In seinem Roman „Der Paradiesgarten“ spürt Karl Sewart dem Ende des Paradieses der Kindheit nach. Und wie wird man eigentlich erwachsen? Einen ganz ähnlichen Titel hat Renate Krüger für ihr ganz besonderes Tagebuch gefunden. „Paradiesgärtlein“ hat sie es genannt. Und das Paradiesgärtlein ist ein Spiel und zugleich mehr als ein Spiel … Aber mehr dazu am Ende dieses Newsletters.
„Glück soll dauern“ präsentiert eine umfangreiche Auswahl aus dem Werk des Dichters Helmut Preißler.
Mit zwei Bücher ist Ingrid Möller in diesem Newsletter vertreten, zum einen mit „Schicksalsnovellen über Malerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts“ und zum anderen mit „Eine Mutter im Himmel und eine auf der Erde“, in dem ein Kind erfährt, dass es adoptiert wurde.
Und damit zum ersten Paradies des heutigen Angebotes.
Erstmals 1987 erschien beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig der Roman „Der Paradiesgarten“ von Karl Sewart: Das Paradies der Kindheit ist vorüber. Das Erwachsenwerden muss mit schwierig-schönen Erfahrungen bestanden werden. Ein altes Thema der Literatur, das hier auf überraschend originelle und poetische Weise ausgeschritten wird. Karl Sewart erzählt in seinem Roman von dem Erwachsenwerden eines Jungen. Im Verlauf eines Jahres und dem Wechsel der Jahreszeiten löst sich der Junge, der in einer kleinen dörflichen Welt lebt, aus seinen Kindheitsträumen. Er entdeckt seine Gefühle und mit ihnen eine andere Lebensphase. Sewarts Prosa lebt dabei aus einer Tradition, die Natur und Landschaft zu Bildern für die seelischen Vorgänge werden lässt. In einer beziehungsreichen, genauen Sprache entstehen dabei Geschichten von poetischem Reichtum. Diese Buch ist ein Roman, der die Ruhe des Lesens braucht, aber der den Leser auch zur Begegnung mit der eigenen Kindheit und ihrer Unvergesslichkeit führt und damit zum Nachdenken über sich selbst. Hier ein Auszug über den Auszug aus dem Paradies:
„Und plötzlich wusste er, dass er gehen musste. Dass er nicht länger hierbleiben konnte. Dass er nicht in diese Stube, zu diesen Menschen gehörte ..: Dass er hinaus gehörte, in die große, freie, abenteuerliche Welt … Und er nahm sich vor, er schwor es sich, die nächste Gelegenheit wahrzunehmen, um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen …
Er erhob sich aus dem alten, durchgesessenen Lehnstuhl, der noch von der Großmutter stammte. Er schlug das Buch zu – als ob schon in diesem Augenblick sein großer, endgültiger Aufbruch gekommen sei.
In ihrer Ungeduld brachte die Mutter schon die Kleidung für den Vater und ihn herbei. Im Handumdrehen hatte sie ihnen auch ein paar Brote für unterwegs zurechtgemacht. Er nahm Joppe und Mütze und Wegzehrung entgegen, als ob er sich bereits Hunderte von Meilen entfernt befinde. Und als ob er diese Frau niemals vorher zu Gesicht bekommen hätte, als ob sie irgendein Farmer- oder Bürgersweib wäre, von der er, der erfahrene Tramp, sich gerade die nötigen Klamotten und den Proviant für seinen nächsten Trip erfochten habe.
Und der Vater, der war irgendein ganz treuherziger, doch hinterwäldlerischer Bursche, der ihn aus purer Neugier und primitiver Hilfsbereitschaft ein Stück begleiten wollte, um ihm den Weg zur Eisenbahnstrecke zu zeigen, und von dem er seinerseits aus lauter Freundlichkeit den kleinen Gefallen annahm. Denn er hatte es gar nicht nötig, sich von irgendjemandem den Weg zum Schienenstrang zeigen zu lassen, schon gar nicht von einem, der selber noch nie aus seinem weltabgeschiedenen Nest herausgekommen war. Oder er war der Hilfssheriff des Ortes, dem er vom Zugpersonal, das ihn in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit überrumpelt und gefeuert hatte, übergeben worden war und der ihn nun in die nächste Stadt ins Gefängnis abführen sollte … Doch er würde ihm unterwegs entwischen. Er würde ihm ein Schnippchen schlagen, ihn überrumpeln, sich zurück zur Bahnstrecke durchschlagen und den nächsten Fernzug entern. Und wenn er dann das Stampfen der Lokomotive und das Rattern der Pullmanwagen und das Stoßen der Schienen unter sich hörte, hätte er diesen Zwischenfall, dieses kleine Missgeschick, durch das er für wenige Stunden in das verlorene Dorf dahinten gekommen war, vergessen …
Der Vater und er hatten sich angezogen und den Proviant verstaut. Als sie sich zum Gehen wenden wollten, rührte sich plötzlich der Kleine. Er wolle auch mitgehen, rief er. Er wolle nicht in der langweiligen Stube bleiben. Er wolle mit dem Vater und dem Großen wandern gehen.
Die Mutter erklärte ihm, dazu sei er noch zu klein. So eine Tour sei noch zu anstrengend für ihn, da mache er unterwegs schlapp.
Auch der Vater versuchte, ihn zu beruhigen.
Da warf der Kleine seine Holzpferde um und heulte und schrie los, dass er mitgehen wolle, sodass sich die Eltern gar keinen Rat mehr wussten.
Ohne dass er sich dessen recht bewusst wurde, ohne es eigentlich zu wollen, wandte er sich da zu dem Kleinen. Und er hörte sich selbst zu dem Kleinen sagen, hörte sich das sagen, als ob es ein anderer sagte: Dass er, der Kleine, nächstes Jahr bestimmt groß genug sei. Dass er nächstes Jahr mit dem Vater mitgehen könne …
Und es war merkwürdig: Der Kleine war sofort still. Und er sah auf und blickte den großen Bruder an, als ob er ihn begriffen hätte …
Und auch die Eltern sahen ihren Großen erstaunt, verwundert an …
Er hatte sich indessen endgültig zum Gehen gewandt, die Hand schon auf die Türklinke gelegt, den Fuß schon auf die Schwelle gesetzt. Da fing es plötzlich an, in seinen Ohren zu rauschen und zu brausen, zu stampfen und zu rattern, zu stoßen und zu dröhnen … Die Tür vor seinen Augen begann zu verschwimmen, sich aufzulösen … Es war, als ob er durch die Holzfüllung hindurchblicken könne. Und er sah einen Schienenstrang sich in die Ferne ziehen. Und ihm war, als befände er sich auf einem mit unglaublicher Geschwindigkeit davonrasenden Zug, von dem es kein Abspringen gäbe, der mit ihm auf Nimmerwiedersehen irgendwo im Dunst der Ferne verschwinde. Endlose Ebenen tauchten vor ihm auf, nackte Felswände ragten steil vor ihm empor, bodenlose Abgründe gähnten unter ihm. Und er sah sich in riesigen Städten, inmitten unbekannter Menschen, die ihn mit kalten, abweisenden, verständnislosen, spöttischen, feindseligen Gesichtern anblickten. Er glaubte fremde Stimmen zu hören, unbekannte Worte, Spottreden, Hohnlachen, Schweigen … Er sah sich in einer einsamen Dachkammer, allein, verlassen, sah sich in Wind und Regen, in Kälte und Sturm in einem Hinterhof, unter einer Brücke liegen, und kein Mensch fragte nach ihm, kümmerte sich um ihn, gab ihm Obdach, ein Stück Brot, einen Schluck Wasser, kein Mensch weit und breit verstand seine Sprache, begriff seine Art, achtete seine Wünsche, seine Gedanken …
Ihm war, als ob ihm ein eisiger Wind ins Gesicht wehe, ihn durchdringe, ihn erstarren, erfrieren lasse. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, wie ausgedörrt, als ob er seit undenklichen Zeiten keinen Bissen gegessen, keinen Tropfen getrunken habe, als habe er seit einer Ewigkeit kein freundliches Wort mehr gehört, kein Wort mehr gesprochen … Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen des Vaters, der Mutter näherkommen, ihre besorgten Fragen, Worte, bis er sie endlich verstand, bis er begriff, wo er sich befand. Er war versucht zu antworten, es gehe ihm nicht gut. Ihm sei schwindlig, er fühle sich schwach … Es wäre keine Lüge gewesen …
Und er sah auch schon vor sich, wie die Mutter den Besen in die Ecke stellte und Bettdecke und Kopfkissen aus der Schlafkammer holte und ihm das Sofa zurechtmachte, wie sie Haferflockensuppe und Lindenblütentee für ihn kochte und ihm Bienenhonig heiß machte und Aloeblätter einschnitt. Und der Vater nahm den Hut wieder ab, zog seinen Lodenmantel und die Schuhe wieder aus und setzte sich mit dem Schachspiel und einem Buch zu ihm und stellte die Figuren auf und las ihm vor wie in alten Zeiten …“
Erstmals 2015 erschien als Eigenproduktion der EDITION digital der umfangreiche Sammelband „Glück soll dauern und andere Gedichte“ von Helmut Preißler: Über 500 Gedichte aus dem umfangreichen lyrischen Schaffen von Helmut Preißler sind in diesem Band vereint und geben einen guten Einblick in das Gesamtwerk des Dichters. Man findet Natur- und Liebeslyrik, Gedichte über Musiker und Maler, satirische Postleitzahlenlimericks, aber vor allem politische Gedichte, die von Antifaschismus, Antimilitarismus und Antiimperialismus geprägt sind. Helmut Preißler blieb bis zu seinem Tode dem Sozialismus in der DDR treu und so spiegeln seine Gedichte auch das Leben in der DDR und seine kommunistische Grundhaltung wider. Der Band ist ein Zeitdokument, weshalb bewusst keine Auswahl getroffen wurde. So findet man auch die Befürwortung des Mauerbaus, die Würdigung der Grenzsoldaten und scharfe Kritiken an der Politik der Bundesrepublik. Hier eine kleine Auswahl aus dem großen Angebot. Geboten werden einige seiner Song-Texte aus den Jahren 1957 bis 1971:
„Freundliche Empfehlungen für Spießer
- Für naive Spießer
Pflegt treu die alten Bräuche und die Etiketten
und achtet peinlich auf die Rangverschiedenheiten,
befolgt Herrn Knigges Regeln noch in Ehebetten,
beweint und konserviert die guten alten Zeiten
und lasst auf keinen Fall die fortgeschrittne Jugend
an eure plüschgeweihte stolze Tugend!
