Bei den anderen Angeboten bleibt es dagegen bei den bekannten Sonderpreisen und – wie auch in diesem Newsletter – sogar bei einem Supersonderpreis wie immer am Ende dieser Ausgabe. Und nun zu den aktuellen Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 31.05.19 – Freitag, 07.06.19) zu haben sind. Zwei Dinge haben die ersten beiden Angebote von Heinz Kruschel und Christa Grasmeyer, „Endlich ein Mann sein“ und „Aufforderung zum Tanz“ gemeinsam – sie erschienen erstmals gedruckt fast zeitgleich 1986 und 1987 im Verlag Neues Leben Berlin und sie befassen sich mit jungen Leuten jener Jahre, ihren Ansprüchen, Wünschen und Träumen und mit ihren auch damals schon nicht einfachen Wegen ins Leben. Ein ganz ähnliches Thema bewegt übrigens auch den Autor des heutigen Supersonderpreis-Angebotes, aber mehr dazu wie gesagt erst am Ende dieser Ausgabe.
Lustige und traurige Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen Wilhelm Eickhoff und Irma Köhler-Eickhoff in „Paulchen, Schnaps und Schweinespeck“.
Mit der Geschichte der „Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision der Nationalen Volksarmee der DDR“ befasst sich Dietrich Biewald – ein Stück seines eigenen Lebens. Und damit zum allerersten Fridays-for-Future-Angebot:
Erstmals 2011 hat EDITION digital in einer Eigenproduktion den fantastischen Roman „Tornado – Die tödlichen Rüssel“ von Klaus Möckel herausgebracht: Im Küstenland Hahl vollzieht sich eine gewaltige Umgestaltung. Brachliegende Strände sollen für den Tourismus erschlossen, Hotels und Vergnügungszentren erbaut werden. Probleme bereitet noch das unwirtliche Klima, doch eine geniale Lösung scheint gefunden: Vulkane sollen angezapft und mit ihrer Glut eine warme Meeresströmung bis in die Bucht vor Hahl geführt werden. Der Journalist Vangrin erhält das Angebot, dieses Projekt mit seinen Reportagen zu begleiten. Da er in letzter Zeit privat wie beruflich einige Niederlagen einstecken musste, sieht er in dem Auftrag eine neue Chance. Zumal das Angebot vom Manager des Baukonzerns kommt, einem früheren Freund und Mitstudenten. Das gigantische Vorhaben, das tief in die Natur eingreift, stößt nicht nur auf Zustimmung. Während die lokale Wirtschaft, die Sex- und Unterhaltungsbranche von hohen Gewinnen träumt und manche jungen Leute Aufstiegsmöglichkeiten erhoffen, befürchten die Küstenfischer das Ausbleiben der Fischschwärme, die Umweltschützer Verschmutzung und Zerstörung der Natur. Das Anheizen des Meeres birgt Gefahren, die nur schwer abzuschätzen sind. Der Journalist gerät in einen Konflikt, weil sich über der See erste „Rüssel“, kleine Tornados, bilden. Seine Lage wird noch schwieriger, als er sich in die Freundin seines Auftraggebers verliebt. Mit dem Fortschreiten des Projekts, dem Bau immer neuer Hotels, aber auch Industrieanlagen spitzt sich die Situation zu. Der Konzern will seine Ziele unbedingt erreichen, die Gegner rufen zu Widerstand und Sabotage auf. Auch Vangrin muss letztlich erkennen, dass er nicht neutral bleiben kann. „Tornado …“ ist ein Roman voller Spannung und Konflikte. Liebe, Hass und Hoffnung beschwören dramatische Situationen herauf. Unaufhaltsam treibt die Handlung einer Katastrophe entgegen. Ein zerstörerischer Wirbelsturm, der das Meer aufwühlt und an Land alles mit sich reißt, stellt die Akteure auf eine letzte harte Probe. Hier der Beginn dieses spannenden Buches:
„I. Der Aufbruch
1
Der Mann, einen dunklen Umhang um die Schultern und die Kapuze in die Stirn gezogen, hatte keuchend den Hügel erklommen. Unter ihm lag die Stadt Hahl mit ihrem Hafen und den Stränden, weiter hinten dehnte sich leicht wellend und scheinbar unendlich das Meer. Eine falbe Abendsonne ließ ihre Strahlen durch die Wolken sickern, schnitt eine glitzernde Bahn ins Wasser. „Fuego corriente“ flüsterte der Mann, „ihr dürft es nicht, haltet ein!“ Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf; er kauerte sich auf den Boden, murmelte unverständliche Worte. Doch die Ruhe, die er suchte, verweigerte sich. Zwar schlummerte er, an einen Federbaumstamm gelehnt, schließlich ein, aber Alpträume schienen ihn zu quälen. Sie schüttelten ihn, ließen ihn ein ums andere Mal zusammenzucken.
Fuego corriente, fließendes Feuer, so hieß eine warme Meeresströmung, die in den letzten Jahren im Land für Aufregung gesorgt hatte. Weit im Süden, dort wo unablässig eine heiße Sonne brannte und ein gleichmäßig kräftiger Wind die Wellen peitschte, nahm sie mitten im Ozean ihren Ursprung. Sie sog die Hitze des Himmels in sich ein, wirbelte sie in die Tiefe und bildete ein kilometerbreites Band, das sich immer mehr von den kalten Fluten abgrenzte. Diese Fluten machtvoll zerschneidend, schäumte die Strömung mit großer Geschwindigkeit nach Nordosten.
Fuego corriente war ein gewaltiger tiefreichender Fluss im Meer, der Tausende und Abertausende Seemeilen dahinströmte, dem Mondkontinent ein freundliches Klima brachte, die Wanderklippen und die Westinseln umspülte, um endlich vor der bergigen Küste der Stadt Hahl zu verebben. Den Ländern hier gab er nur noch wenig von seiner Wärme ab. Lediglich in besonders günstigen Jahren setzte er der rauen Gebirgsluft seinen milden Atem entgegen, ermöglichte einen etwas längeren Sommer und eine reichere Ernte. Meist jedoch schien die Luft mit Eisnadeln durchsetzt, die feinsandigen Strände westlich von Hahl dehnten sich leer unter einem kalten Himmel.
So war es zumindest Jahrhunderte hindurch gewesen, seit Menschengedenken. Doch nun war überraschend etwas geschehen, sollten sich die Dinge grundlegend ändern. Einige Unternehmen von jenem hinter dem Meer liegenden Kontinent hatten einen Plan vorgelegt, der den Tourismus ankurbeln und Wohlstand in das nicht gerade reiche Land mit der Hafenstadt Hahl bringen sollte. Das Projekt Silberstrand war zwar nur mit modernster Technik zu realisieren und erforderte gewaltige Investitionen, aber es erschien Erfolg versprechend. Seine Grundidee: die warme Strömung sollte verlängert, die Wassertemperatur vor den Küsten erhöht und damit das Klima angenehmer gestaltet werden. Dann, so argumentierte das entsprechende Konsortium, könne sich das Land bald nicht mehr vor Touristen retten; man würde endlich die nahezu unberührten Strände nutzen, Hotels bauen und die Infrastruktur entwickeln. Die Industrie würde einen ungeahnten Aufschwung nehmen, die Wirtschaft aufblühen.
Alles einleuchtend – aber mit welcher Energie sollte das „Fließende Feuer“ neu angeheizt und nach Norden hin ausgedehnt werden?
Die Antwort lautete: durch die vulkanische Glut im Südzipfel des Landes, die auf Grund wiederkehrender Ausbrüche bisher nutzlos verpufft. Wird die Strömung durch sie dauerhaft erhitzt, so ist das gewünschte Ergebnis bald erreicht. Denn diese Glut aus dem Innern der Erde ist unerschöpflich. Die Vulkane müssen nur mit Bedacht angezapft werden, damit die ungeheure Hitze nicht außer Kontrolle gerät.
Zu diesem Zweck hatten die Projektanten riesige, aus wärmedämmendem Material erbaute Lavaröhren vorgesehen, die in Staukesseln am Meeresboden endeten. Ein wirksames System, genial in seiner Einfachheit, so dass die Regierung den Plänen zustimmte. Dem Konsortium wurden weitgehende Rechte für das "Unternehmen Silberstrand" eingeräumt.
