Ein besonders verleugnetes Thema ist die „Weibliche Täterschaft gegenüber Kindern“. „Sie ist in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent…. Mitte 1950 bis Anfang 1951 wurden 444 deutsche Jugendliche bzw. junge Menschen in verschiedenen Regionen nach ihren Erziehungserfahrungen in der Familie befragt. Bei 46,2 % der Jugendlichen wurden Strafen (und Strafen waren nach Angaben der Befragten vor allem Körperstrafen, die von der großen Mehrheit der Befragten erlitten wurden) durch die Mutter vollzogen, 33,4 % durch den Vater und bei 13,7 % durch beide Elternteile.“
„Ein etwas aktuelleres Bild für Deutschland zeigt der Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2005 Darin heißt es: ‚Die meisten Studien der Familiengewaltforschung kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter in gleich hohem oder höherem Ausmaß wie Väter elterliche körperliche Gewalt gegenüber ihren Kindern ausüben.’“
Bezeichnend für die Verdrängung des Themas Gewalt gegen Kinder ist auch die Reaktion der Veranstalter des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: „Im Jahre 1978 hielt Astrid Lindgren unter dem Titel Niemals Gewalt! eine glühende Rede für die gewaltfreie Erziehung. Anlass war die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Ihre Rede sorgte damals allerdings schon vor der Verleihung für einen Eklat, weil die Verantwortlichen nach der Lektüre des Manuskripts sagten, sie solle den Preis ‚kurz und gut’ ohne Rede entgegennehmen. Astrid Lindgren ließ sich darauf nicht ein, drohte mit Verzicht und durfte doch noch in Frankfurt am Main sprechen. … Was hatte die damals Verantwortlichen derart irritiert und gestört, dass sie dieser weltberühmten Kinderbuchautorin, die sie selbst eingeladen hatten, zunächst ihre Dankesrede verbieten wollten? Mir scheint, es war die Verknüpfung von (gewaltvollen) Kindheiten und (gewaltvoller) Politik, die Lindgren ins Abseits brachte. Lindgren sagte: ‚Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.’“
Bezogen auf die aktuelle Situation in Deutschland kommt Fuchs zu dem erfreulichen Ergebnis: „Die (…) dargestellten Studien lassen folgende verlässliche Aussagen zu: 80-90 % der Kinder und Jugendlichen fühlen sich in ihren Familien wohl; 80-90 % finden, ihre Eltern hätten genügend Zeit für sie; 10 % leben in als konflikthaft empfundenen Familien, 10 % spielen zu häufig Computerspiele; 10-15 % klagen über elterlichen Schuldruck und/oder Schulstress, etwa die gleiche Zahl über ehrgeizige Freizeiteltern oder zu wenig Freizeit; und 10 % sind (…) behandlungsbedürftig psychisch erkrankt. All dies lässt sich zu der Aussage verdichten, dass etwa 80-85 % der Eltern ihrer Erziehungsaufgabe insgesamt gewachsen sind und 15-20 % damit Schwierigkeiten haben.“ Und: „Zusammenfassend kann man festhalten, dass es zu keiner Zeit der Mehrzahl der Kinder in Deutschland so gut ging wie heute, und zwar in jeder nur denkbaren Hinsicht: in materieller, psychischer, körperlicher, kognitiver und bildungsmäßiger. (…) Darüber hinaus ist festzuhalten: Zum Ersten hat sich noch in keiner Generation zuvor die Mehrzahl der Eltern so hingebungsvoll und zeitintensiv um ihre Kinder gekümmert wie heute; zum Zweiten, war dementsprechend in keiner anderen Generation das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern so entspannt und solidarisch wie heute; zum Dritten ist die diesbezüglich geäußerte Befürchtung, das Abflachen des Generationenkonflikts habe nachteilige Folgen für die kindliche Entwicklung, unzutreffend. Wieso in Anbetracht all dieser Tatsachen ‚das Katastrophenszenario die beliebteste Stilform (ist), wenn hierzulande über Familien berichtet wird’ (…), bleibt ein aufklärungsbedürftiger Sachverhalt (…).“
Gewalt gegen Kinder herrscht besonders in islamisch geprägten Ländern
„UNICEF hat 2014 die weltweit bisher größte Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder veröffentlicht. Die Studie ist derart umfangreich, dass hier nur auszugsweise auf wesentliche Gewaltdelikte eingegangen werden kann. 6 von 10 Kindern (fast eine Milliarde Kinder) werden der Studie folgend regelmäßig von Erziehungspersonen geschlagen. Innerhalb der Studie wurden 23 Länder hervorgehoben, in denen mindestens 20 % der Kinder (2- bis 14-Jährige) besonders schwere körperliche Gewalt durch Eltern erleben. …. Die folgenden Zahlen gelten für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen vor der Befragung (Gewaltraten für die gesamte Kindheit dürften entsprechend höher liegen!):
Jemen: körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %, körperliche Gewalt: 86 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %, psychische Gewalt: 92 %.Ägypten: körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %, körperliche Gewalt: 82 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %, psychische Gewalt: 83 %.Afghanistan: körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %, körperliche Gewalt: 69 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %, psychische Gewalt: 62 %.Demokratische Republik Kongo: körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %, körperliche Gewalt: 80 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %, psychische Gewalt: 82 %.Zentralafrika: körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %, körperliche Gewalt: 81 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %, psychische Gewalt: 84 %.Irak: körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %, körperliche Gewalt: 63 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %, psychische Gewalt: 75 %.Staat Palästina: körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %, körperliche Gewalt: 76 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %, psychische Gewalt: 90 %.Syrien: körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %, körperliche Gewalt: 78 %, besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %, psychische Gewalt: 84 %.Elfenbeinküste: körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %, körperliche Gewalt: 73 %, besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %, psychische Gewalt: 88 %.