Hängt weiter bunte Blümchenbildchen an die Wände
und legt adrett gestickte Deckchen auf die Tischchen,
versargt im Nussbaumschrank die Goethe-Goldschnitt-Bände,
lebt dem Kanarienvogel und den goldnen Fischchen
und lasst auf keinen Fall die bösen roten Buben
in eure plüschgeweihten guten Stuben!
Schwört auf den Rommékreis und eure Stammtischrunde,
ehrt nur die Tradition verwandtschaftlicher Feste,
verabscheut Politik aus tiefstem Herzensgründe,
seid stolz auf euern Bauch und eure weiße Weste
und lasst auf keinen Fall von bösen Aufgeklärten
euch eure plüschgeweihte Welt entwerten!
Lass euch auch weiterhin von euren trauten Frauen
das Pfeifchen stopfen und die Filzpantoffeln wärmen,
fahrt fort, dem lieben Gott und seinem Stab zu trauen,
erforscht das Kommende aus Kaffeesatz und Sternen
und lasst auf keinen Fall die bösen Funktionäre
in eure plüschgeweihte Lebenssphähre!
[*] Für intellektuelle Spießer
Bewegt euch immer in den exklusivsten Räumen,
umgebt euch jederzeit mit den modernsten Dingen,
zwingt euch, im tiefsten Traume noch abstrakt zu träumen,
verkneift euch unbedingt, ein Wanderlied zu singen!
Lasst euch auf keinen Fall von frechen Jugendchören
in eurem geistgeweihten Schweben stören!
Verschließt dem Taggeschehen eure Villentore,
bleibt in der Einsamkeit der Intellektuellen,
was andern Lenin ist, das bleib für euch Tagore,
was auf den Füßen steht, sucht auf den Kopf zu stellen,
und lasst auf keinen Fall durch Arbeiter und Bauern
euch euer geistgeweihtes Sein versauern.
Pflegt euren Künstlerklub und eure Musenrunde,
verabscheut Tradition und kollektive Bande,
macht Bartischpolitik und träumt vom Menschheitsbunde,
seid stolz auf euern Geist, belächelt die vom Lande
und lasst auf keinen Fall von dummen Aufgeklärten
euch eure geistgeweihte Welt entwerten!
Seid für die freie Welt und für die freie Liebe,
bekämpft die Ehe und die bürgerlichen Sitten,
erklärt zum Grundproblem die sexuellen Triebe,
bemüht euch, Klassengegensätze zu verkitten,
und lasst auf keinen Fall die bösen Funktionäre
in eure geistgeweihte Lebenssphäre!
Klasseneinmaleins
Das merken Kinder meist verhältnismäßig schnell:
Ob Hunde bissig sind, erkennt man nicht am Fell.
Ob Nüsse wertlos sind, verrät die Schale nicht.
Ob Freund, ob Feind sich zeigt, sieht keiner am Gesicht.
Doch bringt ein Irrtum hier sehr oft den Tod.
Nur wer da gründlich prüft, kommt nicht in Not.
Das kann kein Mensch bestreiten,
weil das nun mal so ist;
drum kümmre dich beizeiten,
wenn du im Zweifel bist!
Das hat sogar ein Kleinkind meist sehr bald erkannt:
Ein Raubtier streicheln kostet wenigstens die Hand.
Bei einem Steppenwolf verfängt kein Schmeichelton;
die Bestie will dich fressen, denn sie lebt davon.
Das Vieh bekehrt kein Gott, kein Missionar,
wer waffenlos im Dschungel war, der war.
Das kann kein Mensch bestreiten,
weil das nun mal so ist;
drum kümmre dich beizeiten,
wenn du noch wehrlos bist!
Das ist seit Menschengedenken so für jedermann:
Wer sich bei Frost entblößt, ist mächtig übel dran.
Und wer zum Feinde ohne Waffen geht,
der braucht ’nen Engel, dass er ’s übersteht.
Und selbst die Engel scheinen nicht immun,
wenn Teufel ihnen lieb und zärtlich tun.
Das kann kein Mensch bestreiten,
weil das nun mal so ist;
drum lerne es beizeiten,
und – dass du’s nie vergisst!
Die Sache mit der Wirkung
Es sind uns manche Leute gar nicht grün,
weil alles, was uns dient, ihr Schaden ist.
Hingegen unsre Schwäche macht die Leute kühn,
ein falsches Wort von uns lässt ihren Weizen blühn.
Sie düngen ihren Grund mit unserm Mist.
Drum muss man sich die Leute gründlich anschaun.
Drum frage man sich immer, wem was nützt.
Drum darf man nicht in jede Kerbe reinhaun,
sonst fällt man mit dem Ast, auf dem man sitzt.
So manche Leute können reizend sein:
sie hätscheln dich und sind stets für dich da.
Sie sind sehr höflich, freundlich, geistreich und sehr fein
und sagen, du seist unfrei, und wolln dich befrein,
doch sagst du ja, stehst du mit Ohne da.
Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.
Drum frag bei jedem Ratschlag, wem er nützt!
Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,
sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.
Die Leute schimpfen auf dein neues Haus.
Dein Haus hat Mängel, und du stimmst mit ein.
Doch so ermutigt, packen sie den Sprengstoff aus,
und während du noch jammerst, sprengen sie dein Haus,
um dich von seinen Mängeln zu befrein.
Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.
Drum frag bei der Kritik stets, wem sie nützt.
Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,
sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.
Die Leute rufen nach dem „freien Wort“.
Das scheint in deinem Sinn, und du stimmst ein.
Doch wenn ihr Wort dann frei ist, hetzen sie zum Mord.
Dann poche du nur auf dein vogelfreies Wort:
sie schlagen dir den klugen Schädel ein.
Drum musst du dir die Leute gründlich anschaun.
Drum frag bei jedem Worte, wem es nützt.
Drum darfst du nicht in jede Kerbe reinhaun,
sonst fällst du mit dem Ast, auf dem du sitzt.
Die Sache mit der Menschlichkeit
Man soll als Mensch auch schwache Menschen lieben,
von allen Schwächen ist ja niemand frei.
Und schon Herr Goethe hat so schön geschrieben,
dass jeder Mensch recht gut und hilfreich sei.
Doch wenn die Bösen roh sind
und die Güte falsch verstehn,
da muss die Liebe flöten gehn,
dann kommt’s drauf an, wer – wen!
