die drei riesigen, schillernden Straußenfedern, die Wunderfedern von Sindbad dem Seefahrer, geschenkt. Fast alle Tiere waren, so erzählte Juri Iwanow, von den hungrigen Menschen geschlachtet und verzehrt worden. Aber wie durch ein Wunder erlebte auch er noch die weise Elefantin meiner Kindheit, Jenny, die trommeln, tanzen und Leierkasten spielen konnte. Leierkasten – das gabs also auch noch. Aus dem Tanz mit dem Mädchen – vielleicht war es so alt wie ich, reifer bestimmt durch verzweifeltes Erleben oder aber wenig älter – wurde eine Liebe. In dieser todwunden Stadt, dieser todmüden Zeit. Ich vermag nur zu ahnen, dass es Mut gebraucht hat für beide, aber für Juri wohl mehr.
Wie anders als Tante Ella mag jenes Mädchen neunzehnhundertachtundvierzig – vielleicht im selben Zug – von Kaliningrad weggefahren sein? Zwei Briefe gibt es danach noch für den zurückgebliebenen Juri, einer kündigte vage eine Adresse an: Sie könne nicht recht Fuß fassen in diesen Deutschlandländern. Im Süden Afrikas gibt es einen Großvater und vielleicht auch Heimat. Wie eine heutige Story von Odysseus mutet mich an, was dann passierte. Zwanzig Jahre nach jenem Abschied fährt ein Mann, Schriftsteller inzwischen und Seemann, aber Betroffener noch immer, mit seinem Schiff um Afrika herum, hat jene Adresse als festen Punkt auf seinem persönlichen Kompass und – was fast nicht zu glauben ist – er geht, wo er meint, dass es sein könnte, an Land, mietet einen Jeep, sein Kapitän, ein Freund begleitet ihn, fährt vierzig Kilometer ins Land hinein, da soll es deutsche Siedler geben und – findet wahrhaftig Haus und Familie seiner Liebe. Sie selbst, inzwischen Biologin geworden, ist zu einem Kongress. Es gibt ein Festmahl, und der Ehemann, dem entdeckt wird, warum man gekommen ist, sagt: Das also sind Sie …
Auch Juri Iwanow hat inzwischen eine Familie. Es ist für mich die bewegendste Liebesgeschichte meiner Generation. Schreiben muss sie mein sowjetischer Kollege. Wahrscheinlich vermochten es nur diese sehr Jungen, weniger verätzt vom Hass und Krieg zwischen ihren Vaterländern, sich zu diesem urmenschlichen Gefühl zu bekennen. Eine Romeo-und-Julia-Geschichte in meiner Stadt, die nicht mehr die Meinige ist. Eine Geschichte aber, die mit Leben endet. Sie wies mir den Eingang zu Karalautschi. Den Schlüssel dazu aber fand ich erst hinterm Polarkreis. So umständlich kann sich Geschichte von Geschichten tun. Dabei wollen letztere aber wuchern.“
Erstmals 1978 veröffentlichte der Kinderbuchverlag Berlin „Pfeif auf ‘ne Perücke“ von Hildegard und Siegfried Schumacher: „He, ihr sollt machen, dass ihr zum Fahnenappell kommt!“ Paul steht da mit dem Hund. Wohin mit ihm? Paul steckt ihn vorn in sein Blauhemd und setzt sich in Trab. Die schnelle Bewegung missfällt Arko. Für einen so kleinen Hund bellt er sehr laut. „Schschsch“, macht Paul und tätschelt ihn. Es nützt nichts. Direktor Schönkopps Gesicht rötet sich immer mehr. Nicht nur, dass sein neuer Pionierleiter in würdeloser Eile und schon wieder zu spät kommt, nein, von ihm geht auch Gebell aus. „Sie!“, faucht Direktor Schönkopp Paul an. „Wollen Sie etwa mit Hund …? Paul Pommert, der neue Pionierleiter in Gamensee, hat den Kopf voller Pläne. Er will ein richtiges dolles Pionierleben auf die Beine stellen. Doch ehe alles im richtigen Topf kocht, passiert so allerlei. Und so geht es los – mit Paul auf dem Wege zu seinem neuen Arbeitsplatz:
„Ohne was an sind alle Menschen gleich, sagte Paul, aber da hatte er sich geirrt.