„Fuego corriente“, flüsterte der Mann im dunklen Umhang und ihm schien, der milchig blaue Himmel in seinem Traum habe sich verdüstert. Eine Wolke bildete sich, wuchs zu ungeheurer Größe heran. Schwarzgrauer Horizont, lila leuchtende Blitze, Orkanböen, die aus dem Nichts kamen. Urplötzlich bildete sich zwischen den Wolken und dem Meer ein dicker Schlauch, ein rotierender Rüssel, der übers Wasser aufs Land zulief, mit mächtigen Wirbeln die Flut spaltete. Zugleich aber entstanden neue Schläuche – oder waren es Arme, deren geballte Fäuste alles packten, was sich auf dem Meer befand: Segelgleiter, Yachten, Passagierschiffe und Tanker.
„Thuron“, brüllte, jaulte der Mann, der in der Wolke eine geballte Faust zu erkennen glaubte, „ich hab es gewusst, du wehrst dich, du steigst hernieder!“ Er wollte aufspringen, vermochte es nicht, der Sturm seiner Vision drückte ihn zu Boden. Zuckend lag er da, Horrorbilder vor Augen: Häuser, die zerplatzten, gläserne Paläste, zersplitternd unterm Orkan, Schiffe, die sich im Kreis drehten, wie aufbäumende Pferde aus dem Wasser stiegen und in die Tiefe gerissen wurden. Durch die Luft wirbelten Wagen und Räder, Menschen flohen schreiend vor der Kraft der Windhosen, wurden zu Boden gestreckt und gegen Mauern geschleudert; in Todesangst heulten Tiere. Schneisen, in Wälder gebrochen, taten sich auf – Türme stürzten ein, Brücken zerbarsten, Strommasten knickten.
„Lass es nicht zu, Thuron“, wimmerte der Mann, dem die Bilder nun in ein hässliches, schmutzigbraunes Gebräu zusammenflossen. Er erwachte und hob die Augen zum milchigen Himmel. Langsam schien er zu begreifen, dass nichts an seinen Träumen wirklich war, aber er wollte es nicht wahrhaben. Er sprang auf und stand einige Minuten starr da, bevor er sich, den Umhang zusammengerafft, wieder an den Abstieg machte. Es sah aus, als sei er selbst in einen dunklen Schlauch gehüllt, der jeden Augenblick mit ihm davontanzen konnte.
2
Der Bug des gedrungenen Fährbootes zerschnitt die Wellen, seine beiden Rotoren rissen Schaumfetzen aus der grünlichen Flut. Die „Robbe“ machte kräftig Fahrt und würde in weniger als einer Stunde in Hahl anlegen. Sie befuhr zweimal wöchentlich eine der üblichen Routen zwischen dem Mondkontinent und dieser Stadt. Das hatte immer ausgereicht, man war manchmal sogar ziemlich leer gefahren. In der letzten Zeit aber wuchs die Zahl der Fahrgäste, und man dachte daran, weitere Tage ins Programm einzubeziehen.
Ray stand, an die Reling gelehnt, auf dem Vorderdeck des Schiffes und schaute den Seestaren zu, die kreischend über ihn hinwegschossen. Einige Passagiere fütterten die Vögel mit Keksen, und obwohl Ray das nicht besonders mochte, bewunderte er die Geschicklichkeit, mit der die Beute geschnappt wurde. Die Stare griffen im Sturzflug zu, und nur selten fiel ein Brocken ins Wasser.
Die Wellen hoben und senkten das Schiff, doch sie waren bereits weniger hoch als auf offener See. Man fuhr am Ufer entlang, war schon in Höhe der Kreidefelsen, die Schneegipfel der Weißen Berge grüßten herüber. Wälder, Strände, ein Fischerdorf. Ihnen entgegen stampfte, erdbraun gestrichen, ein Fischkutter.
Der Steward, ein Mann mittleren Alters, den weißen Rochen als Symbol an der Mütze, Hose und Hemd nach Art der Hahl-Matrosen blau-gelb, trat an Ray heran und salutierte: „Doktor Vangrin, nicht wahr?“
„Ich kann nicht leugnen, dass ich so heiße.“
„Ich habe Sie nach dem Foto in Ihrem Buch erkannt. Auch auf dem Panoschirm habe ich Sie schon gesehen, aber das liegt eine Weile zurück.“
Erst jetzt bemerkte Ray das schmale Bändchen in der Hand des anderen. Es waren fünf seiner besten Reportagen, von einem rührigen Verleger zu einem Zeitpunkt herausgegeben, als der Name Vangrin bekannt zu werden begann.
„Das Foto ist nicht mehr ganz neu“, sagte Ray.
„Es ist Ihnen aber sehr ähnlich. Offenbar haben Sie sich wenig verändert.“
Äußerlich, dachte Ray, erwiderte jedoch nichts.
„Ich wollte Sie um Ihr Autogramm bitten“, fuhr der Steward fort, „ich habe schon einige berühmte Männer in meiner Sammlung.“
„Ich bin kein berühmter Mann.“
„Sagen Sie das nicht. Ihre Berichte über den Kanalbau sind überall bekannt, auch bei uns. Und dass man gerade Sie hierher schickt, jetzt, wo das Projekt Gestalt annimmt, hat doch bestimmt seine Gründe.“
Der Kanalbau, dachte Ray, die Leute erinnern sich noch immer daran. Damals hatte er durch eine aufsehenerregende Reportage erreicht, dass ein Naturschutzgebiet erhalten geblieben war. Man hatte die Wasserstraße um dieses Gebiet herumgeführt, obwohl es erhebliche Mehrkosten brachte. Er war noch jung gewesen, hatte an den Sieg der Gerechtigkeit geglaubt. Später kamen dann die Zweifel und Misserfolge.
„Man hat mich nicht geschickt. Ich bin auf Grund einer Einladung hier.“
„Gewiss ist sie offiziell.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Ray ausweichend. Er nahm das Buch, das ihm der Steward hinhielt, und setzte seinen Namen hinein. Schwungvoll war seine Unterschrift nicht. Ein Graphologe hätte wohl einen unentschlossenen Charakter herausgelesen.
Der andere bedankte sich und wollte gehen. Ray fiel noch etwas ein. Er fragte: „Sie sind aus Hahl?“
„Ich wohne dort. Seit zwölf Jahren. Geboren bin ich in der Hauptstadt.“
„Weil Sie nun schon davon angefangen haben. Was halten Sie vom Projekt Silberstrand?“
„Eine großartige Sache. Das Gebiet war öde, kaum genutzt. Jetzt zieht dort Leben ein. Das wird dem Land Gewinn bringen.“
„Dem Land?“
„Uns allen“, sagte der Steward überzeugt. „Schaun Sie sich doch den alten Kahn hier an. Bald werden moderne Gleiter zwischen Ihrem Kontinent und unserer Stadt verkehren.“
Ray nickte. Die „Robbe“ verkörperte zwar noch ein Stückchen Romantik, aber gehobenen Ansprüchen genügte sie nicht mehr. Viel zu langsam und unbequem. „Sie glauben also, dass sich die Pläne der GEOVUL verwirklichen lassen?“ Die Geologisch-Vulkanische Gesellschaft war der Hauptträger des Projekts.
„Natürlich. Der wichtigste Schritt ist ja bereits getan. Letzte Messungen besagen, dass sich das Wasser in der Bucht erwärmt. Trotz der kühlen Außentemperaturen. Das wird sich aufs Klima auswirken.“
„Sie befürchten keine Pannen? Zum Beispiel einen unkontrollierten Lavaaustritt?“
„Ich verstehe nicht viel davon, aber ich vertraue Ihren Wissenschaftlern“, erwiderte der Steward. „Ihren Berechnungen, dem Material, das eingesetzt wird. Dem Kontrollsystem. Es wird keine Pannen geben. Außerdem – warum sollte man immer zuerst an das Schlimme denken.“
„Sie haben recht, warum sollte man“, sagte Ray.
Der Steward entfernte sich, und der Journalist wandte seine Aufmerksamkeit dem Ufer zu, das nun sehr nahe rückte. Hahl kam in Sicht, der Hafen mit seinen Kränen und Industrieanlagen, dahinter erhoben sich die Häuser und Bürotürme. Auch der Sternenhügel mit dem Poetenrelief tauchte auf, das den Auseinandersetzungen während der sogenannten heroischen Zeit gewidmet war. Links aber, in einiger Entfernung von der Stadt, sah man die ersten neuen Strandhotels.
Fischkutter, ein Drachen, dann größere Schiffe. Auf dem Kai, den sie ansteuerten, winkende Menschen. Die Leute erwarteten Verwandte, Freunde, Bekannte oder waren einfach aus Neugierde gekommen. Die Passagiere des Fährbootes winkten gleichfalls, sie hatten sich auf der Landseite versammelt und verfolgten das Anlegemanöver. Einige von ihnen, das wusste Ray, hatten bereits einen Aufenthalt am Silberstrand gebucht.