Man soll als Mensch die Feigen nicht verachten.
So mancher Feige zeigte lieber Mut.
Man muss die Sünder rücksichtsvoll betrachten,
die meisten Sünder sind sich selbst nicht gut.
Doch wenn die Feigen hetzen
und die Sünder Recht verdrehn,
da muss die Rücksicht flöten gehn,
dann kommt’s drauf an, wer – wen!
Die Seelenkranken sind nicht zu beneiden,
drum muss man immer nett zu ihnen sein.
Und weil die Zweifler durch das Zweifeln leiden,
soll man die Zweifel ihnen auch verzeihn.
Doch wenn die Kranken prahlen
und die Zweifler Zwietracht sän,
da muss die Duldung flöten gehn,
dann kommt’s drauf an, wer – wen!
Man soll als Mensch auch dumme Menschen lieben,
ach, mancher Dumme wäre lieber klug.
Man muss die Trägen liebreich vorwärts schieben,
auch manchem Trägen geht’s nicht schnell genug.
Doch wenn die Dummen bocken
und die Trägen störrisch stehn,
da muss die Liebe flöten gehn,
dann kommt’s drauf an, wer – wen!
Der Mensch muss menschlich sein und menschlich bleiben.
Wer ungern menschlich ist, ist auch nicht gut.
Nur darf man Menschlichkeit nicht übertreiben.
Leicht wird unmenschlich, was zu menschlich tut.
Denn wenn Verbrecher drohen
und die Mörder auferstehn,
dann ist die Schonung – Massenmord!
Dann kommt’s drauf an, wer – wen!
An die Unpolitischen
Die meisten Menschen sind im Wesen gut.
Sie haben Mitleid mit der Not der Armen.
Sie sind bereit, sich ihrer zu erbarmen,
und tun dem Bettler etwas in den Hut.
Und trotzdem stirbt das Elend nicht durch sie.
An ihrer Güte mästen sich die Fresser,
und durch ihr Gutsein wird die Welt nicht besser;
die Ärmsten leben weiter wie das Vieh.
An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,
dass es nicht reicht, wenn man stets wohlgetan,
und dass nicht zählt, wenn man euch gütig nennt;
gezählt wird nur die Tat, die jedermann
ein Leben schafft, in dem er gut sein kann.
Die meisten Menschen scheun die Arbeit nicht.
Sie schuften unentwegt wie Arbeitsbienen.
Sie lernen die Maschinen zu bedienen,
erfüllen gut und gründlich ihre Pflicht.
Und trotzdem kommt die Menschheit schwer vom Fleck.
Man nutzt den Fleiß, das Elend zu vermehren,
Erfindergeist, um Welten zu verheeren,
denn jedes Ding dient dem und jenem Zweck!
An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,
dass es nicht reicht, wenn man vor Eifer schwitzt,
und dass nicht zählt, wenn man euch fleißig nennt;
gezählt wird nur die Tat, die Menschen nützt,
die Herrscher schwächt und Volkes Herrschaft stützt.
Die meisten Menschen meiden die Gewalt,
sie leben friedlich, wünschen keinem Schlechtes,
erziehen Kinder, lehren sie was Rechtes
und werden so in Ehren grau und alt.
Und trotzdem droht der ganzen Menschheit Krieg.
Atomraketen liegen aufgeschichtet,
die Abschussbasen sind lang eingerichtet,
und Millionärsminister wollen Krieg.
An diesem Fakt, ich bitte euch, erkennt,
dass es nicht reicht, wenn man stets Frieden hält,
und dass nicht zählt, wenn man euch friedlich nennt;
gezählt wird nur die Tat, die für die Welt
den Frieden mit erschafft und ihn erhält.“
Im selben Jahr 2015 veröffentlichte Ingrid Möller ebenfalls als Eigenproduktion der EDITION digital ihr Buch „Schicksalsnovellen über Malerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts“: Jedes Jahrhundert hat seine Probleme und Konflikte. Das zwanzigste Jahrhundert setzte in den hochtechnisierten Teilen der Welt in totalen Kriegen entsetzliche Waffen ein – wie die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, deren Zerstörungskraft selbst die systematischen Bombenabwürfe über Großstädten weit übertreffen. Wie Überlebende hier trotz allem Mut fassen, zeigt das Beispiel der alten Bauernfrau Suma Maruki (1872-1956). An ihr, der Analphabetin, die in ihrem kargen Leben nie einen Schreibgriffel in der Hand gehalten hatte, vollzieht sich das Wunder, dass sie plötzlich feststellt, dass sie ein Talent zum Malen hat.
Ein weiterer Wahnsinn, durch den unzählige Menschen verfolgt, gepeinigt, und systematisch in Vernichtungslagern getötet wurden, war das NS-Regime, das sich vor allem gegen Juden richtete. In der Vorahnung, dass auch sie nicht verschont bleiben würde und an der Côte d’Azur nicht sicher sei, malt und schreibt die junge Charlotte Salomon ihre Biografie auf, verschnürt die vielen Blätter in einer Kiste und gibt sie einem befreundeten Arzt mit den Worten: Heben Sie es gut auf, dies ist mein Leben! Ihr Schicksal ähnelt dem der Anne Frank. Bald darauf wird sie verschleppt nach Auschwitz, wo sie 1943 umkommt. Was aber bleibt und später veröffentlicht wird, ist ihr künstlerischer Nachlass.
In die revolutionären Wirren ihrer Zeit ist die Mexikanerin Frida Kahlo (1907- 1954) verstrickt, besonders durch ihren Ehemann Diego Rivera. Doch ist ihr Leben überschattet durch private Schicksalsschläge, Krankheiten und zahlreiche Operationen. Lange Zeiträume ans Bett gefesselt, entgeht sie der Verzweiflung durch ihre Malerei. Während Rivera große Wandgemälde gestaltet, hebt sich ihre Kunst völlig von der seinen ab, zwangsläufig schon dem Format nach, aber auch in der Feinheit der Ausführung und dem Inhalt, der stets um ihre Leiden und ihr berühmt schönes Gesicht kreist. Die Vorbereitung einer Ausstellung wird zu einem nachdenklichen Rückblick auf ihr Leben.
Die zunehmende Macht der faschistischen Kulturpropaganda wird der Deutschen Kate Diehn-Bitt (1900-1970) zum Problem. Glücklich über die professionelle Ausbildung zur Malerin in Dresden, zurückgekehrt nach Rostock, wo sie ein eigenes Atelier eingerichtet hat und voller Zukunftspläne steckt, wird ihr die Teilnahme an Ausstellungen verwehrt und durch das Verbot, Malmaterialien zu kaufen, jede Perspektive genommen. Die Begründung: ihr jüdischer Stiefvater. Die Reichskristallnacht lässt sie Schreckliches ahnen …
Als Farmerstochter wuchs Georgia O’Keeffe (1900-1996) in Wisconsin/USA auf. Ihr künstlerisches Talent wurde von der Mutter gefördert. Erst Zeichenlehrerin, gelangte sie zur Ausbildung an Akademien. Schließlich stellte sie ihre Werke in die Galerie des Fotografen Alfred Stieglitz in New York aus, der ihre Popularität förderte und sie heiratete. Sie aber konnte nicht dauerhaft in New York leben, war an weiträumige offene Landschaften gewöhnt. Ihre Wahlheimat wurde New Mexico.
Fünf Schicksale, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sind in diesem Band erzählt. Sie alle vereint die Durchsetzungskraft der Malerinnen, die unter ganz besonderen Bedingungen zum Ziel kommen, nicht ohne Hindernisse, aber doch jede auf ihre sehr besondere und unverwechselbare Art. Einen Einblick in das Buch vermittelt der Beginn des Beitrages über Frida Kahlo:
„Die Retrospektive. Frida Kahlo (Mexiko-Stadt 1953)
Die gute Nachricht lässt für eine Weile alles andere vergessen. Die Schmerzen. Die Niedergeschlagenheit. Die Todesnähe. Eine Ausstellung soll es geben, nur mit ihren Bildern! Eine richtige Retrospektive, ein Rückblick auf ihr gesamtes Schaffen und damit auf ihr Leben, ihre Freuden und Leiden. Wohl selten bei einem Künstler ist das alles so eng miteinander verquickt wie bei ihr.