Der da auf schmalem, festgetretenem Sandweg neben der alten Kopfsteinpflasterstraße auf seinem Rad durch die Felder fährt, hinten auf dem Gepäckständer zwei handliche Koffer und obenauf eine rotbraune Leinwandhülle, in der der Form nach nur eine Gitarre stecken kann, mit Kartentasche links und Feldflasche rechts, das ist Paul. Genauer Paul Pommert, zwanzigeinhalb, knapp eins achtzig groß, sportlich-besinnlicher Typ, darauf lassen Rad und Gitarre schließen, und Pionierleiter o. Ä. Noch ohne Amt, aber unterwegs dahin, unterwegs nach Gamensee, seinem künftigen und ersten Wirkungsort, ausgestattet mit einer Zentralschule für zehn Dörfer, das weiß Paul schon; auf der Landkarte jedoch nicht größer als ein Fliegenfleck.
Aber warum ausgerechnet mit dem Fahrrad? Heute im Zeitalter der Motorisierten! Natürlich mit dem Fahrrad. Paul liebt sein Rad. Er liebt die flotte Fahrt, die er selbst macht, und das leise Sirren der Reifen, das sich in die sanften Töne der Landschaft einfügt, jetzt in das Summen des sonnenwarmen Kiefernwaldes, den er gerade erreicht hat. Auf einem Moped oder Motorrad hörst du das nicht. Ganz abgesehen davon: Woher soll Paul auch einen motorisierten Untersatz haben? Als Student am Lehrerbildungsinstitut ist er mit seinem Stipendium gerade so über die Runden gekommen, und die Mutter mit ihrem Verkäuferinnengehalt kann ihren Sohn keine großen Motorradsprünge machen lassen. Paul hätte natürlich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen können. Doch bei den siebzig Bahnkilometern zweimal umsteigen, für die letzte Strecke noch den Bus, zwei Stunden Fahrzeit und reichlich vier Stunden Warten zwischendurch? Das ist gegen Pauls praktisch-organisatorische Ader. Er fährt querdurch, kürzt ab, und ohne Rad fühlte er sich wie ein Vogel ohne Flügel, besonders in Gamensee mit den Dörfern ringsumher, er wäre ein Pionierleiter ohne Aktionsradius. Das ist ihm nichts.
Paul ist ein Entdecker, neugierig, wie es alle Entdecker sind, und gespannt auf das, was kommt: neue Menschen, neue Gegend, alles neu. Vorsicht, eine Sandstelle! Paul umsteuert sie kühn. Ein Entdecker hat kühn zu sein, wenn er auf schwer beladenem Kamel durch den Wüstensand reitet, seinem ersten Löwen Auge in Auge gegenübersteht, ein Krokodil streicheln, mit dem Nashorn um die Wette rennen muss oder etwa, während hierzulande heißer August wie an diesem Tage brütet, das ewige Eis der Polkappen erforscht. Trotzdem ist Nansen die Arktis bestimmt nicht wie Moskauer Sahneeis vorgekommen. Genauso ist Paul zumute. In die Entdeckerkühnheit mischt sich das Gefühl der Gefahr. Nicht vor Löwe, Krokodil, Nashorn. Die Gefahr lauert in Paul selbst, in seinem Namen, und das ist sein Problem.
Wer will heutzutage schon Paul heißen? Paul wird als Paulchen zum Witz, und Paul Pommert ist abgekürzt P. P. Paul zieht die Nasenflügel zusammen. Das ist keine günstige Voraussetzung, wenn man ernst genommen werden und ein richtig dolles Pionierleben in Gamensee entwickeln will. Paul hat Pläne. Obenan steht der Singeklub. Oder ist es das Touristikzentrum, die Radfahr-AG, irgendein unerhört wichtiges Pionierobjekt? Zum letzten Punkt muss Paul erst die örtlichen Gegebenheiten studieren. Jedenfalls wird er was losmachen, die Massen mitreißen, sodass jeder sagt, er ist ’ne Wucht, unser Pionierpaule.
Erschrocken bremst Paul, das Rad schlingert gefährlich, und er hat zu tun, es wieder in Gewalt zu bekommen. Was hat er da gedacht: Pionierpaule? Sofort verbannt er den Namen. Dafür steigt ein anderer hoch. Er sieht sich wieder mit der alten Tabakspfeife in der Sandkute sitzen, zweite Klasse oder so muss er gewesen sein, und seinen staunenden Kumpels gewaltige Qualmwolken vorrauchen. Gerade noch bis hinter die ersten Kusseln ist er gekommen, ihm war zum Sterben elend, und er hatte seinen Namen weg: Piepenpaule. Die Mädchen setzten damals allenfalls Paulchen dazu, doch das war auch nicht schöner. Bis nach der Zehnten hing ihm der verfluchte Name an. Sogar seine ersten Eroberungen hatten darunter gelitten: Was, du gehst mit Piepenpaule? Mit Jens, Ronald oder Andreas wäre niemand auf eine derart blöde Idee gekommen. Was Eltern in ihrer Ahnungslosigkeit anrichten können! Der Vater hieß Paul, Gustav und Fritz die Großväter. Drei Namen, und nicht einer ist zu gebrauchen.