An dieser Stelle möchte ich erneut den Vergleich mit Schweden suchen, denn in der vorgenannten UNICEF Studie wurden annähernd vergleichbare Daten aufgeführt, die ebenfalls das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen aufzeigen. In Schweden erleben weniger als 10 % der Kinder in diesem Zeitraum körperliche Gewalt durch Elternfiguren; kein einziges Kind erlebt schwere Formen körperlicher Gewalt.“
„UNICEF hat in einer anderen Veröffentlichung auch Daten bzgl. häuslicher Gewalt gegen die Mütter (innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung) von Kindern unter fünf Jahren erhoben. Das Miterleben von Gewalt gegen die eigene Mutter ist eine schwere und folgenreiche Belastung für Kinder. Viele der vorgenannten Länder fallen auch hier durch hohe Gewaltraten auf. In Afghanistan erleben beispielsweise ca. 55 % der unter Fünfjährigen mit, wie ihre Mutter häusliche Gewalt (körperlich, psychisch und/oder sexuell) erleidet, in Liberia, Uganda, Kamerun und der Republik Kongo sind es annähernd 50 %, in Pakistan ca. 35 %, Indien ca. 32 %,, Ruanda ca. 30 %, Ägypten und Kambodscha jeweils über 20 %.
Für eine Studie in Saudi-Arabien wurden 2.043 Jugendliche (15-18 Jahre) zu Gewalterfahrungen innerhalb von 12 Monaten befragt. Die Ergebnisse der Studie aus Saudi-Arabien zeigen ein sehr hohes Ausmaß von verschiedenen Belastungsfaktoren für Jugendliche. 50,2 % erlebten Formen von Vernachlässigung, 74,9 % psychische Misshandlung, 57,5 % körperliche Misshandlung, 14 % Formen von sexuellen Missbrauch und 50,7 % wurden Zeugen von Gewalt in verschiedenen Kontexten. Auszugsweise seien einige Items kurz vorgestellt: 7,8 % erlebten zu Hause häufig und 14,7 % manchmal, dass gewünscht wurde, sie seien tot. 6 % wurden häufig und 14,2 % manchmal mit einem Gegenstand geschlagen. 10,7 % wurden häufig und 28,5 % manchmal gestoßen, gepackt oder getreten. 0,9 % wurden häufig und 2,5 % manchmal mit einem Messer oder einer Schusswaffe bedroht. 5,1 % beobachteten häufig und 12 % manchmal, dass Erwachsene Zuhause geschlagen oder verletzt wurden.