In der Galeria de Arte Contemporaneo soll es sein. Bald. Im April. Unter der Federführung von Lola Alvarez Bravo. Überall in Mexiko-Stadt werden die Plakate hängen und mit großen Lettern verkünden: FRIDA KAHLO-Ausstellung. Wie lange hat sie davon geträumt! Endlich wird sich dieser Traum erfüllen. Die Kunstwelt wird herbeiströmen, die Zeitungen darüber berichten, wie einst in New York und in Paris.
Frida liegt mit geschlossenen Augen da. Genau kann sie sich das alles vorstellen. Einzelne Gesichter. Teils bewundernde, teils schockierte Blicke. Es wird noch einmal ein großes Finale geben, bevor – Frida streckt die Hand hoch und lässt das lebensgroße Gerippe an ihrem Betthimmel zappeln – „bevor ich mich dir kampflos ausliefern werde.“
Eigentlich waren die meisten Jahre ihres Lebens eine Zwiesprache, wenn nicht ein Ringen mit dem Tod. Auch wenn sie als Mexikanerin seit Kindesbeinen gelernt hat, ihn nicht ernst zu nehmen. Spielzeug war er, Puppe. Und zum Neujahr schenkt man sich seit jeher Totenschädel aus Marzipan mit Zuckerguss, die dann ganz ohne Gruseln genüsslich verzehrt werden. So will es die Tradition. Das Kokettieren mit dem Tod ist ihr geblieben, auch nachdem sie zu unzähligen Malen seinen grausamen Eiseshauch als Realität gespürt hat.
Hier im Vorort Coyoacan hat ihr Leben begonnen und hier wird es enden. Vom Bett aus sieht sie den Garten. Es regnet. Große Luftblasen schwimmen auf dem Teich. Die alten Steinfiguren aus präkolumbianischer Zeit sind blank gewaschen. Sie glänzen ebenso wie die großblättrigen üppigen Pflanzen. Die Tauben gurren in den eingemauerten großen Tonvasen. Frida liebt diesen Garten und sie mag den Regen. In einem Klima von so trockener Hitze kommt die Regenzeit wie eine Erlösung.
Die Ausstellung! Immer wieder kehren ihre Gedanken dorthin zurück. Ihr Name groß auf einem Schriftband über dem Eingang – das muss sie noch erleben, und wenn sie bis zum Halskragen voll Morphium gepumpt werden muss! Das wird ein Festtag sein! Staunen sollen die Eintretenden. Eine ganz andere Frida werden sie dort erleben als die von den Klatschspalten und Partys, nicht nur die Frau der Selbstinszenierung, voller Eitelkeit und Stolz, Spott, Frivolität und extremer Vitalität. Nein, in der Ausstellung werden sie hinter der Maske eine zutiefst verletzbare und immer wieder verletzte Seele finden. Denn sie hat gemalt, was eigentlich nicht als malbar gilt, all das Unaushaltbare, das ihr das Leben im Übermaß aufgebürdet hat. Sie hat eine Selbstentblößung gewagt, bei der das Innerste nach außen gewendet wird, alles, was sonst im Verborgenen rumort: Ängste, Nöte und Schmerzen. Dennoch kann ihr niemand vorhalten, dass sie ein Klageweib sei. Immer triumphiert der Selbstbehauptungswille, der Stolz, das Trotzalledem. Jetzt, so kurz vor dem Ende, ist der richtige Zeitpunkt für die Generalbeichte.
Sie reckt sich und verzieht das Gesicht. Das Gipskorsett drückt. Der eiternde Fuß schmerzt. Die Wirkung der Spritzen lässt nach. Krampfhaft malt sie sich die Vernissage genauer aus: Schon vorher soll dieses Bett mit dem ganzen Firlefanz der Skelettpuppen, Papierblumen und den vielen Fotos in die Galerie gebracht werden. Erst kurz vor der Ausstellungseröffnung wird ein Krankenwagen mit Blaulicht vorfahren und man wird sie hintragen zu dem Bett, angetan mit dem schönsten Tehuanakleid, dem aufwendigsten Schmuck und der sorgfältigsten Schminke. Ein überraschtes Murmeln wird ihr bestätigen, dass sie immer noch als umwerfend schön gilt.
Solche Fantasiebilder tun gut. Endlich hat sie wieder ein Ziel, ein greifbar nahes Ziel, das es anzusteuern gilt. Nun, wo ihr das Malen schon längst nicht mehr möglich ist und selbst das Schreiben anstrengt. Bis in die kleinste Einzelheit muss alles stimmen. Ganz wichtig ist die Auswahl der Bilder und die Reihenfolge ihrer Hängung.
Frida horcht hinaus auf das gleichmäßige Rauschen des Regens. Es hat etwas Beruhigendes und Einschläferndes. Alles verschwimmt im Kopf. Sie kann ihre Gedanken nicht mehr festhalten. Sie entgleiten ihr. Doch plötzlich fallen die entsetzlichen Schmerzen wieder über sie her. Ihr Stöhnen und Wimmern weckt die Krankenschwester im Nebenzimmer. Die weiß, was zu tun ist, denn so geht es schon lange.
Sehr, sehr allmählich kehrt das Bewusstsein zurück. Schwäche und Betäubungsmittel halten Frida in einem Schwebezustand, in dem Reales und Irreales sich vermischen. Warum ist Diego nicht bei ihr? Warum muss sie in den schlimmsten Momenten immer allein sein! Verzweifelt ruft sie nach ihm. Und dann wird ihr wieder schwarz vor Augen. Die Schwester legt ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. „Beruhigen Sie sich, bitte. Gleich wird es Ihnen besser gehen. Sie werden lange schlafen!“
Die Stimme dringt nicht vor in Fridas Bewusstsein, aber im Dämmerzustand spürt sie die Spritze. „Hierbleiben!“, flüstert sie mit schwacher Stimme, ohne die Augen zu öffnen. Nur nicht allein sein!
Das Zeitgefühl geht verloren in solcher Lage. Sind Minuten, Stunden, sogar Tage vergangen? Mitunter weiß Frida es nicht. Sobald sie wieder dazu in der Lage ist, zwingt sie ihre Gedanken, die Auswahl für die Ausstellung zu treffen. Mitunter tauchen einzelne Bilder wie aus einer wogenden Brandung auf. Frida schickt sie zurück oder versucht, sie herauszuziehen.
In den klaren Momenten wird ihr deutlich, dass ihre Gemälde fast alle nur ein Thema haben: Frida Kahlo. Sehr viele sind Selbstbildnisse. Der Vorwurf wird nicht ausbleiben, dass sie egozentrisch sei, nur an sich selbst interessiert.
Bin ich’s denn? fragt sie sich. Nein, meine Freunde kennen mich anders, wissen, dass Not und Elend anderer mich krank machen, dass ich immer zu helfen versuchte, wo es mir möglich war, dass ich Ungerechtigkeiten nicht leiden kann, dass ich die Menschheit in ihrer Gesamtheit glücklich sehen möchte, nicht nur eine kleine Oberschicht. Ja, sie wissen auch, dass ich mich in die Politik eingemischt habe. Wenn auch nicht – wie mein Diego – in der Kunst. Bevor ich überhaupt nichts tat, wollte ich wenigstens ein wenig tun. Ob es immer an der richtigen Stelle war und ob es jemandem genützt hat, mag eine offene Frage bleiben. Ich liebe die Menschen, und das wissen sie.
Trotzdem, diese Bilder – fast immer ich!
Mühsam stützt Frida sich auf einen Ellbogen und überblickt die Bilder, die rundherum an den Wänden lehnen. Manche überdecken sich teilweise, weil sie nicht nebeneinander Platz haben. Trotzdem weiß sie genau, um welches Bild es sich handelt. Verwechslungen sind nicht möglich, denn alle sind präzise gemalt bis in die äußersten Ecken, mit spitzem Pinsel wie bei den alten Meistern, mitunter sogar auf Kupferplatten. Ganz anders als Diegos Bilder und überhaupt als die meisten modernen. Und dennoch hat Picasso einmal zu Diego gesagt, dass keiner von ihnen einen Kopf so malen könnte wie Frida Kahlo. Wenn das kein Kompliment ist!