Als Paul zum Institut ging, griff er zur Selbsthilfe. Dort kannte ihn niemand. Er fügte einen vierten Namen dazu und nannte sich schlicht und anspruchslos Klaus, bis ihn eines Tages der Direktor zu sich bat, ihn sonderbar betrachtete und fragte, wie er hieße. Unter diesen Augen konnte er nicht anders, er musste mit seinem Paul Gustav Fritz herausrücken. Soso, sagte der Direktor und hielt ihm ein Stück Papier unter die Nase, die Quittung einer Prämie, der ersten, die Paul in seinem Leben erhalten hatte, dann sind Sie das also gar nicht? Doch, doch, sagte Paul schnell, und er fragte, möchten Sie Paul heißen? Ich heiße Otto, sagte der Direktor, der höchstens Ende Dreißig war. Sie sahen sich an, und Bitterkeit lag in ihrem Blick. Kollege Pommert, jawohl, richtig Kollege hatte der Direktor gesagt, so frei können Sie nicht mit Ihrem Namen umgehen. Das hier stellt eine Urkunde und Ihre Unterschrift eine Fälschung dar, eine Urkundenfälschung, und die ist strafbar. Paul zuckte zusammen, unterschrieb noch einmal und mit seinem richtigen Namen, und sie sahen sich wieder an, und der Direktor seufzte.“
Erstmals 1983 erschien im Eulenspiegel Verlag Berlin „Nasenflöte. Geschichten aus der Provinz“ von Maria Seidemann: Die Provinz ist erfunden, die Figuren mit ihren merkwürdigen Geschichten von damals und heute sind es auch. Und doch reicht vieles, was in diesem Erzählband Maria Seidemanns zu lesen ist, in Bereiche, die den Leser zur Positionsbestimmung zwingen, zur Auseinandersetzung mit sich und der Gesellschaft. Zwischen Verantwortung und Versagen, zwischen Hoffnung und Frustration ist das Spannungsfeld abgesteckt, auf dem sich Schicksale vollziehen. Fantasievoll, poetisch und mit hintergründiger Ironie erzählt die Autorin von Menschen, deren Verdienst in Vergessenheit geriet, von Leuten, deren Träume sich nicht erfüllten oder die ihre Ziele selbst verraten haben, aber auch von den Jungen, deren Ideal mit der Wirklichkeit zusammenprallt. Diese Geschichten sind geprägt von Kraft und Sensibilität zugleich, und sie sind Zeugnisse von Maria Seidemanns Bemühen um Ausdrucksfähigkeit und Klarheit der Sprache. Als erstes treffen wir Max, Max, der schon halb groß ist, und der sich um Katharina kümmert und – in gewisser Weise um seine Eltern:
„Nachts in der neuen Zeit
Der Wind rüttelt an den Jalousiestäben. Auf dem Hof heult der Hund des Bäckers. Max liegt wach. Angst hat er nicht. Ein deutscher Junge fürchtet sich nicht, sagt Vater. Max kennt alle nächtlichen Geräusche. Außerdem ist er schon sechs. Vater und Mama müssen oft abends zur Versammlung. Dann passt Max auf das Baby auf und denkt nach über das, was die Erwachsenen so daherreden.
Das Baby heißt Katharina. Katharina ist ein guter deutscher Name. Aber es ist auch ein russischer Name, und das kann in den heutigen Zeiten von Nutzen sein, sagt Vater. So ein gottverdammter Quatsch, sagt darauf Mama. Vater beschwert sich über Mamas Ausdrücke und möchte sich verbeten haben, dass Max so was von ihr lernt. Mama eignet sich nicht zum Kindererziehen. Vater dagegen stammt aus besseren Verhältnissen und hat von seinen Eltern ein weißes Hemd und einen Schlips bekommen, damit sieht er sehr schön aus, beinahe wie der Doktor, der Max die Kehle durchgeschnitten hat, als er krank war und sterben sollte. Aber damals war der Vater verschollen und hatte noch kein weißes Hemd. Mama schimpft, Vater soll sich schämen, er weiß doch genau, dass die Fetzen vom schwarzen Markt stammen. Auf dem schwarzen Markt gibt es schwarzen Kaffee, schwarze Spitzen und schwarze Existenzen, neuerdings auch weiße Hemden. Vater sagt, er ist nicht für seine Eltern verantwortlich, sondern nur für das, was er selber gemacht hat, und dafür war er lange genug hinter dem Ural. Viel begriffen hat er aber hinter dem Ural nicht.