Die „Robbe“ hatte die Fahrt verlangsamt, nun stoppte sie, stampfte ein wenig zurück, glitt mit der eleganten Plumpheit einer Ente, die bei der Wasserlandung übers Ziel hinausschießt, zur Kaimauer. Taue schlangen sich um Pfeiler, die Gangway wurde angelegt, und die ersten Passagiere gingen an Land. Sechs Stunden hatte die Überfahrt gedauert, mit dem Flugmobil wäre es wesentlich schneller gegangen. Aber Ray liebte das Meer. Den Wind, der hart übers Deck fegte, die Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen und das Boot tanzen ließen. Liebte den Seegeruch. Auch das war ein Anreiz gewesen, hierher zu kommen.
Er schob sich zwischen den anderen Passagieren zur Treppe, stieg langsam hinunter. Seine Augen suchten Mohlenberg, aber der Freund war nicht zu entdecken. Der Freund, dachte Ray, sind wir denn tatsächlich Freunde, waren wir es je? Vor Jahren waren sie durch die Studentenbewegung zusammengekommen, hatten in Zentralstadt an Versammlungen und Demonstrationen teilgenommen. Gegen die Mächtigen auf dem Kontinent, die Vermarktung der Ideale. Die wahre Pressefreiheit wollten sie, eine unabhängige Kunst. Denn damals schrieben sie beide Gedichte und Mohlenberg träumte davon, retrofuturistisch zu arbeiten. Doch genauer betrachtet, waren ihre Beziehungen oberflächlich gewesen. Das hatte sich herausgestellt, als Ray wegen aufsässiger Artikel im Studentenblatt Schwierigkeiten bekam und Erken vorsichtig auf Distanz ging. Ihn der Unbedachtheit zieh, alles tat, um nicht in einen Topf mit ihm geworfen zu werden. Später hatten sie sich kurzzeitig wieder einander genähert. Bevor sie dann jeder den eigenen Weg gingen und sich aus den Augen verloren.
Mohlenberg war kein Retrofuturist geworden, dafür aber ein Baumanager, der für die größten Firmen des Mondkontinents arbeitete. Ein enormer Aufstieg. Er besaß Kenntnisse auf vielen Gebieten und Format, er war hartnäckig und wusste, wo es einzusteigen lohnte. Im Augenblick war er Chefkoordinator beim Unternehmen Silberstrand, besaß Stimme im leitenden Gremium der GEOVUL. In dem Brief, mit dem er Ray eingeladen hatte, den Fortgang des Projekts aus der Nähe zu verfolgen und darüber zu berichten, spielte er auf ihren gemeinsamen Beginn an. Auf die Ideale, für die sie seinerzeit eingetreten waren. „Das ist ein Plan, der Größe und Humanismus atmet“, schrieb er, „Fortschritt in jeder Hinsicht. Im Namen unserer Freundschaft, es lohnt sich, dabei zu sein.“ Und tatsächlich hatte der Brief Ray aus der Lethargie gerissen. Vielleicht gab eine solche Aufgabe ihm, dem allzu skeptisch Gewordenen, Auftrieb.
Erken war nicht unter den Wartenden, das schien nun gewiss, und obwohl er den Gast hatte persönlich empfangen wollen, gab es daran nichts Verwunderliches. Bei dem Aufgabenbereich, den ein Leiter wie er hatte. Bestimmt würde er jemand anderen schicken. Und tatsächlich trat in diesem Augenblick, ein wenig zögernd, eine junge Frau auf Ray zu. Dunkelhäutig, offenbar aus den Südstaaten. In helles Glanzit gekleidet. Und wie auf dem Schiff der Steward, fragte sie: „Doktor Vangrin?“
„Ja.“
„Herr Mohlenberg schickt mich, in seinem Namen soll ich Sie sehr herzlich in Hahl begrüßen. Hatten sie eine gute Fahrt?“
„Eine erfrischende Fahrt. Ich hatte fast vergessen, wie das Meer aussieht. So ganz aus der Nähe, meine ich.“
„In Hahl können Sie es jeden Tag genießen.“
„Ich weiß. Das ist ein Grund, weshalb ich hergekommen bin“, sagte er.
Sie hieß Frika Lamelle und war, was immer das bedeuten mochte, eine persönliche Mitarbeiterin Erkens. So drückte sie sich aus, wurde, als sie das erwähnte, noch einen Schein dunkler um die Augen. Ray amüsierte das, er konnte ein Lächeln nicht verbergen. Wahrscheinlich eine kleine Freundin des großen Häuptlings, ihn ging es nichts an. Nachdem er seinen Koffer in Empfang genommen hatte, steuerten sie ihr Mobil an. „Viel Gepäck haben Sie ja nicht“, sagte sie, „wir hofften, dass sie eine Weile bleiben.“
„Was verstehen Sie unter einer Weile?“
„Wenigstens einen Monat. Nach Möglichkeit länger, damit Sie alles gründlich kennenlernen.“
Er zögerte mit der Antwort. "Was ich brauche, kann ich ja jederzeit hier kaufen", erwiderte er ausweichend.“ Und nun zu den anderen Angeboten dieser Woche:
Erstmals 1987 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Endlich ein Mann sein“ von Heinz Kruschel: Nickel möchte groß herauskommen in diesem Sommer. Zunächst aber fällt er durch die Matheprüfung und tritt seine Lehre nicht an. Wer keiner geregelten Arbeit nachgeht, fällt in der DDR auf. Der Abschnittsbevollmächtigte kümmert sich schon um ihn, mehrmals wird er vom Amt für Arbeit vorgeladen. Da hilft ihm auch nicht der gute Ruf der Eltern und Großeltern. Groß und stark fühlt er sich an der Seite des Mädchens Kora, aber sie sagt ihm, dass sie nicht nur ihn liebt. Zu Beginn dieses Buches ist etwas Trauriges passiert, etwas für Nickel sehr Trauriges:
„1. Kapitel
Nickel geht die Treppen hinauf. Das Haus, in dem er wohnt, steht in einer engen, kühlen Straße. Alle Häuser der Straße sind Anfang dieses Jahrhunderts gebaut worden. Sie wirken von außen narbig, angeschimmelt und schaumgrau, haben aber schöne und große Wohnungen, gedrechselte Geländer im Treppenhaus und farbige Ornamente auf den Flurfenstern, die verschlungene Pflanzen und Tiere darstellen.
In dem Haus ist Nickel aufgewachsen. Er kennt jeden Mieter, jede Ecke und jeden Bodenverschlag.
Frau und Herr Reiher kommen ihm entgegen und grüßen ihn leise. Darüber wundert er sich. Die Reihers mögen ihn nicht, und er mag sie nicht. Herr Reiher versucht, den Dackel Nante zu vergiften, weil er nach Hundeart manchmal einen Knochen in Reihers Hausgarten verbuddelt oder einen Haufen setzt. Die Reihers bedauern Herrn und Frau Groß, dieses pampigen Sohnes Nickel wegen.
Und nun grüßen sie ihn, und sogar zuerst. Dabei tut er das nicht, obwohl ihn seine Mutter darum gebeten hat. Hauslamas grüße er nicht, hat er ihr geantwortet, solche Leute könnten bloß spucken. Er kann sich nur kurz über den Gruß der Reihers wundern, denn Nickel sieht Primasz auf dem Absatz des fünften Stockes stehen und winkt ihm zu. Der alte Zigeuner wohnt ganz oben. Ein stiller Mann, der manchmal einen trinkt.
Primasz verschwindet schnell. Dabei wartet er sonst immer darauf, von Nickel angesprochen zu werden.
In der Wohnung ist es sehr ruhig. Kein Fernseher läuft, kein Radio, sodass Nickel schon in sein Zimmer gehen will, als er das Hüsteln seines Vaters hört. Nickel geht in das Wohnzimmer.
Vater sitzt auf einem Stuhl am Tisch und sieht ihn ernst an. Nickel überschlägt in Gedanken den heutigen Tag und den gestrigen, denn so lange hat er seinen Vater nicht gesehen. Ihm fällt nichts ein, wofür er eine Entschuldigung erfinden müsste. Gut, er hat in den letzten Tagen für die Nachprüfung in Mathe nichts getan, aber das kann Vater nicht wissen. Vater trägt keinen beuligen Trainingsanzug, sondern eine gebügelte Hose und ein weißes Hemd.