Hinzudenken muss sie die anderen Bilder, die verschenkt oder verkauft worden sind. Sie hat die Titel auf eine Liste gekritzelt. Wie groß auch die Mühe für sie sein mag, die Liste wird die Grundlage sein für die Ausstellungsplanung. Also streicht sie aus und fügt hinzu. Sie hat sich entschieden, aller möglichen Kritik zum Trotz, gerade die Bilder zu zeigen, die sich ganz direkt auf sie und die Besonderheiten ihres Lebens beziehen. Viele Freunde kennen einzelne Bilder, aber kaum jemand alle. So aber werden sie begreifen, dass mitunter die Kunst die einzige Möglichkeit sein kann, ein Schicksal anzunehmen und zu ertragen. Probleme sind nicht weg, wenn man sie beiseiteschiebt; man muss sich ihnen stellen. Schonungslos! Alles andere wäre feige.“
Auch das zweite Buch von Ingrid Möller, das in diesem Newsletter vorgestellt wird, erschien ebenfalls erstmals 2015 und ebenfalls als Eigenproduktion der EDITION digital – „Eine Mutter im Himmel und eine auf der Erde“: Gar nicht so selten kommt es vor, dass ein Kind plötzlich erfährt, dass seine vermeintlichen Eltern nicht die wirklichen Eltern sind, sondern dass das Kind adoptiert wurde. Erwachsene mögen glauben, es sei nicht so wichtig, es rechtzeitig zu sagen, für das Kind aber kann diese Nachricht zu einem ernsten Problem werden. Nichts scheint mehr zu stimmen. Wahrheit und Unwahrheit sind in Frage gestellt. Wenn zu den inneren Kämpfen dann auch noch widrige äußere Umstände kommen – wie in Kriegs- und Nachkriegszeiten – fühlt sich ein Kind doppelt allein gelassen. Eine solche Situation schildert dieses Buch für Kinder ab 12 Jahre und für Erwachsene. Hier der Anfang des zweiten Kapitels „Die bittere Wahrheit“:
„Als Doris in die Wohnung kommt, hört sie, dass die Eltern das Radio auf superleise gestellt haben. Und schon hört sie das dumpfe Pausezeichen Bummbummbumm bum. Die ersten drei Töne gleich, der letzte tiefer. Ein Sender, der verboten ist. Frontberichte. Doris weiß, dass sie um nichts in der Welt verraten darf, dass bei ihr zu Hause dieser Sender eingeschaltet wird. Die Eltern würden „in Teufels Küche kommen“ – was auch immer das heißt. Also geht sie nicht weiter, sucht sich was Essbares in der Speisekammer und packt die Schulsachen im Balkonzimmer aus. An Hausaufgaben hat sie heute Nachmittag überhaupt noch nicht gedacht. Komisch eigentlich. Aber es gab ja auch genug Wichtigeres.
Das Problem, das ihr so viel Ärger und Kopfschmerzen bereitet hat, tritt in den Hintergrund. Wird schon nichts zu bedeuten haben! Lieber erst mal um den Stundenplan kümmern. Was ist morgen dran? Paar Rechenaufgaben. Na gut. Turnsachen einpacken. Hausaufsatz. Thema: Ein Frühlingstag. Weiß man ja, was die hören will: Veilchen am Bachesrand, Birkengrün, singende Vöglein und so weiter. Nichts einfacher als das. Die zwei Seiten sind fix fertig. Doris kann sich nur immer wundern, warum manche ihrer Freundinnen seufzen, wenn sie Aufsätze schreiben sollen. Ist doch purer Spaß. Viel besser als das doofe Rechnen.
Die Tür geht auf. „Ach, wir haben dich gar nicht kommen hören!“, sagt die Mutter, ehrlich überrascht, mit einer Spur Angst im Blick – wegen des Feindsenders. „Schon genug mit dem Ball gespielt, der dir so furchtbar wichtig war?“
„Och“, sagt Doris gedehnt, „es machte keinen Spaß mehr. Irene hat so viel dummes Zeug gequatscht.“
„Worum ging’s denn?“
„Wirst du nicht erraten. Sie hat behauptet, ihr wärt überhaupt nicht meine Eltern und meine richtige Mutter wäre tot. So’n Quatsch!“
Die Mutter zuckt merklich zusammen. Sie wird ganz blass, und ihre ohnehin großen Augen werden noch größer. Sie muss sich sammeln.
Dann sagt sie sehr ernst: „Komm, Doris, wir beide müssen was bereden.“
Merkwürdig, das sieht der Mutter gar nicht ähnlich. Sie ist immer für einen Spaß zu haben und lacht gern mal über die Macken anderer. Obgleich sie eigentlich für alle Macken Verständnis hat.
Doris geht mit ins Wohnzimmer. Hier setzt die Mutter sich aufs Sofa, lässt Doris sich danebensetzen und greift nach ihrer Hand. Warum so feierlich? Ist ja wie im Kino, denkt Doris. Da sitzen die Liebespaare auch immer Hand in Hand auf einem Sofa oder auf einer Parkbank. Zu komisch! Sie verbeißt sich das Kichern. Sie darf sich nichts anmerken lassen, denn diese albernen Filme hat sie natürlich heimlich gesehen, nachmittags bei Beate, die im Kino wohnt.
Da werden die Filme immer probeweise abgespielt, bevor ihr Onkel sie ausleiht.
„Was willst du denn mit mir bereden?“, fragt Doris. Die Mutter macht doch sonst nicht solche Umschweife.
„Kind“, fängt die Mutter langsam an und atmet schwer, „es gibt da etwas, was ich dir wohl besser schon früher hätte sagen sollen. Es fällt mir nicht leicht.“ Wieder entsteht eine Pause. Doris wartet. „Du hast schon mehrmals gefragt, wer die Frau dort drüben auf dem Foto ist, in dem ovalen Rahmen. Es ist …“ Doris ahnt, was kommen wird und starrt die Mutter mit entsetzten Augen an. Dann fallen die gefürchteten Worte: „Es ist deine richtige Mutter.“
Doris ist, als öffne sich der Boden unter ihr, als würde sie in eine tiefe Erdspalte geschleudert. So muss es beim Erdbeben sein. Jeder Halt ist weg. Nichts stimmt mehr. Kein Wort bringt sie heraus. Starrt nur die Mutter an, Hilfe suchend. Aber es kommt kein Widerruf, es muss also wahr sein.
Diese Frau ist nicht meine Mutter! hämmert es in ihrem Kopf. Immer wieder. Immer schmerzhafter. Und dann: Sie hat mich belogen. Von Anfang an belogen. Hat mich glauben lassen, sie war’s.
Das ist doch zum Verrücktwerden! Und dann gleichzeitig das Gebot: Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten! All diese Sprüche, diese faulen Sprüche! Darf man das? Ein Kind so für dumm verkaufen, weil es eben nur ein Kind ist? Wer ist sie dann wirklich?
Die Mutter hält die Starre des Mädchens für Gefasstheit und spricht langsam, unter Seufzern, weiter: „Deine Mutter ist gestorben, als du gerade erst geboren warst.“
Doris schluchzt auf. Schlagartig begreift sie: Sie ist schuld, ihretwegen musste diese schöne junge Frau sterben. Nur, weil sie geboren wurde. Das ist nun wirklich zu viel! Sie bricht zusammen und weint hemmungslos. Wie durfte das Schicksal das zulassen. Durch nichts, durch rein gar nichts wird sie diese Schuld je tilgen können. Immer, von Stund an, wird sie daran denken müssen, dass ihr Leben durch jenes andere Leben erkauft worden ist. Und sie hat die ganzen neun Jahre lustig dahingelebt, als wäre alles in bester Ordnung.
Die Mutter weint nun auch. Schon lange liegt es ihr wie ein Stein auf der Seele. Aber dass es Doris so trifft, hat sie nicht erwartet. Hilflos streicht sie ihr über das Haar, drückt diesen Kopf an sich, von dem sie wohl wissen möchte, was sich darin abspielt. „Wollen wir morgen zum Friedhof gehen und neue Blumen zum Grab bringen?“
Doris schluchzt noch lauter auf. „Nein!“, sagt sie beschwörend. Vor ihren Augen steht das Bild: die richtige Mutter, eingebuddelt in der Erde. Ihretwegen.
„Vati ist dein richtiger Vater“, sagt die Mutter, „ich bin seine Schwester, also eigentlich deine Tante. Weil Papa und ich keine Kinder haben konnten, haben wir dich als unser Kind zu uns genommen. Denn was hätte dein Vater tun sollen mit dir Säugling. Es waren ja noch deine Geschwister da. Lisette war zehn damals und Rolf sieben. Das war alles schrecklich traurig. … Paar Jahre später hat dein Vater wieder geheiratet. Deshalb sind Herta und Hubert deine Halbgeschwister.“
Doris hört und begreift jedes Wort, aber nichts von allem kann sie trösten. Der Weinkrampf hält an. Nur Unglück hat ihre Geburt der Familie gebracht! Insgeheim werden alle sie verflucht haben. Alle Freundlichkeit ist nur geheuchelt. Sie ist also Waise oder doch jedenfalls Halbwaise.