Wahrscheinlich muss er deshalb mit Mama den Lehrgang machen. Der Lehrgang bereitet Max viel Sorgen. Manchmal wird er kaum fertig mit allem den Tag über, wenn die Eltern auf der Schulbank sitzen. Das Baby ist noch sehr klein. Manchmal kocht die Milch über. Einmal war sie sauer, das Baby nahm die Flasche nicht und schrie den ganzen Tag. Kartoffelschälen ist auch nicht einfach. Man muss mit der Schneide schälen, nicht mit dem Messerrücken. Einkäufen wenigstens geht Mama jetzt selber, seit Max eine halbe Lebensmittelkarte verloren hat.
Wenn der Lehrgang zu Ende ist, wird Max ein Familienleben haben. Dann ist Schluss mit der polnischen Wirtschaft, alles kriegt seine Ordnung, wie Vater sich das vorstellt. Vater und Mama werden Neulehrer. Heutzutage werden Hinz und Kunz Lehrer, sagt die Bäckerin. Max hat Mama gefragt, ob Hinz und Kunz auch auf dem Lehrgang sind, aber darauf hat sie nicht geantwortet.
Mama hat gesagt, das schafft sie nicht mit zwei Kindern. Aber die Partei — das ist der glatzköpfige Willi mit dem blauen Anker auf dem Unterarm — die Partei kann alles verlangen, weil Mama gebraucht wird wegen ihrer Vergangenheit. Sie hat aber darauf gesagt, sie macht es nur mit Vater zusammen, der hat es nötig. Sicher meint sie damit, dass Vater keinen Beruf hat. Er ist ein ungünstiger Jahrgang. Erst hat er eine Weile studiert, wie man mit jemandem kurzen Prozess macht, aber dann ist er marschiert. Mama sagt, er hat friedliche Dörfer in Schutt und Asche gelegt. Max weiß nicht, was er davon halten soll, Vater schwärmt doch vom Leben auf dem Dorfe. Nach dem Lehrgang lässt er sich versetzen, dann haben sie Landluft, ein Häuschen mit Garten, Gemüse, Hühner, eine Kuh, Hunde und Katzen und ein Storchennest. Und Max geht in die demokratische Einheitsschule, wo ihn Vater, zusammen mit den Bauernkindern, zu einem neuen Menschen erzieht. Das wird sich machen lassen, denkt Max, denn Mama soll sich dann ja selber um das Baby, die Kuh und die Tabakbeete kümmern, bis sie alle aus dem Gröbsten raus sind.
Vater kann endlich seine Familie ernähren, wie sich das gehört. So haben wir aber nicht gewettet, mein Lieber, sagt Mama. Sie hat etwas gegen das gesunde Landleben, weil sie nur aus der Arbeiterklasse kommt. Vater hat sie trotzdem geheiratet, denn sie ist fleißig, treu und rothaarig. Max ist auch rothaarig. Das Baby hat noch keine Haare. Dafür hat es eine Stimme wie eine alte Torangel. Max fährt erschrocken auf. Das Baby schreit, also ist es zehn Uhr. Er stopft Katharina den Nuckel in den Mund und tastet im Bett der Eltern nach der Milchflasche. Mama hat die Milch vor der Versammlung heißgemacht und unter die Zudecke gepackt. Die Flasche ist umgekippt und hinterlässt einen klebrigen Fleck auf dem Laken. Max wickelt das Baby aus der nassen Windel und legt es trocken, dann füttert er es.
Der Bäckereihund schleppt seine Kette rasselnd über den Hof. Statt das Mehl zu bewachen, heult er den Mond an. Vater hat gesagt, den Köter knallt er eines Nachts ab. Da kann Max nur lachen, er weiß genau, dass der Vater entwaffnet ist. Der arme einsame Hund, der hat keinen, um den er sich kümmern kann. Vater muss sich deshalb so aufspielen, weil er keine Stellung in der Familie hat. Er ist im Krieg nur zweimal aufgetaucht. Beim ersten Mal hat er mit Mama getanzt, und beim zweiten Mal hat er sie heiraten müssen. Dann ist er gefallen, aber es war eine Verwechslung, und er ist wieder auferstanden. Max kannte den Vater noch nicht, als der sich im vorigen Jahr neben ihn an den Tisch setzte und mitessen wollte. Und als wäre der eine zusätzliche Esser nicht genug, bekam Mama das Baby.