Nickel schließt die Tür hinter sich. Sein Vater schweigt eine Weile, bis er sagt: „Setz dich, Nikolaus, setz dich doch.“
In Nickel steigt Beklemmung auf. Er setzt sich schnell, weil sich das Zimmer um ihn zu drehen beginnt. Er hat so ein Gefühl, als müsse er sich übergeben. Es ist etwas passiert. Irgendetwas.
Er möchte fragen und kann nicht fragen.
„Ja“, sagt Vater, „der alte, gute Jan, dein Opa. Er ist tot. Ganz plötzlich ist er gestorben. Er hat nichts gemerkt. Es war ganz friedlich. Nikolaus, Junge.“
Nickel schüttelt den Kopf. „Nein, nein.“ Er denkt: Der doch nicht, der Jan doch nicht, der war doch gesund. Der stieg in die Bäume, um sie zu beschneiden. Der schleppte einen Zentnersack auf dem Rücken weg. Der fuhr mit dem Rad. Der war mal Sportler, er hat ein paar Läufe auf der ersten Rennschlittenbahn Deutschlands gewonnen. Der konnte sich bücken. Der konnte mit Holz umgehen und aus verknorpelten Ästen und Stämmen die wunderlichsten Tierfiguren machen.
„Doch, Nikolaus. Es ist schwer zu begreifen. Mutter ist bei Oma auf dem Spionskopf.“
Auf dem Spionskopf wohnen Oma und Opa seit sechzig Jahren. Der Stadtteil liegt zwischen Fluss und Eisenbahn, begrenzt von Rübenfeldern. Er liegt auf einem neunzig Meter hohen Hügel, der höchsten Erhebung in der Landschaft. Vom Spionskopf aus kann man die ganze Stadt sehen, den Dom, die Gasometer, die neuen Wohngebiete, die Schornsteine der vielen Fabriken und die Autobahn in Richtung Westen. Nickel ist gern auf dem Spionskopf. Er versteht sich gut mit Oma und Opa, besonders mit Opa Jan. Der soll nun gestorben sein.
„Vielleicht stimmt es nicht, vielleicht war es nur eine Ohnmacht“, sagt Nickel, denn über den Tod hat er bisher nur in Büchern gelesen. Im Fernsehen zeigen sie den Tod täglich. Bis jetzt aber hat er noch nie erlebt, dass ein Verwandter gestorben ist.
Vater schüttelt den Kopf. Er knöpft sich die Hose zu, er hat einen Bauch. Dabei arbeitet er schwer in einem Dieselmotorenwerk, er arbeitet in Schichten.
„Aber wir wollten doch einen Giraffenlöwen bauen“, sagt Nickel, „für den neuen Kindergarten am Galgenberg.“ Als er es gesagt hat, merkt er erst, was für ein dämlicher Satz das gewesen ist. Er fragt: „Warum habt ihr ihn nicht rasch in ein Krankenhaus gebracht?“
„Jan lag im Garten“, sagt Vater, „zwischen den Blumen Hennys. Er war tot, Nickel, er war achtzig Jahre alt.“
„Und wenn schon, vielleicht ist er nicht richtig tot.“ Nickel zittert. Er hat das Gefühl, das Zittern kriecht in seinen Körper, es kommt nicht von innen, es kriecht von außen in Arme, Hände, Beine und in seine Brust.
„Ihr hättet euch um ihn kümmern müssen, so ein Mann wie Jan, der ist nicht gleich tot, der lebt doch noch, der muss nur rasch in ein Krankenhaus gebracht werden, ihr denkt immer bloß an euch, wann bist du denn das letzte Mal bei ihm gewesen, wann denn?“
„Ach, Nikolaus, was soll das jetzt noch.“
In Nickel ist Zorn, ein hilfloser, bitterer Zorn, und Wut, die er an seinem Vater auslässt. Sein Vater hat, wenn Sohn Nickel wütend war, auch als kleines Kind schon, nicht mit Strafe oder Schlägen reagiert. Nickel ist nie geschlagen worden, und sein Vater weiß, dass sich auch jetzt hinter Zorn und Wut eine tiefe Trauer versteckt.
„Aber es hätte nicht geschehen müssen. Ein paar Tage im Krankenhaus, der wäre wieder fit gewesen.“ Er wird leiser, er spürt die aufsteigenden Tränen und will vor seinem Vater nicht weinen.
„Man hätte doch, ach, Mann, und du sitzt hier rum, früher hättest du bei ihm sein müssen, denkst du, ihr seid ohne Schuld?“
Der Vater lässt Nickel in Ruhe, weil er sich nicht verteidigen muss, auch nicht gegen Nickels ungerechtfertigte Vorwürfe. Vater und Mutter Groß haben stets ihre Kinder Hannchen und Nikolaus und deren Gefühle geachtet, auch bei heftigen Reaktionen haben sie weder mit Arrest noch mit bösen Worten noch mit scharfen Blicken reagiert.
Vater Groß sieht seinen Sohn nur ernst an. Und Nickel geht nach einer Weile in sein Zimmer. Aber es hält ihn nicht lange darin. Er geht die Treppe hinauf. Er will auf den Boden, in die Kammer.
Primasz muss ihn gehört haben, denn er kommt aus seiner Wohnung heraus und sieht ihn bekümmert an. Primasz ist sein Verbündeter, denn als sich Nickel versteckt hielt, hat ihn der alte Zigeuner nicht verraten. Als Herr Reiher einmal mit einem Beil in der Hand den Dackel Nante jagte, hat Primasz magische Zeichen vor Herrn Reiher gemacht und ihn damit erschreckt: ein Hexer im Haus! Seitdem sieht sich Reiher vor. Primasz hat volles weißes Haar, das er wachsen lässt wie ein indischer Sikh, und einen schwarzen Heiduckenbart, dessen Ecken herabhängen. Darum sieht Primasz immer traurig aus. „Nickel“, sagt er nun, „es tut mir leid, das ist überhaupt kein Trost, aber das ist nun mal das einzig Gerechte auf der ganzen Welt, dass alle sterben müssen, keiner von den Lebenden bleibt übrig, ist’s wahr?“
„Wahr ist’s“, sagt Nickel leise. Auf diese Formel hatten sich Primasz und er vorzeiten geeinigt, wenn sie übereinstimmten. Er sagt kein Wort mehr, sondern geht in die Bodenkammer. Hier sind seine Burgen gestapelt, vier Schuljahre lang hat er nur Burgen gebaut, Modelle von Wallburgen und Pfalzen, von Ritterburgen und Kastellen. Nun stehen sie hier und verstauben.
Er will sie alle verbrennen, diese Kindereien, aus Wut, aus Ohnmacht, was sollen noch diese sächsischen Rundburgen und die viereckig fränkischen, die Tiroler Klausen, mit denen sie früher die Pässe versperrten. Er müsste etwas tun, es kann doch nicht alles so weitergehen wie bisher, ohne Jan!