Die Mutter deutet ihre Aufregung falsch. „Wärst du denn lieber in der Familie bei Vati?“
Doch da heult Doris nur noch lauter auf. Nur das nicht! Vati bewundert sie, weil er so viel weiß, aber dass er ungerecht sein kann, hat sie auch schon erlebt. Und seine Frau – überhaupt nicht vorstellbar als Mutter. Und die kleineren Geschwister, die ihr jetzt schon ständig die gut gehüteten Spielsachen wegnehmen und absichtlich kaputtmachen – bloß nicht. Haben sie doch neulich erst ihre Puppe zerteilt und stückweise im Garten vergraben!
Sie schüttelt heftig den Kopf. „Ich wäre auch sehr traurig“, sagt die Mutter, „wenn du nicht bei uns bleiben möchtest. Du gehörst doch zu uns. Wenn du unser eigenes Kind wärst, könnten wir dich nicht mehr lieb haben, das kannst du mir glauben.“
Sicher, solange Doris geglaubt hat, es sei die richtige Mutter, hatte sie nicht mehr an ihr auszusetzen als andere Kinder an ihren Müttern auch. Sicher meint sie es so, wie sie es gesagt hat. Und natürlich hat sie sie großgezogen und alles für sie getan. Aber ist es nicht Verrat an der richtigen Mutter, eine andere an ihrer Stelle zu lieben? Denn schließlich hat sie ihr Leben geopfert. Wie lässt sich leben mit zwei Müttern? Wie?“
Erstmals 2008 veröffentlichte Renate Krüger bei Books on Demand Norderstedt „Paradiesgärtlein. Ein Tagebuch“: Unter dem Begriff PARADIESGÄRTLEIN verbirgt sich mehr als ein Bild, nämlich Sehnsucht, Kreativität, Suche nach Schönheit und Harmonie, eingebettet in die bisweilen recht harten Alltage des Jahresablaufs. Es geht nicht um Nostalgie, sondern um Sinndeutung und Sinnfindung. Der Text ist eine Summe aus mehreren Jahrzehnten, eine Zusammenfassung zahlreicher Erfahrungen zwischen Gewinn und Verlust, bestehend aus authentischen Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Gedichten. Im oberrheinischen PARADIESGÄRTLEIN spielen die Heiligen ihr Leben nach. Sie haben den Ernst dieses Lebens schon hinter sich. Das Spiel ist die Überwindung auch des Absurden. Im Spiel ist ja die Welt vernünftig und in Ordnung. Eine der Grundlagen jedes Spieles ist die Gerechtigkeit. Spiel ist etwas anderes als Beschäftigungstherapie, als eine günstige, leicht zugängliche Möglichkeit, Zeit zu nutzen und etwas zu tun, was einem gut tut, weil es durch die erreichte Entspannung dazu hilft, die Zeit danach zum Funktionieren und Produzieren umso besser zu nutzen. Wird das Spiel Mittel zum Zweck oder selbst Zweck, nimmt es die Formen und Belastungen der Arbeit an. Der Auszug aus dem Buch von Renate Krüger enthält die Tagebuchauszeichnungen des ersten Monats des Jahres:
„1. Januar
Der Himmel ist wie ein naives Gemälde, voller farbenprächtiger Raketen. Prosit Neujahr!
Erneuerung ist etwas anderes als Neuerung.
Ein stürmischer Geselle
stampft über die Jahresschwelle
mit ungeputztem Schuh
und reißt aus himmlischer Ruh
den Knaben im lockigen Haar
und den Schnee vom vergangenen Jahr.
Viel Neues hat angefangen
bevor das Alte vergangen.
Der Sturm trennt nicht alt und neu
treibt heutige Zeitung als Spreu.
Nun öffne den Schlagbaum der Zeit
und pfeife dem Sturm das Geleit.
[*] Januar
Die erste Post des neuen Jahres: verspätete Weihnachts- und Neujahrsgrüße, ein Kontoauszug und ein amtliches Schreiben, in dem mir nicht mehr und nicht weniger mitgeteilt wird, als dass bis Jahresende die Nutzungsrechte an meinem Garten erlöschen. Bis dahin könne ich noch säen und ernten nach Herzenslust. Aber dann … Das Grundstück sei zum Baugelände erklärt worden. Für das Gartenhäuschen könne ich keine Entschädigung erwarten, es befände sich ohnehin in Treuhandverwaltung, und ich habe es nur zur Nutzung erhalten. Ebenso verhalte es sich mit den Obstbäumen.
Dann folgen Hinweise auf Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen.
Alles hat seine Richtigkeit, aber wie lange wird es dauern, ehe meine Welt wieder stimmt?
Ich lege den Brief erst einmal weg, er verursacht mir körperliche Schmerzen.
Welch ein Jahresbeginn!
Immer wieder fällt mein Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN, eine farbige gerahmte Reproduktion, ein Geschenk von G., sie kaufte es mir bei unserem gemeinsamen Besuch im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt. Ich war damals ungehalten, dass ich diese Rolle nun auch noch transportieren musste.
Dabei gehörte mir dieses Bild doch schon seit Jahren, seit Jahrzehnten. Immer wieder hatte ich mich damit beschäftigt, darüber geschrieben, gesprochen.
Die Darstellung des Paradiesgärtleins war in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verbreitet, besonders in Deutschland. Man gab dem Thema auch noch andere zärtliche Namen: Maria in der Rosenlaube, Maria im Rosenhag. Solche anrührenden Bilder entstanden in einer Zeit besonderer Verfeinerung, während einer kulturellen Hochblüte. In der Kunstgeschichte prägte man für diesen Zeitabschnitt den Begriff des Weichen Stils, der Schönen Madonnen.
Das Bild lebt noch aus der Mystik des 14. Jahrhunderts, aus dem Bewusstsein, dass sich Gott und Mensch in Liebe und Einssein begegnen, dass der Mensch ganz in Gott aufgeht und das Paradies zum Geschenk erhält. Solch mystischer Höhenflug ist hier freilich herabgemildert zum religiösen Idyll.
PARADIESGÄRTLEIN – es präsentiert mystische Bilder, die man aus den Visionen der Propheten entwickelt hatte, Sinnbilder und Vorbilder Mariens. Der verschlossene Garten, die versiegelte Quelle.
PARADIESGÄRTLEIN – eine Utopie, eine Illusion und doch unausrottbar. Nimmt man dem Menschen diese Illusion, raubt man ihm ein Stück Herz.
Die Versuchung, alles hinzuwerfen, ist groß. Wozu das Bemühen um das Paradiesgärtlein? Das ist doch auch nur ein Abwehrmechanismus, ein Ersatz für nicht selbst erfahrenes Leben, manchmal wie das Vorantreiben eines Stollens bis an eine Stahlwand. Ein ewiges Suchen. Wer garantiert einen Fund?
Der verschlossene Garten ist kein Wertmaßstab, er ist nicht aus sich selbst grundsätzlich besser als der geöffnete, für alle zugängliche Garten, sondern ein Zeichen, das auf mehr deutet. Auf was? Vielleicht war es ein falsches Bild, das mich veranlasste, mir jahrelang gar keine Bilder mehr zu machen, sondern mich mit der unmittelbaren Gegenwart, der sogenannten Realität, zufriedenzugeben. Wohin wird mich mein neues Bild führen? Die Geschichte meines Paradiesgärtleins ist die Geschichte seines Verlustes.
[*] Januar
Das Gartentor ist vereist, aber es lässt sich schließlich doch öffnen. Ich kann nicht alle Spuren im Schnee deuten. Viele Tiere waren zu Besuch, Hasen, Eichhörnchen, vielleicht auch ein Fuchs. Die Sträucher stöhnen unter der Schneelast, ich schüttle sie kräftig, und sie recken und strecken ihre Zweige wieder in die Waagerechte. Die Obstbäume scheinen mich um den gleichen Dienst zu bitten, der viele Schnee schade ihnen …
Auf euch wartet schon die Motorsäge, was kann euch bis dahin noch passieren?
Hoher Schnee und strahlende Sonne. Die Samenkörner liegen tief unter Schnee und Erde. Ich möchte soviel Neues. Dann und wann tauchen Schlangengedanken auf und flüstern: PARADIESGÄRTLEIN – ist das nicht feige Flucht in die Oase? Heitere Resignation im Idyll?