Das Baby ist beim Trinken eingeschlafen. Max trinkt den Rest aus der Flasche selbst. Der Junge ist dürre zum Umpusten, sein Vater ist wohl zu fein zum Arbeiten, hat die Bäckerin im Laden gesagt, und: Wovon leben die eigentlich? Dumme Frage, denkt Max, wir leben von der Schwerarbeiterkarte. Die Schwerarbeiterkarte kriegt Mama als Ersatz für Oma und Opa. Die kennt Max nicht, sie sind auf der Strecke geblieben. Max kann sich vorstellen, was das bedeutet. Opa, der auch Max hieß, war Streckenläufer bei der Bahn, und Oma Katharina hat ihm das Essen an die Strecke gebracht, und von da sind sie wahrscheinlich nicht wiedergekommen. Wenn ich nicht das Baby hätte, überlegt Max, ich würde auch gerne auf den Bahndamm klettern und loslaufen, immer auf den Gleisen lang, einfach weggehen. Vielleicht ist es woanders besser. Notfalls kann man ja zurückkommen, wenn es dunkel wird. Vater hat gesagt, Opa Max und Oma Katharina waren die fünfte Kolonne und haben ihm einen Dolchstoß versetzt, während er seine anständigen Knochen hinhalten musste. Max hätte gern erfahren, ob sie deshalb weggelaufen sind, aber Mama hat ihn auf die Treppe geschoben, und dann haben sie sich hinter der Tür angeschrien.
Max seufzt und legt das Baby in den Wäschekorb. Sie müssen sich alle drei an die neuen Zeiten gewöhnen. Das beste wird sein, er geht im Herbst nicht in die Schule, sondern kümmert sich zu Hause um Katharina, das Essen und die Hühner, damit Mama ausprobieren kann, wie man Kinder erzieht. Lernen wird er später, wenn er groß ist, auf einem Lehrgang. Max öffnet das Fenster und schiebt die Jalousiestäbe auseinander. Hinter den planierten Trümmern am Bahndamm steht, ein schwarzer Klotz, die Schule, kein Fenster ist hell. Das bedeutet, die Versammlung ist aus, und Max ist noch nicht fertig mit Denken. Er kriecht unter die Decke und stellt sich schlafend. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Erstmals 1972 brachte der Mitteldeutsche Verlag Halle (Saale) den Band „Gambit. Drei Erzählungen“ von Karl Sewart heraus: Ungewöhnliches geschieht da in der Titelerzählung dieses Bandes: Ein Vater versteckt seinen Sohn gegen dessen Willen in den letzten Kriegstagen in den Wäldern, um ihn vor dem Zugriff des nahenden Krieges zu retten, und der Sohn hasst deshalb seinen Vater. Gambit – das Figurenopfer im Schachspiel – wird zu einem Symbol für diese erregenden Tage, denn der Vater muss die Versäumnisse seines bisherigen Lebens mit dem Tod bezahlen. Aber das Opfer war nicht umsonst, denn der Sohn beginnt zu fragen, nach den Leuten, die ihnen das Essen herausstellten und damit nach seiner Zukunft. Diese Erzählung hat die DEFA 1978 unter dem Titel „Ich zwing dich zu leben“ in der Regie von Ralf Kirsten verfilmt. Auch in den beiden anderen Geschichten dieses Bandes geht es um das Problem der Erziehung und Selbsterziehung, freilich unter nunmehr neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten. So gewinnt ein Heimkehrer Vertrauen zu sich und zu seiner Welt, weil es ihm gelingt, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen. Und das Kind befreit sich vom Albdruck böser Erfahrungen. Mitten in der DDR-Zeit spielt die dritte Erzählung, in der die Kündigung einer Lehrerin zum Anlass für Überlegungen und Handlungen wird, die die schwierige Aufgabe des Lehrers heute bestimmen. Das Fernsehen der DDR brachte hierzu 1983 den viel diskutierten Film „Die Kündigung“ in der Regie von Edgar Kaufmann heraus. Karl Sewart erweist sich in diesem Band als ein erstaunlich reifer, psychologisch eindringlicher Erzähler, der künstlerisch originelle und zwingende Lösungen zu finden weiß und vor allem: Er hat Geschichten zu erzählen, die uns bewegen und verändern können. Und auch diese Leseprobe beginnt nicht mit dem ersten oder zweiten, sondern mit dem dritten Kapitel:
„Durch die sibirische Taiga, endloses, verwildertes Land, links und rechts vorbeisausend, riesige Wälder, unbebaute Felder, ab und zu ein verkommenes Gehöft, eine dreckige Kuh, ein verwahrloster Mensch. Nacht. Das Hämmern der Schienenstöße, das Heulen des Fahrtwindes. Er zieht seine Muskeln zusammen, beugt, streckt abwechselnd die Beine, die Rechte kämpft sich Millimeter um Millimeter den Unterschenkel hinunter, unter das Hosenbein, bekommt den Dolch zu fassen, zieht ihn zwischen Schuh und Fuß heraus, durchschneidet die Fesseln, springt auf, lockert die verkrampften Muskeln, kniet nieder, hebt die Bodenbretter aus, eisige Zugluft sticht herein. – Verflucht, die Füße waren kalt, verdammtes Geschüttle, mit den Zähnen war nicht an den Strick ’ranzukommen, dieser verdammte Himmelhund hatte ihn im Schlaf überrumpelt, er hatte die Muskeln nicht anspannen, die Luft nicht anhalten können, nicht mal sein Fahrtenmesser hatte er bei sich, und der Marschkompass lag in der Kiste unterm Bett, und er lag zwar endlich mal nicht in den Federn um diese Zeit, zum ersten Mal, aber er war nicht abgehauen, verdammt: Schienenstöße, Transsib – das klägliche Gerumple eines Handwagens, dreizehn Jahre und in einem Handwagen gefahren werden, gezogen von einem klapprigen Stubenhocker, Kreideathleten, Einmaleins-Idioten. Sollte er sich kaputtziehen da vorn, er sammelte inzwischen Kräfte. Verflucht, im Schlafanzug, eingemummt wie ein Wickelkind, in dem Wagen, der vor einem halben Jahr noch ein Panzer gewesen war, verkleidet mit grünbraungelb gefleckten Pappen und einem Besenstiel als Geschützrohr, derselbe Wagen, verflucht, was hatte er für Zeit verloren mit solchen Mätzchen, die anderen waren alle zu feige zum Abhauen, auch Manfred, er wollte es ihnen zeigen, allen wollte er’s zeigen.
Ihm wollte er’s zeigen, verdammt, die Fesseln saßen, das hätte er Ihm nicht zugetraut mit seinen Bleistiftfingern, was war eigentlich in Ihn gefahren. – Er musste verrückt geworden sein, das war nicht normal, das tat kein normaler Deutscher, und Er war doch ein Deutscher, was hatte Er mit ihm vor, aber Er hatte doch gestern noch unterrichtet, und es war Ihm nichts anzumerken gewesen – nein, Er war ein Verräter, ein ganz verflucht normaler Verräter, vielleicht hatte Er sogar eine Geheimausbildung bekommen, vielleicht steckte Er sogar mit diesen Saboteuren unter einer Decke, die die Gestapo im Wolfsteiner Werk ausgehoben hatte, der Krieg wär’ schon längst gewonnen, wenn es nicht solche Bolschewiken gäbe, und wenn er an Sein verfluchtes Gerede gegen den Krieg dachte und gegen die Adolf-Hitler-Schule …
Es hieß aufpassen, auf alles aufpassen, ihm durfte nichts entgehen. Jetzt rollte es wie auf Samt. Also auf Moos- oder Nadelpolster, nicht mehr auf dem Weg. Von Zeit zu Zeit knackte ein Ast, es hörte sich an wie ein Pistolenschuss. Ab und zu ein gelinder Ruck von einer Wurzel, wie ein Schienenstoß. Verfluchte Fantasiererei mit der Transsib. Vielleicht waren ihm dadurch schon wichtige Beobachtungen entgangen. Die Nacht musste doch bald herum sein. Die Mutter! Sie würde Sein leeres Bett sehen, in seine leere Kammer, zum Rektor hinunterlaufen. Suchaktion. Jungzugführer Wulf, das Jungvolk, die Hitlerjugend, der Volkssturm, Polizei, SA, SS, Gestapo. Soviel war noch nie los gewesen in diesem Nest. Doch nein, er würde sich nicht befreien lassen! Ein deutscher Soldat wusste sich selbst zu helfen in jeder Lage. Nein, mit Dem da vorn würde er selbst fertig werden. Er würde gar nicht erst nach Hause zurückkehren. Erst als Sieger. Und wenn die Schande von Dem da vorn in Vergessenheit geraten wäre …
Er würde sich gleich nach Meißen durchschlagen. Er hatte sich’s schon ein paar Mal auf der Karte genau angesehen: Heinersthal, Pockau, Brandau, Erbisdorf, Freiberg. Quartier in Feldscheunen, im Wald. Marschproviant unterwegs aus abgelegenen Bauerngütern. Mit Weibern, Kindern, alten Männern würde er fertig werden. Er würde mit allen fertig werden! Wäre er doch gestern noch abgehauen! Er könnte jetzt schon in Brandau, in Freiberg sein. Unterwegs ein Rad konfiszieren und fort. Er hätte sich’s doch denken können! Der da vorn war gegen alles, was Geschicklichkeit, Einsatzbereitschaft, Tapferkeit erforderte.