Alles ist anders geworden. Er selber hätte Ferien machen können wie seine Klassenkameraden, die die Prüfung bestanden haben, er könnte durchs Land radeln, nach Querfurt, wo die größte Burganlage Deutschlands stehen soll, die er noch nie gesehen hat. Aber er muss eine Prüfung wiederholen. Und nun Jan. Der kann nicht mehr auf der grünen Bank sitzen und seine Frau eine „Schwester der Schakale“ nennen, weil sie vorgeschlagen hat, den Nussbaum zu fällen, da der zu viel Dreck mache. Nickel hört, wie Jan antwortet: „Der Baum bleibt, schämste dich nicht, Henny, versteh mal recht, wo ein Nussbaum steht, da gibt es keine Mücken und Gnitzen.“
Nun kann Oma Henny ihn ja fällen lassen. Sie hat nämlich Angst, dass er mal umkippt, wenn es stürmt, dass er ihr kleines Haus zerschlägt. Außerdem muss sie immer die Samenraupen wegräumen und die vielen schmierigen Blätter. Und dann wachse unter so einem großen Baum keine Blume. Nun kann der Baum weg. Der Mann, der dagegen war, lebt nicht mehr. Lebt nicht mehr. Ist tot. Lag zwischen den Blumen. Muss noch die Kamille gerochen haben. Hat noch einen Wurm gesehen oder einen Käfer oder einen Schmetterling. Hat mit den Händen noch einmal die Erde gefühlt. Mit der Stirn, mit dem Mund. Er soll nichts gemerkt haben, aber wer will denn das wissen? Das reden sich die Lebenden bloß ein. Opa Jan war sein bester Freund. Sein Vater ist nicht sein Freund, er ist der Vater, und wie Väter eben so sind, sie belehren, sie wissen alles besser. Sein bester Freund soll nun tot sein. Ob sie ihn verbrennen lassen? Dann müssen sie die Asche in eine Urne tun. Wer weiß aber, ob das auch wirklich Jans Asche sein wird. Oder sie begraben ihn und lassen den Sarg hinunter.“
Erstmals 1986 veröffentlichte Christa Grasmeyer ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Aufforderung zum Tanz“: Bettinas Freundin Nathalie meint, dass es altmodisch sei, immer bloß einen Mann zu lieben und dem auch noch ständig treu zu sein. Für moderne Liebe ist Bettina auch. Aber Arne, wie denkt er darüber? Hier der Anfang des 2. Kapitels:
„Jetzt kommt wieder das Heimweh. Bettina liegt auf ihrem Bett. Vielleicht wird sie einschlafen, bevor sich das Heimweh richtig an ihr festkrallen kann. Müde genug ist sie nach dem Tag in der Schule, und dann haben sie auch noch immer einen langen Weg bis zum Wohnheim, mit der S-Bahn und mit der U-Bahn, und zu Fuß, das dauert eine Stunde. Sie essen von den Vorräten, die sie unterwegs einkaufen. In dem kleinen Bad, das zum Zimmer gehört, waschen sie ihre Trikots und Slips und Strümpfe und hängen die Sachen über die Badewanne.
Wohnheim … Wer wohnt hier, wer fühlt sich hier heimisch? Bettina nicht. Das große Haus, die steinernen Treppen, die vielen Türen an den langen Fluren sind ihr unheimlich. Kann man die gekachelten Räume, in denen Herde und Kühlschränke stehen, überhaupt Küchen nennen? Kaum einer kocht darin, und die Schränke sind gähnend leer, denn Töpfe und Geschirr würden sofort verschwinden. Die Kühlschränke haben zwar verschließbare Fächer, aber die sind mit einiger List und Gewaltanwendung leicht zu öffnen und werden ausgeraubt, besonders in den letzten Tagen vor der Auszahlung der Stipendien. In einer Küche, wie Bettina sie kennt, riecht es gut, da ist es warm, da erzählt man, sitzt am Tisch und isst miteinander, da steht und liegt jedes Ding an seinem Platz, da spült man Geschirr, schält Kartoffeln, wischt den Fußboden, da scheint die Sonne herein durch die kleinen Fenster, von draußen, vom Garten …
Bettina seufzt. Draußen ist die riesige Stadt, eine Endlosigkeit von lauter fremden Straßen. Züge donnern in Bahnhöfe, über die Treppen schwappt eine Flut von Menschen, ergießt sich in Busse und Straßenbahnen, von denen Bettina nicht weiß, woher sie kommen und wohin sie fahren. Irgendwo ist ein Stadtteil, der Karlshorst heißt, darin steht ein Haus, ein Neubau, nach wenigen Jahren schon den Stempel der Verlotterung tragend, weil es für all die Studenten, die aus und eingehen, nur eine Unterkunft ist, nicht für die Dauer bestimmt, und hinter einer der unzähligen Türen, in einem der Zimmer, auf einem der Betten liegt sie. Bettina Stoll.
Ihre Stadt ist anders, da oben zwischen den Seen, auch nicht gerade klein, und voller Menschen, im Zentrum sogar überfüllt, denn die Straßen sind viel enger als hier, und Straßenbahnen und Busse und Autos schieben sich hindurch, und die Neubaugebiete sind wie überall. Und doch anders.
Vielleicht bloß deshalb, weil ich sie kenne, denkt Bettina. Was man kennt, ist nicht fremd. Mit der Zeit werde ich hier auch nicht mehr fremd sein. Aber dann sieht sie das Haus ihrer Eltern vor sich und die Gärtnerei, und sie reißt die Augen auf, um nicht das Haus zu sehen, die Haustür und die Stufen davor, sondern dieses Zimmer, in dem drei Stühle sind und ein Tisch und drei Betten, eins davon unbelegt, und das andere gehört Julia. Sie haben Glück, Bettina und Julia, dass sie nur zu zweit sind und ein bisschen mehr Platz haben als Doreen, Silke und Claudia im Zimmer gegenüber, auf der anderen Seite vom Flur. Julia hat Poster von Beatgruppen an die Wände gepinnt, daneben sehen Bettinas zwei Poster treuherzig aus. Auf dem einen sind Hunde, die erinnern sie an den guten Janko, und auf dem zweiten sind Blumen, die erinnern sie an den Garten.
Es ist gar nicht gut, wenn sie sich erinnert, Heimweh ist kindisch. Das soll sich mal einer vorstellen, mit sechzehn Jahren wälzt sie sich auf dem Bett und heult beinah vor Heimweh, vor Sehnsucht nach den Eltern, nach ihrem Zimmer zu Hause, das so hübsche Tüllgardinen und gedrechselte Regale hat, und auf den gelackten Dielen liegt ein bunter Teppich. Sogar nach Bernhard sehnt sie sich, dem spöttischen großen Bruder, ja, und nach Janko.
Julia hat sich von den Studenten der Artistenschule, die ein Stockwerk tiefer wohnen, beschwatzen lassen und ist zu Besuch runtergegangen. Julia hat kein Heimweh, Kunststück, sie stammt aus Potsdam und fährt jedes Wochenende nach Hause. Bettina ist in den sechs Wochen, die inzwischen vergangen sind, erst zweimal zu Hause gewesen, und hinterher hat sie sich scheußlicher gefühlt als vorher. Es ist wahrscheinlich unnormal. Man hockt nicht im Elternhaus bis ins hohe Alter. Aber Bettina hat da bisher eben immer gehockt, sie hat keine Krippe, keinen Schulhort gekannt, weil ihre Mutter in der Gärtnerei mitarbeitet, also in der Nähe, ständig greifbar und bei Bedarf abkömmlich. Vielleicht ist das der Grund. Es nützt ihr aber gar nichts, über den Grund zu grübeln. So wenig nützt es, als wolle man den Grund für eine Erkältung herausfinden. Deshalb schnieft und hustet man doch.
Sie ruft oft die Eltern an, das hat der Vater ihr eingeschärft. Mindestens zweimal in der Woche anrufen, natürlich als R-Gespräch. Dann plaudert sie munter ins Telefon. Würde sie klagen, käme der Vater nach Berlin gefahren, im Auto, um sein Kind in die Arme zu schließen und mit nach Hause zu nehmen. Gern würde er sie oft besuchen, und noch lieber würde er sie jedes Wochenende bei sich zu Hause haben. Aber erstens werden solche häufigen Heimfahrten von der Schule nicht gebilligt, und zweitens will Bettina doch Tänzerin werden, sie will es mit aller Macht. Dazu gehört, dass sie sich einlebt, hier in Berlin, dass sie ihr Heimweh überwindet.