Aber ich muss doch von irgendeinem Punkt ausgehen, aufbrechen, wenn ich einen neuen Weg gehen möchte.
Ich kann nicht stehen bleiben und nach allen Seiten kämpfen.
Unsere Hausnachbarin meiner Kinderzeit hatte Beziehungen zu Schokolade, die ich nur aus frühester Kindheit kannte. Einmal brachte sie mich dazu, für zwei winzige Schokoladenquadrate ihr Gartenrechteck vom Unkraut zu befreien. Ich jätete also bei Hitze und Trockenheit vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag Unkraut, aber ich tat es nicht gern. Ich empfand diese Arbeit als Sklaverei; mein Rücken schmerzte, und meine Zunge klebte am Gaumen.
Der abendliche Genuss der wenigen Quadratzentimeter Schokolade entsprach sogar in meinem kindlichen Bewusstsein nicht der ganztägigen Strapaze des Unkrautjätens und Hackens. Was war das schon: Blasen, Schweiß, Erwartung, ein paar süße Augenblicke am Abend und danach Enttäuschung …
PARADIESGÄRTLEIN – ich möchte gern fortfahren in der Betrachtung des Bildes, aber die Berücksichtigung aller wissenschaftlichen Zusammenhänge erscheint mir als hohe Schwelle, die mir Widerstand entgegensetzt.
Meine Kollegen wissen das alles. Sie kennen die dazugehörigen Schlüsselworte wie Betrachterperspektive, Immanenz und Transzendenz, Mystizismus, Kolorit und Ikonografie.
Natürlich könnte auch ich die Karteikarte schreiben: Oberrheinischer Meister um 1410, Paradiesgärtlein, Tempera auf Holz, 26,3 mal 33,4 Zentimeter. Auch ich würde noch einmal kritisch hinschauen, ob die Zahl hinter dem Komma stimmt. Ich könnte auch die Literatur, die über dieses Bild erschienen ist, auf die Karteikarte schreiben, wahrscheinlich würde die kleine Fläche für alle Titel gar nicht ausreichen.
Ich scheue mich wieder vor der Schwelle. Darf ich das Bild einfach nur betrachten, wenn die anderen soviel darüber wissen?
Der Blick auf das PARADIESGÄRTLEIN ist wie ein schnelles angestrengtes Spähen durch ein Loch im Zaun, der zwischen dem Alltag und dem Land unserer Sehnsucht liegt. Ich darf diesen Blick zwar aussenden, doch wenn ich ihn als Endpunkt, als Erfüllung ansehe, werde ich das Ziel nicht erreichen.
[*] Januar
Es schneit. Die Welt steht still. Diese Zeiten der Ruhe befähigen dazu, unbewältigte Vergangenheit zu verarbeiten, sie auszuhalten, ihr furchtlos ins Auge zu blicken. Der Fließbandalltag bietet bequemere Lösungen an, aber es sind Scheinlösungen. Der Fließbandalltag arbeitet mit kleinen Zielen. Man visiert sie an, sie kommen rasch näher, man hat sie in der Hand. Die Befriedigung jedoch dauert nur einen kurzen Augenblick, dann nähert sich schon das nächste Teilziel, und so muss es wohl sein. Die Zeit der Ruhe schafft einen längeren Atem, aber der entspricht ganz und gar nicht einem längeren Genuss, sondern einer tieferen Wahrheit.
Wie stumpf ich bin, wie müde. Versuche zu spielen, deine Gedanken frei schweifen zu lassen. Du hast ja einen Fundus, über den du verfügen kannst, nämlich spielerisch miteinander zu verbinden, was du für verbindenswert hältst.
Ich glaube zu spüren, wie die Stumpfheit allmählich einer geschärften Aufmerksamkeit weicht.
Bücher entstehen nicht während des Schreibens. Eine harte Erkenntnis. Manchmal wird die Handschrift gefährlich, weil sie zum Träumen und Abschweifen verleitet, möglicherweise noch begünstigt durch allzu harmonische Musik. Bücher entstehen auf den kleinen Punkten zwischen Ankunft und Abschied.
Meine sorgfältig gepflegte Blumenknolle hat eine Blüte hervorgebracht. Heute in aller Frühe hat sie sich geöffnet, eine gefüllte Narzisse, eine kleine Blumensonne. Mir ist, als habe ich Besuch bekommen.
Ich sollte solange mit dem Pinsel hantieren, bis mir ein poetisches Bild gelungen ist, bis ich den einen Punkt erreicht habe, an dem die Wirklichkeit größer ist als das, was mich als sogenannte Realität umgibt.
Chrysanthemen im Winter
fahlgelbes Leuchten
zerbrechlich
zerbrochen
Ich bin vom Tode berührt
Die Blaue Blume wächst nicht im eigenen Garten. Du musst dich immer wieder aufmachen, um sie zu suchen. Sie entschwindet dir immer wieder? Solltest du vielleicht versucht haben, sie auszugraben, um sie im eigenen Treibhaus zu züchten? Hast du ihren Anblick für deinen Besitz gehalten?
Dein Kindheits-Bereich, dein Kindheits-Ich sind keineswegs identisch nur mit dem PARADIESGÄRTLEIN und der Blauen Blume, mit der Terra felix und dem Super-Therapeuticum. Aus deinem Kindheits-Ich entspringen auch Ängste und Zwänge. Warum verursacht dir das Erwachsensein einen so faden Geschmack auf der Zunge? Warum klingt es sofort zusammen mit Verknöcherung und Verkrustung, mit Grautönen und Langeweile?
Jedes Erwachsensein setzt sowohl Kindheit als auch Abschied von der Kindheit voraus. Aufbruch zur Mündigkeit vollzieht sich lebenslang.
PARADIESGÄRTLEIN – ist das auch das Ziel der Fahndung nach mir selbst? Fahndung klingt kriminalistisch. Ich habe mich versteckt, ich suche ein Versteck nach dem andern, aber nicht, weil ich ein Verbrechen begangen habe, sondern weil ich mich nicht zeigen möchte. Und mir ist auch nicht jedes Versteck recht – es muss schon sehr schön sein …
Sind Enttäuschungen nur ein Ausnahmezustand, etwas grundsätzlich Negatives, das gerade gerückt oder überwunden werden muss, ein Zustand, aus dem ich möglichst schnell in angenehmere Gefilde fliehen sollte? Ins PARADIESGÄRTLEIN?
Ich rette mich oft auf die Insel der Seligen, auch wenn ich mit Worten heftig dagegen auftrat und gegen das harm- und anstrengungslose PARADIESGÄRTLEIN zu Felde zog. Die Alternative zur Enttäuschung, zum Frust ist nicht die Insel der Seligen, ist nicht Kastalien, ist nicht die kultivierte Gesellschaft von Glasperlenspielern.
Es ist gut, Dinge und Erscheinungen in Zusammenhängen zu sehen, aber leider sind es meist nur unsere eigenen Zusammenhänge, in die wir sie stellen, in Typisierungen, Normen, in Wunschdenken. Besser wäre es, wir könnten sie einmal unvoreingenommen und wie am ersten Tag sehen.
[*] Januar
Man hat mir einen anderen Garten angeboten, einen Kleinstgarten, pflegeleicht, altersgerecht, auf eine Person zugeschnitten, Aber diese Aussicht verleiht mir keinerlei Aufschwung. Bescheidenheit ist nicht in jedem Fall eine Tugend.
Der Mensch soll möglichst hohe Ansprüche stellen. Das Maß ist immer die Ehrlichkeit: hindere ich durch meine Ansprüche andere Menschen an ihrer Entfaltung? Kann ich das, was ich beanspruche, auch moralisch verwirklichen? Arbeite ich damit, entfalte ich es?
Bescheidenheit kann auch eine Form von Egoismus und Bequemlichkeit sein. Bequeme Selbstbescheidung lässt den Menschen niemals zum Erlebnis von Fülle gelangen.
Es gibt Tage, die sind wie eine Lawine
und ich versinke im Ansturm der Stunden,
ersticke im Schnee des Alltags.
Es gibt Tage, die duften wie Thymian,
und ich gehe hindurch,
wie man an der Seite eines Freundes geht.
Ich halte meine Hände auf
für die einen und die anderen Tage
und bitte nur um eins:
Bewahre mich vor dem Überdruss.