Weil Er selbst ein Feigling war. Weil Er auch aus ihm einen Feigling machen wollte. Der wollte einfach verduften. Weil mal ein paar Russen, ein paar Amis durchgebrochen waren. Die aber hatten nur durchbrechen können, weil es solche Feiglinge wie Ihn gab. Und ihn wollte Er mit verduften lassen. Er hatte es verstanden, sich zu drücken. Stand in miefigen Klassenzimmern herum, nebelte sich in Kreidestaub ein, wog Lumpen, Knochen, Altpapier ab, geschniegelt und gebügelt, verrichtete von Früh bis Abend weiter nichts als Weiberarbeit, während andere Väter durch schlammige Schützengräben, rostige Stacheldrahtverhaue, feindliche Unterstände nach vorn krochen, Heldentaten vollbrachten und rassige Feldpostbriefe nach Hause schrieben, und er musste zuhören, wenn die anderen Pimpfe am Lagerfeuer reihum erzählten und erzählten. Dagegen sein verrücktes Gerede gegen den Krieg: Im Krieg sähen Bäume nicht mehr aus wie Bäume, sondern wie Totenhände, die in den Himmel greifen, und Häuser seien keine Häuser mehr, sondern Gespenster von Häusern, und die Bilder und die Bücher würden zu Rauch und die Menschen zu wilden Tieren, zu Mordmaschinen, und es ginge danach, wer sich besser an einen anderen heranschleichen, wer andern besser auflauern, wer andre besser umbringen könne, das aber, was den Menschen eigentlich zum Menschen mache, ginge unter im Rasseln der Panzer, im Dröhnen der Geschütze, im Explodieren der Bomben, das, was der Krieg verlange, bringe jeder, bringe der Dümmste und Schlimmste am besten, und deshalb dürfe er es nicht bringen. Er hatte ihm Bilder ausländischer Maler gezeigt, ihm aus Büchern ausländischer Dichter vorgelesen und ihn gefragt, ob das Untermenschen zustande bringen könnten. Und da hatte er mal angebissen: Als Jungzugführer Wulf behauptet hatte, die Russen seien alle Analphabeten, meldete er sich und warf ein, es gäbe doch große russische Dichter, die müssten aber das Alphabet gekannt haben, sonst gäbe es keine Bücher von ihnen. – Woher er das wisse. – Im Schrank seines Vaters stünden die Bücher. – Dann waren das früher nach Asien eingewanderte Arier. Von Bolschewisten ausgenutzte, unterdrückte Arier. Alles andere war Feindpropaganda. – Darauf wurde Er zu Heschke und zum Ortsgruppenleiter bestellt, und Er war ruhig. Bis vorige Woche. Bis zu dem Abend, nachdem ihn der Rektor zu sich hineingewinkt hatte. Zuerst war ihm der Schreck in die Glieder gefahren: Hatte Heschke gemerkt, dass in der Leinwandhülle hinter dem Lattenverschlag auf dem Oberboden statt des Luftgewehrs eine einfache Holzlatte steckte?
Das Gewehr hing in der Krone einer hohen Eiche im Lehnertsteinbruch, er und Manfred hatten sich gut darauf eingeschossen, es kam selten vor, dass sie zweimal auf einen Papprussen anlegen mussten. Aber es war nicht das Gewehr. Ein Rektor hatte es nicht mehr nötig, sich um Luftgewehre zu kümmern, der hatte seine doppelläufige Jagdbüchse mit Zielfernrohr. „Du bist für diese Schule, die den Namen des Führers trägt, wie geschaffen, ein richtiger Germane, groß, kräftig, blond, blauäugig, tapfer, begabt. Ich habe dich beim Jungvolkdienst beobachtet..Und von früh bis abends Geländespiele, Schießübungen, Zeltlager und wie ein Krieg gewonnen wird. Offizier, Kreisleiter, Gauleiter. Ritterkreuzträger! Wenn man schon einen Vater hatte, von dem es keine Heldentaten zu erzählen gab, musste man eben selbst welche vollbringen. Anstatt weiter Latein und Mathe zu pauken, Vokabeln und Formeln, die jeder lahme Stubenhocker begriff. In einer Zeit, da es auf ganz andere Dinge ankam.
Mutter hatte ihn sofort verstanden, sie wollte ihn etwas werden lassen, sagte sofort zu. Doch dann kam Er: „Du besuchst doch schon die Oberschule, die schließt du ab, studierst, du kannst ein großer Maler werden, wie’s vielleicht nur einen in dieser Zeit geben kann.“ – „Ich will kein solcher Pinselheini werden wie du!“ – „Herumballern kann jeder, der größte Idiot.“ – „Aber du nicht!“ – „Überleg dir doch, Kreisleiter, Gauleiter kann er werden. Soll er vielleicht auch ewig ein kleiner Angestellter bleiben wie du, der’s nicht mal zum Rektor gebracht hat, weil er eine Stelle nach der andern ausschlägt? Willst du’s nun auch noch mit dem Jungen so machen? Sollen wir ewig unten herumgrasen, wo unsre Zeit endlich angebrochen ist? Nein, dazu kommt es nicht!“ – Eine Frau musste Ihm helfen, bei ihnen war alles umgekehrt, er hatte einen Mann zur Mutter und eine Memme zum Vater, und er war aufgesprungen und hatte Ihm gesagt, was er über Ihn dachte.