Der Fragebogen zur Eignungsprüfung verlangte Angaben zur Konstitution, da konnte Bettina guten Gewissens schreiben, dass Bruder und Eltern und Großeltern mager sind und allesamt schlechte Nahrungsverwerter. Der Vater hatte den Kopf geschüttelt. Gute oder schlechte Futterverwerter, das spielt beim Schlachtvieh eine Rolle! Und als er seine Tochter zur Eignungsprüfung begleitete, widerwillig und im Stillen hoffend, sie würde abgelehnt, da ärgerte ihn, dass sie, wie sie ihm nachher erzählte, vor den Prüfern hatte stehen müssen und sich begutachten lassen und dass man ihre bloßen Füße in die Hand genommen und gebogen hatte. Wozu muss seine Tochter ihre Füße herzeigen und später peinigen beim Spitzentanz? Weil sie es nun mal wollte und weil sie die Eignungsprüfung bestand und weil er nicht imstande ist, ihr einen Wunsch abzuschlagen, hat er sie zur Aufnahmeprüfung erneut nach Berlin gefahren und seine Unterschrift gegeben, halb bekümmert, halb verdrossen, als habe man ihn veranlasst, eine Orchidee wider alle Vernunft aus dem Treibhaus zu nehmen und an einen Platz zu pflanzen, wo raue Winde wehen. Seitdem lauert er auf ein Anzeichen von Verwelken, von Verkümmerung. Bettina sieht beim Telefonieren den Vater vor sich, wie er argwöhnisch auf den Klang ihrer Stimme lauscht, und sie erzählt nur Gutes und Erfreuliches. Wenn ihre Mutter am Telefon ist, lässt sich Bettina gehen, denn die Mutter bleibt gelassen. Die Mutter antwortet zwar verständnisvoll, aber doch mit einer gewissen Bestimmtheit: „So was macht jeder mal durch, Betti, das gibt sich.“ Und dann lenkt sie ab, dann sagt sie zum Beispiel: „Neulich hat mich Viviane nach dir gefragt …“
Ach ja, Vivi! Jahrelang ist Bettina mit Vivi zur Schule gegangen. Sie haben zusammen Tennis gespielt, das konnte Vivi besser als Bettina, und im Winter flitzte Vivi mit Schlittschuhen übers Eis und zog Bettina an der Hand mit. Wenn Bettinas Tanzgruppe einen öffentlichen Auftritt hatte, klatschte Vivi Beifall und bewunderte die Freundin, denn nichts bewundert man so wie das, was man selber überhaupt nicht kann. Grazie geht Vivi ab, sie ist ein sportlicher Typ, furchtlos und klug, sie besucht die Schule weiter bis zum Abitur, und danach will sie Chemie studieren. Aber was Bettina macht, worauf die sich vorbereitet, das findet Vivi viel schöner. Für Vivi schwebt die Ballettschule irgendwo über den Wolken, selbst die alltägliche Schinderei, von der Bettina ihr berichtet, erscheint Vivi als nicht ganz von dieser Welt. Sie wäre enttäuscht, wenn sie Bettina jetzt sehen könnte, verzagt auf dem Bert liegend. Es ist eigentlich merkwürdig und ein bisschen traurig und doch wohl unabänderlich, denkt Bettina, dass Vivi ihr in den wenigen Wochen schon so ferngerückt ist. Nathalie dagegen ist ihr nähergekommen.
Bettina setzt sich auf. Sie nimmt sich vor, Nathalie morgen von diesem Heimwehkrankheitsanfall zu erzählen, jedes Mal, wenn Bettina zu Hause anruft, erkundigt sich Nathalie hinterher, was sie gesagt hätte und was die Eltern gesagt hätten und wer am Telefon gewesen sei. Zu Bettinas Verwunderung hat sich herausgestellt, dass Nathalie bereits bei der Eignungsprüfung Bettina und ihren Vater aufmerksam in Augenschein genommen hat. Sie hat den Blick gesehen, mit dem der Vater seiner Tochter nachschaute, als sie in den Prüfungsraum ging, und die Bewegung, mit der er sie an sich zog, als sie wieder herauskam. Obwohl Nathalie auf dem langen Flur ein Stück entfernt stand, allein übrigens, und nicht hören konnte, was zwischen den beiden gesprochen wurde, hat sie doch von Bettinas Gesicht die Freude über das Ergebnis abgelesen und vom Gesicht des Vaters, dass er diese Freude nicht teilte.
Bettina stellt ihren Rekorder an und lässt das Band laufen, bis sie den Walzer findet, den sie kürzlich mal mitgeschnitten hat. Sie kreuzt die Beine im Schneidersitz und tanzt mit dem Oberkörper, mit Kopf und Armen. Die Musik bringt sie ins Träumen. Sie hat Spitzenschuhe an, sie wirbelt über die Bühne, Touren beherrschend, deren Schwierigkeit sie natürlich nie bezwingen wird. So können nur die ganz Großen tanzen, die international bekannten Ballerinen, denen man Blumen auf die Bühne wirft und Liebesbriefe schreibt. Sie, Bettina Stoll, hat noch nie einen Liebesbrief bekommen, sie hat sogar noch nie einen Freund gehabt und ist schon sechzehn!
Julia kommt herein. Sie hat auf dem Flur den Walzer gehört, und als sie Bettina in Pose auf dem Bett sitzen sieht, geht sie ebenfalls in Pose. Für Schritte ist kein Platz im Zimmer. Und dann erscheint Claudia von gegenüber. Sie hat einen Schnellhefter in der Hand, vielleicht will sie irgendwas bereden wegen der Lernkonferenz. Geltungsbedürftig, wie sie ist, kümmert sie sich gern um solche Sachen, als Ausgleich gewissermaßen, denn ansonsten hat sie schwer zu kämpfen. Alle anderen verfügen über eine größere Beweglichkeit als sie, zumal in den Hüftgelenken, und soviel sie auch übt und ihre Beine zu spreizen versucht, sie macht keine wesentlichen Fortschritte.
„Ihr hört Weber“, stellt Claudia fest. „Webers ‚Aufforderung zum Tanz‘. Kennt ihr den pas de deux, der danach getanzt wird?“
Bettina und Julia kennen ihn nicht. Claudia lächelt überlegen, aber was nützt es ihr schon, dass sie die beiden Unwissenden belehren kann, dieser pas de deux sei in der ganzen Welt bekannt unter dem Titel „Geist der Rose“ und gehöre zum Repertoire der berühmtesten Tänzer. Was nützt das angesichts der spielerischen Leichtigkeit, mit der Bettina ihre Fußsohlen aneinander und die Knie links und rechts auf die Bettdecke legt?
Claudia sagt: „Julia ist wohl der Rosengeist, und du, Betti, stellst das Mädchen dar? Besser, ihr würdet Vokabeln lernen.“
Bettina antwortet nicht, aber Julia wirft den Kopf zurück. „Und wer bist du? Du bist der Geist, der einen ewig nervt.“
„Keine Bange“, sagt Claudia, „ich verzieh mich schon. Ich verzichte drauf, dich zu fragen, wo du den ganzen Abend wieder gewesen bist.“
Sie geht.
„Das bringt sie bei der Lernkonferenz vor, sollst sehen“, sagt Julia. „Wer verplempert seine Zeit, wer dallert abends rum, anstatt zu lernen oder auszuruhen? Julia!“ Sie lässt sich mit einem Seufzer auf ihr Bett fallen. „Die da unten“, sie deutet auf den Fußboden, „die haben Beat an. Was anderes als Beat ist mir früher nie in die Beine gefahren. Jetzt also Weber! Das hätt ich mir nicht träumen lassen.“
Sie hat sich vieles nicht träumen lassen. Ohne einen blassen Schimmer zu haben, was Ballett bedeutet, ist Julia auf eine Zeitungsanzeige hin zur Eignungsprüfung gefahren. Sie wurde angenommen, weil ihre körperlichen Voraussetzungen gut sind. Seitdem erlebt sie täglich von Neuem die Überraschung, dass sie all ihre Gewohnheiten umstellen muss.
„Wärst du hergekommen, wenn’s dir vorher einer gesagt hätte?“, fragt Bettina.
„Nie im Leben!“
Bettina lacht. Ihr gefällt, dass Julia so ehrlich ist. Keins der anderen Mädchen, auch sie selber nicht, würde zugeben, sozusagen aus Versehen hier gelandet zu sein.
„Oder doch“, fügt Julia hinzu, „weil ich’s nämlich nicht geglaubt hätte. Ich hab gedacht, ich lern hier tanzen. Das ahnt doch kein Mensch, dass man hier gehen und stehen und hören und sehen lernt.“
„Sehen auch?“
„Und ob! Denkst du, ich habe mir früher jemals die Haare hochgesteckt? Angeblich sieht das schön aus. Und immer ordentlich angezogen sein, sonst heißt es gleich, man ist schlampig. Neulich sagte Frau Reichert zu mir: ‚Dieser Pullover, meine liebe Julia, ist ja ein grausiges Kleidungsstück, verblichen und ausgeleiert. Siehst du gar nicht, wie dich das verunstaltet?‘ Und ein andermal hat sie gesagt: ,Du hast ein Loch im Trikot, meine liebe Julia, das möchte ich morgen gestopft sehen.‘ Blablabla. Weißt du, Bettina, dies ist keine Berufsausbildung, dies ist eine Anstalt, wo man von Kopf bis Fuß umgekrempelt wird.“
„Ja“, sagt Bettina nachdenklich. „Die Kleinen werden gleich so hingedrillt. Wir haben’s schwerer, bei uns gibt’s schon allerhand umzukrempeln. Würdest du deshalb wegwollen, zurück nach Hause?“
„Jetzt nicht mehr. Zuerst ja, da hab ich gedacht, was die hier von mir wollen, schaff ich nie, besonders in Klassisch. Jazz hat mir von Anfang an Spaß gemacht, der Rhythmus geht mehr ein. Weber!“, sagt sie verächtlich. Sie stützt sich auf, lässt den Kopf in den Nacken sinken und schüttelt ihr lang herabhängendes Haar. „Aufforderung zum Tanz? Zum Einschlafen, würd ich euer denken.“ Dann sieht sie Bettina auf einmal ganz ernsthaft an. „Meinst du, sie werden mich wegschicken, weil meine Ohren taub bleiben für Weber und Tschaikowski und all diese Leute, die Ballettmusik geschrieben haben?“
.„Keine Spur! Du bist reingekommen, hast den Walzer gehört und sofort reagiert. Du hast sehr wohl die Aufforderung verstanden.“
„Hab ich?“, fragt Julia und antwortet sich selbst, beinah verwundert: „Ja!“
„Und jetzt fordre ich dich auf.“ Bettina geht zum Tisch, nimmt ein Vokabelheft und fängt an: „Was heißt préparation?“
„Vorbereitung.“
„Courbé?“
„Gebogen.“
„En arrière?“
„Rückwärts.“
„Mach du weiter!“
„Effacer les èpaules?", fragt Julia.