Die meisten mir bekannten Gewaltstudien zeigen, dass elterliche Gewalt deutlich häufiger jüngere Kinder trifft, als Jugendliche. Insofern ist davon auszugehen, dass diese befragten Jugendlichen als Kinder sogar noch mehr Gewalt erlebt haben, als sie im aktuellen Kontext angaben.“
„Für eine große Studie wurden 9.767 Männer und Frauen (18-59 Jahre alt) in Ägypten, Palästina, Marokko und im Libanon u.a. auch zum Umgang mit ihren eigenen Kindern innerhalb von vier Wochen (das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder dürfte also über einige Jahre hinweg betrachtet deutlich höher sein!) befragt. 79 % der ägyptischen Mütter und 41 % der Väter schlugen ihre Kinder. 11 % der ägyptischen Väter und 44 % der Mütter schlugen ihre Kinder mit Gegenständen. Im Libanon schlugen 53 % der Väter und 47 % der Mütter ihre Kinder; 22 % der Väter im Libanon und 26 % der Mütter schlugen ihre Kinder mit Gegenständen. In Marokko schlugen 29 % der Väter und 72 % der Mütter ihre Kinder. 15 % der marokkanischen Väter und 43 % der Mütter schlugen ihre Kinder mit Gegenständen. 47 % der palästinensischen Väter und 70 % der Mütter schlugen ihre Kinder. 25 % der palästinensischen Väter und 37 % der Mütter schlugen ihre Kinder mit Gegenständen.“
Kindheiten von Gewalt- und Straftätern
„Ein Großteil der Eltern der Gewalttäter übt eine massiv gewalttätige Erziehung aus…. Ca. zwei Fünftel der befragten Täter hatte eine Zeitlang im Heim verbracht. 43 % der Gewalttäter berichteten von Prügel (also schwerer Gewalt) seitens der Mutter, 62 % von Prügel von Seiten des Vaters. Manchmal wurde dabei von folterähnlichen Strafen berichtet, wie z.B. dem Untertauchen in Wasser. Dazu kamen leichtere Körperstrafen wie Ohrfeigen und Klapse, die allerdings im Verhältnis zur Durchschnittsbevölkerung seltener berichtet wurden (offensichtlich, weil schwere Gewalt in den Familien der rechten Gewalttäter überwog). In der Gefühlswelt der Gewalttäter dominierten Angst, Unsicherheit, Trauer, Wut und Hass, gepaart mit Verhaltenstendenzen in Richtung Provokationen und Aggressionen.“ … „Die gewalttätigen Gruppen bieten einen Ort, an dem und aus dem heraus die bei vielen schon seit der Kindheit beobachtbaren Aggressionsneigungen ausgelebt werden können, gerade im Schutze der Clique. Auch die sozialen und emotionalen Erfahrungen aus der Kindheit dürften eine wichtige Rolle als Motiv zum Einstieg in fremdenfeindliche und rechtsextreme Gruppen spielen. Angst und Wut, die angesichts gewalttätiger Eltern wuchs, findet in der Gruppe eine kompensatorische Möglichkeit als Hass auf Minderheiten ausagiert zu werden. Aus der Kindheit mitgebrachte Trauer, Außenseiter- und Einsamkeitsgefühle werden durch Gruppen-Spaß (Partys, Alkohol, Konzerte) im Wir-Gruppen-Gefühl und durch Akzeptanz in der Clique aufgehoben. Aus kindlicher Ohnmacht wird Teilhabe an der Macht der militanten Gruppe.“ Und „Skinhead- und andere Gruppen im fremdenfeindlichen und rechtsextremen Lager spielten eine enorme emotionale und motivationale Rolle für die Täter – als Ersatzfamilie oder zweite soziale Heimat.“
„Llyod deMause … hat außerdem darauf hingewiesen, dass beispielsweise Gewalt durch den Partner gegen die schwangere Mutter, Rauchen und Alkoholkonsum etc. aber auch schwere Angstzustände der Mutter destruktive Auswirkungen auf den Fötus und auf das spätere Leben haben können; er nennt dies „Fötales Drama“.. DeMause geht davon aus, dass sich Angstzustände und der Kampf des Fötus gegen Vergiftungen (Alkohol etc.) später in der Gesellschaft wieder aufführt (allerdings logischerweise nicht bewusst, da dies vorgeburtliche Erfahrungen sind).. Fest steht jedoch, dass auch dieser Belastungsfaktor innerhalb von standardisierten Studien (z.B. über Gewaltstraftäter) in der Regel nicht erfasst wird. Man könnte allerdings von einer hohen Wahrscheinlichkeit von Gewalt auch gegen die schwangere Mutter ausgehen, wenn die Befragten von genereller häuslicher Gewalt vom Vater gegen die Mutter berichten. Generell wird für die meisten Länder laut Studienlage von einer häuslichen Gewaltrate zwischen 4 und 9 % gegen schwangere Mütter ausgegangen.
„{Der Kriminologe} Gilligan bezeichnet die von ihm befragten Mörder als Untote, was deren Selbstdefinition wiederspiegelt. Diese Männer erlebten derart brutale Misshandlungen in ihrer Kindheit, dass sie sich leer und innerlich tot fühlten. Sie fühlten nichts mehr, außer, wenn sie sich selbst oder jemanden anderen Gewalt antaten. Ihre Identität existierte nicht. Manche freuten sich auf den körperlichen Tod, der durch die Verurteilung zum Tode bevorstand. Er käme einer Erlösung gleich. Viele Mörder brachten sich auch selbst im Gefängnis um.“
Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Mattes, Heidelberg. Ca. 400 S., Februar 2019, ca. 20,- Euro.
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