Ob ich lernen könnte, das gegenwärtige Leben von der Zukunft her zu sehen? Die Gegenwart ist freilich wichtig genug. Es kann natürlich auch eine Flucht in die Zukunft geben, so wie es eine Flucht in die Vergangenheit gibt. Aber die Zukunft ist für uns wohl wichtiger als die Vergangenheit.
Unsere Religiosität ist oft so selbstsüchtig, ein schöner kultivierter Rahmen, eine Parklandschaft inmitten einer Müllkippe … Gott will nicht, dass wir auf der Müllkippe leben. Aber ein religiöses Getto ist ebenso schlimm, und trage es auch den Namen PARADIESGÄRTLEIN …
Am Steintor in Rostock steht der vielzitierte Satz, der immer wieder als Maß gesetzt wird:
Sit intra te concordia
et publica felicitas.
Ein hoher, verpflichtender Maßstab! Ein Ziel, für das es sich lebenslang zu arbeiten lohnt. Und doch auch egoistisch und gefährlich. Die Hauptsache: innen ist alles in Ordnung! Als ob innen und außen nicht in einer tiefschichtigen Wechselwirkung ständen … Als ob man sich auf inneren Frieden, Wohlstand, Harmonie und Zufriedenheit etwas zugute halten könnte, wenn außen alles brennt, schmerzt, seufzt. Man schützt die Stadt mit einer hohen dicken Mauer. Nur von den hohen Türmen kann man nach außen spähen. Von außen kann man nicht ins Innere blicken. Nur auf das Tor, und dort steht dann der feierliche Satz.
Jedem Inhalt seine Form! Es kommt auch auf mich an, auch ich muss diese Form finden. Da ist der Sonntag, Tag des Neubeginns, Tag der Ruhe. Warum wird daraus immer wieder ein Tag der Faulheit und Bequemlichkeit?
Man sollte alles Verschwommene, Unklare, nur warm Gefühlsmäßige ordnen und klären. Die bloß bequeme Unterhaltung. Das tatenlose Herumdämmern. Man sollte auch das Denken von allem Verschwommenen reinigen und entlasten und zu Schärfe und Wahrheit läutern. Dennoch: mir scheint, man besitzt nur das, wovon man große Träume hat. Oder: man kann künstlerisch nur das gestalten, was man nicht real besitzt, sondern wovon man nur träumen kann.
Meine Arbeit will einfach keinen abgerundeten Kreis bilden. Neu beginnen? Das kann eine gefährliche Illusion, ja ein Irrtum sein. Es ist oft leichter und bequemer, neu zu beginnen, einen Neubeginn zu planen, als an der Schadensstelle weiterzuarbeiten.
Tätigsein ist ständige Aufmerksamkeit, nicht nur Leistung, ständige Produktion. Tätig sein, immer tätig sein…
Ich will nicht immer nur auf einen Abschluss hinarbeiten, einen Plan für ein Haus machen, das Material mühsam zusammenholen, das Haus bauen, solide Arbeit leisten; solide Arbeit, gewiss… Aber schöner wären Leben und Kunst, könnte ich auch einmal aus dem Vollen, aus Überfluss schöpfen, könnte eine reife volle Frucht aus absichtsloser Tätigkeit ernten, müsste nicht immer aus der Hand in den Mund leben.
Die Menschen brauchen große Dimensionen. Kleinlichkeit führt immer zum Stillstand. Gegen nichts muss man mehr kämpfen als gegen Kleinlichkeit. Mein Durst ist übermächtig. Nur der Biedermeier ist genügsam. Nur die unzufriedenen Idealisten bringen die Entwicklung immer wieder ein Stück voran. Vielleicht sollte man nicht sagen: ich bin unzufrieden, sondern: ich bin noch nicht zufrieden.
Freude ist etwas anderes als Befriedigung; Freude ist ein Aufbruchssignal. Befriedigung ist ein Endpunkt. Endpunkte drohen mit Unfruchtbarkeit. Kreativität ist nicht ein Nippen an herrlichen Getränken, ein Sammeln von Blüten, die einem unvermutet in den Schoß fallen, sondern eine lebenslange Haltung.
[*] Januar
Die Wildkaninchen haben sich am Nelkenlaub und an der Schneeheide gütlich getan. Ich sollte Maschendrahttunnel über die Beeteinfassungen und die Einzelpflanzen ziehen. Lohnt sich das noch? Ich müsste auch die Wühlmäuse bekämpfen. Und ich werde auch…
Was könnte ich mit meiner Freizeit tun? Nicht: wie will ich sie am besten ausnutzen, ausbeuten, das meiste herausholen. Was möchte ich hineinstecken? Freizeit ist ein Übungsfeld für Freiheit. Nicht nur Tagträume! Aber wenn sie kommen, schiebe sie nicht weg.
Nicht Aktion um jeden Preis, aber den Gedanken einen Schlusspunkt setzen, ein Ziel. Nichts im Halbdämmer lassen, alles mit Ehrfurcht beleuchten und erkennen und bejahen.
Mit einem neuen Impuls, einer neuen Idee sollte man erst unter Sonne, Mond und allen Sternen wandeln und sie von allen segnen lassen, bevor man damit an die Öffentlichkeit tritt. Ein Impuls, eine Idee ist ein kostbares Geschenk, man sollte nicht gleich damit hausieren gehen. Viele Ideen fallen wieder ins Gestaltlose zurück, wenn wir ungeduldig und eitel sind und sie sogleich auf irgendeinem Markt ausschreien.
Ich möchte von meinem Leistungszwang geheilt werden. Er schleicht sich immer wieder durch die Hintertür oder kommt ganz frech durchs Hauptportal. Meine Erschöpfung ist wohl auch durch psychischen Leistungszwang, durch Euphorie, verursacht. Euphorie ist sehr anstrengend. So hoch es hinaufgeht, so tief geht es auch wieder herunter.
Tagebuch: Übungsfeld mit mir selber, Versuch, meinem Selbst immer wieder nahe und noch näher zu kommen. Das Werkzeug muss immer wieder geschliffen werden. Tagebuch: Ort der Selbsterfahrung, der Selbstfindung, der Selbsterziehung.
Ich beschneide sehr kritisch mein Manuskript. Jeden Zweig, jeden Trieb, den ich für überflüssig halte, nehme ich weg. Um jedes Wort herum fege ich den Fußboden sauber. Ich glaube nicht, dass man gleich beim ersten Anlauf sehr verdichtet schreiben kann.
Meine Hände sind die besten Helfer des Kopfes. Was aus dem Kopf durch die Hände auf das weiße Papier fließt, ist geordnet. Dieser Prozess müsste sich umkehren lassen: dass ich durch die gestaltenden Hände Ordnung in meinem Kopf schaffe.
[*] Januar
Hinter dem Gartenhaus ist der Zaun umgefallen, wie es scheint, ganz von selbst. Vielleicht durch Frostschäden. Ich brauche neue Pfosten. Die sich mir aufdrängende Frage schlucke ich herunter. Ich sollte nicht immer gleich zur Axt greifen, um zu roden. Ich habe ja noch viele freie Schubladen und sollte bei fehlgeschlagenen Versuchen nicht sofort aufhören.
Es ist eine Illusion, dass Tiefstände, Spannungen, Schmerzen und Traurigkeit nur durch erfreuliche, positive, entspannende äußere Ereignisse überwunden werden. Es hat keinen Sinn, die Tage bis zu einem solchen bevorstehenden Ereignis zu zählen, denn mit diesem erreichten Punkt werden sogleich neue negative schmerzliche Entwicklungen ausgelöst, die immer wieder in eine neue Talsohle führen.
Der Mensch hat nichts verfügbar. Ich lebe weder vom Kapital, noch von den Zinsen. Menschen und Dinge entstehen gewissermaßen erst dann für mich, wenn ich mit ihnen umgehe. Auch Leben und Dasein sind nichts Verfügbares, sondern etwas, was wir mitschaffen müssen. Nur im Schaffensprozess wird es unser Besitz.“
So unterschiedlich wie eben gelesen können Paradiese und die Beschreibungen von Paradiesen sein und doch haben sie wohl mindestens eines gemeinsam – die Gelegenheit zum Vergleichen mit den eigenen Vorstellungen und Träumen vom Paradies und mit den Träumen und Wünschen vom eigenen Leben, von der Kindheit und der Jugend bis zum späteren und späten Erwachsensein. Wie viel bleibt am Ende vom Anfang? Fragen über Fragen, die zum Nachdenken anregen und anregen zum Lesen …
Viel Spaß beim Lesen, beim Besuch im Paradies, weiter einen schönen Mai und bis demnächst.
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