„Schultern zurücknehmen.“
„Sur la pointe du pied?“
„Auf der Fußspitze.“
„Aplomb?“
„Standfestigkeit.“
Sie werden belohnt. Am nächsten Morgen bittet die Französischlehrerin Bettina an die Tafel. Die Französischlehrerin ist eigentlich keine richtige Lehrerin, sondern Dolmetscherin und Übersetzerin. Die Arbeit an der Ballettschule, einmal in der Woche, hat sie zusätzlich übernommen. Sie unterrichtet, als habe man sich in geselliger Runde zusammengefunden. Sie führt ein Gespräch, sie bittet, sie fragt: „Bettina, haben Sie Lust, an die Tafel zu gehen?“ Keiner ist bis jetzt auf die Idee gekommen, zu sagen: Nein, ich habe keine Lust. Aber wenn einer es täte, würde sie vielleicht sagen: Eb bien, dann beim nächsten Mal. Bettina schreibt flott und ohne einen Fehler, und die Lehrerin bedankt sich, merci beaucoup, und gibt ihr eine Eins.“
Erst kürzlich erschien in einer Eigenproduktion der EDITION digital „Paulchen, Schnaps und Schweinespeck“ von Wilhelm Eickhoff und Irma Köhler-Eickhoff – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Während der Feier zum 100-jährigen Bestehen eines kleinen Bauernhofes am südwestlichen Ausläufer der Lüneburger Heide wurden zu vorgerückter Stunde bei Wein und Bier Geschichten und Erlebnisse aus den vergangenen Zeiten erzählt. Da war von harter Arbeit, Moorbränden und vielen Hochwassern, aber auch Feiern, Schnapsbrennen, Schweinen und vielem mehr die Rede. Sicher hatte der eine oder andere auch etwas übertrieben und nicht immer waren die Erinnerungen vollständig, einiges wurde auch reichlich ausgeschmückt. Aber es waren viele tolle Geschichten und aufregende Erlebnisse. Die alte Zeit war buchstäblich wieder aufgelebt. Das war Ansporn für die Autoren. So entstanden 33 teils humorvolle, teils komische, aber auch einige ernste, nachdenkliche Geschichten über die Erlebnisse mit diesem Haus, seinen Bewohnern und dem Leben in dem kleinen Moordorf. Sie handeln von Paulchen und seiner Familie. Er wurde 1950 als letztes Kind in dem Haus geboren und ist dort aufgewachsen. Das Dorfleben ermöglichte ihm eine große Freiheit, barg aber auch Gefahren. Zusammen mit Freunden hatte er manche gefährliche Situation zu bestehen. Aber immer wieder waren der Schnaps und die Schweine Arbeit, Ärgernis oder Glück in seinem Leben. Seine Liebe zu den Tieren begleitete ihn beim Erwachsenwerden und führte auch zu einigen speziellen Abenteuern. Die Geschichten beschreiben den Alltag von Paulchen, sind aber im Rückblick manchmal urkomisch. Namen und Orte wurden geändert. Aber so oder ähnlich hat es sich damals zugetragen mit Paulchen, dem Schnaps und dem Schweinespeck. Um auf den Geschmack zu kommen, hier eine kleine (destillierte) Kostprobe:
„Die Destille
Wie viele in unserem Dorf, brannte auch mein Großvater leidenschaftlich gern und viel Schnaps. Gerade während der Kriegsjahre, als es wenig oder gar keinen Alkohol mehr zu kaufen gab, praktizierte er sein Hobby ausgiebig. Er achtete immer darauf, dass genug Vorrat im Haus war, denn die nächste Familienfeier, und sei es nur eine Beerdigung, kam bestimmt. Vor allem aber schmeckte ihm selber der Schnaps zu allen Gelegenheiten. Außerdem war der Selbstgebrannte eine begehrte Tauschware für schwer zu beschaffende Ersatzteile, die immer mal wieder auf dem kleinen Bauernhof benötigt wurden.
Da war es nur eine Frage der Zeit, bis eines Tages überraschend die Polizei bei Gustav vor der Tür stand. Das Schnapsbrennen war natürlich verboten und wurde während des Krieges besonders streng verfolgt. Die beiden Polizisten der nahegelegenen Kleinstadt waren bei einer ihrer Kontrollfahrten durch unser Dorf durch den unverwechselbaren Geruch auf das Brennen aufmerksam geworden. Sie drohten meinem ertappten, aber durchaus geständigen Opa zunächst mit einer harten Haftstrafe, ließen dann aber nach einigen Diskussionen Gnade vor Recht ergehen. Es wurde heftig verhandelt, wobei auch der eine oder andere Schnaps probiert und bewertet wurde. Ob die Qualität der Schnäpse die Höhe der Strafe beeinflusst hat, wurde nie bekannt. Schließlich einigte man sich auf Folgendes: Jeder Polizist bekam vorab und stillschweigend eine Flasche des besten Selbstgebrannten und Opa bekam eine saftige Geldstrafe und die Auflage, alle Gerätschaften für das Brennen in Celle beim Gericht abzugeben. Natürlich durfte zukünftig kein Schnaps mehr gebrannt werden. Damit war die Haftstrafe kein Thema mehr. Die Polizisten zogen wieder ab und ein betrübter Schnapsbrenner blieb nachdenklich zurück.
All seine Gerätschaften abzugeben, war für meinen Großvater ein herber Verlust, denn erst vor einigen Jahren hatte er die wichtigsten Teile der Apparatur erneuert. Alles noch einmal zu kaufen, konnte er sich nicht leisten. Auch wurmte es ihn unendlich, dass ausgerechnet er erwischt worden war. Opa dachte einige Tage über seine anscheinend ausweglose Situation nach und begann dann in der Scheunenecke, in der sich einiges Gerümpel angesammelt hatte, nach den alten, ausgewechselten Teilen zu suchen. Tatsächlich fand er alles, was er suchte. Er setzte die alten Teile zusammen. Fast wäre das Gerät vollständig funktionsfähig gewesen. Aber eben nur fast. Opa blieb nichts anderes übrig, als nach und nach alle Nachbarn zu besuchen, seine Situation und seinen Plan zu erklären und die Kollegen um Hilfe zu bitten. Sein Pech hatte inzwischen im Dorf schon die Runde gemacht und sowohl für Schadenfreude als auch für Mitleid gesorgt. Da fast alle heimlichen Schnapsbrenner auch schon mal einige Teile ihrer Destille ausgewechselt hatten, fanden sich bei den hilfsbereiten und mitfühlenden Kollegen nach und nach die noch fehlenden Teile. Froh darüber, nicht selbst erwischt worden zu sein, überließen sie meinem Großvater gerne die alten, ausrangierten Geräte. So konnte mein Opa nach einigen Tagen alles komplett zusammenschrauben und eine etwas lädierte, aber durchaus funktionsfähige Destille auf seinen Ackerwagen laden.
Am folgenden Tag spannte er die Pferde an und fuhr gemächlich den weiten Weg nach Celle zum Gericht. Für ihn war es ein nicht enden wollender Leidensweg. Endlich angekommen, wurde dort von den Beamten alles genau kontrolliert. Sie prüften, ob er auch alle notwendigen Teile der Apparatur mitgebracht hatte und ob die Anlage voll funktionsfähig war. Skeptisch wurden die einzelnen Teile begutachtet, und schließlich schmunzelnd und augenzwinkernd von den Kontrolleuren akzeptiert.