Immer noch Schienenstöße von Wurzeln, Handwagenschienenstöße. Verflucht, der Krieg wurde womöglich gewonnen, ohne dass er einen einzigen richtigen Panzer, eine einzige Feindleiche zu sehen gekriegt hatte. Sie wurden immer nur mit verregneten Wochenschau-Bildern abgespeist. Verflucht! Ihn hier hinauszuschleppen! Das war Verschleppung! Freiheitsberaubung! Sabotage! Wehrkraftzersetzung! Wollte Er ihn etwa hier draußen lassen und jede Nacht herauskommen und ihn füttern und tagsüber weiter Seine Wandtafeln vollschmieren und Seine Knochen schonen und so tun, als ob er selbst irgendwohin abgehauen sei? Sodass er auch noch in den Ruf eines Deserteurs kam! Und Er würde weiter jeden Morgen Sein Ei millimeterweise betätscheln, zuerst das Dotter herausschlürfen, bis keine Spur mehr davon zu sehen war, und dann das Eiweiß herausschälen und dann in Seinem Kaffee rühren, obwohl es gar nichts zu rühren gab, denn Er trank ihn ohne Milch und ohne Zucker, der verwöhnte Knochensammler trank keine Milch und aß keinen Zucker. Er ließ seinen Körper so schwer, wie er konnte, gegen den Boden des Wagens lasten, er musste versuchen, mit Händen oder Ellbogen das Deckenzeug an die Felgen zu drücken; der Kaffeemumm und die Staublunge dieses unabkömmlichen Lumpenhändlers würden nicht lange mitmachen in der scharfen Waldluft hier draußen, diesem unabkömmlichen Kaffeesäufer sollte es nicht gelingen, auch noch ihn unabkömmlich zu machen.
Vielleicht auch wollte Er sich hier irgendwo bei anderen Leuten, bei ebensolchen Unabkömmlichen verstecken, in einem Dorf auf der anderen Seite des Waldes, und ihn weiter Vokabeln und Formeln und Zeichenregeln eintrichtern, so, wie der Tyrann Karl Eugen von Württemberg Schiller gezwungen hatte, auf der Hohen-Karls-Schule für ihn zu pauken. Doch Schiller war geflohen bei Nacht und Nebel, mit Pistole und falschem Pass, aus den Mauern Stuttgarts hinaus in die Freiheit – und auch er würde fliehen, bei helllichtem Tag, nach dem Stand der Sonne, aus dem Hohen Hornwald, ohne Pistole, aber er würde bald eine haben …“
Das war wieder ein Ritt durch die Zeiten. Und mit ihnen durch sehr verschiedene Leben des vergangenen Jahrhunderts, in dem allerdings vieles begann, was sich in diesem Jahrhundert fortsetzt und sich entwickelt hat. Und mit einer merkwürdigen Mischung von Wehmut und Erstaunen blickt man zurück auf das, was es damals so alles gegeben hat, wie es gewesen ist, wie die Zeiten und die Menschen gewesen sind, wie sie gelebt, was sie gemacht und wie sie gedacht haben. Und so bleiben beide in Erinnerung – die Zeiten wie die Menschen …
Viel Spaß beim Lesen, Erinnern und Vergleichen, einen nicht allzu stürmischen Herbst und bis demnächst.
Die vor 21 Jahren von Gisela und Sören Pekrul gegründete EDITION digital hat sich seit 2011 verstärkt dem E-Book verschrieben, verlegt aber inzwischen auch zahlreiche gedruckte Bücher – zumeist gleichzeitig als gedruckte und digitale Ausgabe desselben Titels. Zudem bringt die EDITION digital Handwerks- und Berufszeichen heraus. Insgesamt hat der Verlag derzeit fast 800 Titel (Stand August 2016) von rund 120 DDR- und anderen Autoren im Angebot, wie Wolfgang Held, Klaus Möckel, Wolfgang Schreyer und Erik Neutsch sowie den SF-Autoren Carlos Rasch, Heiner Rank, Alexander Kröger und Karsten Kruschel. Nachzulesen ist das Gesamtprogramm unter www.edition-digital.de. Jährlich erscheinen rund 200 E-Books und 10-15 gedruckte Bücher neu.
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