Die Gerichtsdiener waren aber erst zufrieden, nachdem Opa auch seine Geldstrafe bar bezahlt hatte. Dies schmerzte ihn damals sehr, denn Bargeld war immer sehr knapp auf dem Hof. Tief betrübt und verärgert ließ Opa sich von seinen Pferden wieder den langen Weg nach Hause ziehen. Zum Glück hatte er sich vorsorglich einen Flachmann eingesteckt. Der half ihm jetzt, den Verlust zu ertragen.
Natürlich wurde mit der geretteten, neueren Destille weiterhin fleißig Schnaps gebrannt. Birnen, Mirabellen und Äpfel waren besonders beliebt. Doch meine Oma achtete sehr darauf, dass nicht das gesamte Obst zum Schnapsbrennen verwendet wurde, sondern auch noch genug für die Familie zum Essen übrig blieb. Deshalb wurden nach dem ersten Frost Schlehen gesammelt, um auch daraus Schnaps zu brennen. War auch der getrunken, brannte mein Opa seinen Schnaps sogar aus Rüben oder Kartoffeln. Doch vorab erkundete er die Zeiten, zu denen die Polizisten regelmäßig ihre Kontrollfahrten durch unser Dorf machten. Mit den anderen heimlichen Schnapsbrennern wurde nach und nach ein richtiges Alarmsystem vereinbart, sollte die Polizei unverhofft gesichtet werden. Da das meist tagsüber geschah, wurde zukünftig nur noch nachts Schnaps gebrannt. Einige Male kamen die Polizisten direkt zu Opa zur Kontrolle. Der bewirtete sie dann jedes Mal mit einem Schnaps aus seinen „allerletzten“ Restbeständen. Aus den Polizisten wurden mit der Zeit fast Freunde und ungebetene Razzien gab es lange Zeit nicht mehr. Obwohl Opa noch glimpflich davon gekommen war und auch weiter Schnaps brennen konnte, wurmte ihn diese Geschichte noch sein ganzes Leben lang.
Immer wenn er viele Jahre später mit mir durch Celle fuhr und wir am Gericht vorbeikamen, zeigte er mit dem Finger auf das große Gerichtsgebäude: „Dor häv ik dat allns henbring möst“, pflegte er dann zu sagen. „Wat för ne Schande“, und dann erzählte er von den Kriegsjahren und wie es ihm immer wieder gelungen war, kleine Nischen zu finden, um seinem Hobby, dem Schnapsbrennen, nachzugehen. Mir wurde nie klar, ob ihn das Erwischtwerden, der Verlust der Destille oder die Geldstrafe mehr geschmerzt hatten. Einen guten Schnaps hat mein Opa noch bis ins hohe Alter immer gern und mit Genuss getrunken.“
Erstmals 2016 veröffentlichte EDITION digital in einer weiteren Eigenproduktion ebenfalls als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book den reich bebilderten Band „Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision der Nationalen Volksarmee der DDR“ von Dietrich Biewald: Mit diesem Buch über die Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision hat der Autor allen Pionieren dieser Division ein Denkmal gesetzt. Obwohl unter den Bedingungen der Geheimhaltung in der Nationalen Volksarmee nur wenig Material zur Verfügung stand, hat er mit Hilfe der Angehörigen der Pionierkameradschaft umfangreiche Informationen und fast 800 Bilder über Struktur, Umfang, Gliederung und Aufgaben der Pioniere sowie über die Menschen, ohne die das alles nichts gewesen wäre, zusammengetragen. Außerdem stellt er die DDR-Standorte der MSD und der Sowjetarmee mit dem Stand von 2006 gegenüber, mit Fotos belegt. Hier ein Ausschnitt über den Standort Schwerin:
„Pioniere im Stab der 8. Motorisierten Schützendivision
Schwerin
Der Standort in der Stadt Schwerin, die „Kurt-Bürger-Kaserne“ in der Werderstraße, mit Ausfahrten „Am Güstrower Tor“ sowie in der Walter-Rathenau-Straße (später auch Personen-KDL), beherbergte den Stab der 8. MSD mit der Unterabteilung Pionierwesen.
Der Block in der Werderstraße gehörte teils zum Stab der 8. MSD (ca. 70 % des obigen Bildausschnittes von rechts nach links). Den anschließenden Teil nutzte das Nachrichtenbataillon 8. Rechts (nur die linke Kante sichtbar) folgte das Gebäude des Wehrbezirkskommandos. Dazwischen lag anfangs die Eingangswache, der KDL (Kontrolldurchlass).
Später verlegte man auch den Personen-KDL zur bereits bestehenden Fahrzeugeinfahrt Walter-Rathenau-Straße. Ihn nutzt heute noch die Bundeswehr.
Links in dem abgebildeten Flachbau befanden sich die Küche und Speiseräume sowie die Bekleidungskammer des Divisionsstabes. Ganz oben im Vorderteil des nächsten alten Blockes lag der sogenannte MZR, der Mehrzweckraum für Dienstversammlungen und andere Veranstaltungen. Außerdem befanden sich darin die Räumlichkeiten der Militärstaatsanwaltschaft und des Militärgerichtes. Den größten Teil im hinteren Ende und nur von außen zugänglich, nutzte die UKA, die Unterkunftsabteilung Schwerin, die nicht zur 8. MSD gehörte.
Auf der diesen Bauten gegenüberliegenden Seite der Kaserne an der Straße „Am Güstrower Tor“, lagen sozusagen spiegelbildlich fast gleiche Gebäude. Eines nutzte man als Küchengebäude für die Einheiten, welche sich noch mit im Objekt befanden. Der größere Bau beherbergte teils Unterkünfte der Stabskompanie 8, teils Lehrklassen u. a. m.
Im Jahr 2004 existierte die Kaserne in der Werderstraße 100 Jahre. Beim Tag der Offenen Tür am 18. Juni 2004, trafen sich eine ganze Reihe ehemaliger Soldaten an der Stätte ihres einstigen Wirkens, besahen sich das, was davon noch steht, was sich in der Zwischenzeit veränderte und das wenige, das sich davon noch in militärischer Nutzung befindet.
Einige Daten aus der Geschichte Schwerins, der Stadt der Seen und Wälder
Im Jahre 1160 erfolgte die Gründung Schwerins durch Heinrich den Löwen nach seinem Sieg über den Obotritenfürsten Niklot. Sieben Jahre später entstand die Grafschaft Schwerin.
Aus militärischer Sicht bedeutsam: 1340 beendete man den Bau der Stadtmauer. 1358 wurde Schwerin ein Herzogtum.
Wallenstein erhielt 1628 den Titel Herzog von Mecklenburg.
Napoleons Truppen besetzten von 1806 – 1813 die Stadt.
Ab 1815 war Schwerin Großherzogtum.
1845 bis 1857 erfolgte der Umbau des Schweriner Schlosses.
Auf dem Schweriner See begann 1852 das Dampfschiffzeitalter.
1856 eröffnete das neue Theater.
1862 stellte man die „Artilleriekaserne“ auf dem Ostorfer Berge fertig (Johannes-Stelling-Straße). Bis dahin logierten die Soldaten außerhalb der Kasernen in Privatquartieren!!! Die Neuformierung der mecklenburgischen Truppen erforderte den Bau von „Quartierhäusern“, also neuer Kasernen. Dazu gehörten in der Güstrower Straße die Jägerkaserne, nach 1870 bezugsfertig sowie in der Werderstraße die heutige Werderkaserne, deren Bau 1901 bis 1904 erfolgte.
1892 erbaute man den 117,5 Meter hohen Turm des Schweriner Domes.
Ab 1908 nahm die elektrische Straßenbahn ihren Betrieb auf. Eine Linie endete direkt vor der Kaserne in der Werderstraße. Man erzählte sich, dass des Nachts, wenn die „Elektrische“ eine Ruhepause erhielt, einige Herren, welche um diese Zeit oft nicht mehr ganz nüchtern den Weg zur Werderstraße suchten, ihren Säbel mitsamt Scheide in die Rinne eines Straßenbahngleises absenkten. Endete diese, war man am Ziel: der Kaserne.
1918 dankte der letzte Großherzog, Friedrich Franz IV., ab und Schwerin wurde erstmalig Landeshauptstadt, von Mecklenburg.
Im Zuge der Aufrüstung im 3. Reich errichtete man weitere Kasernen, die Anfang des neuen Jahrtausend zu großen Teilen dem Abriss zum Opfer fielen und Platz für neue Bebauung schufen.
1945, mit Ende des Zweiten Weltkrieges, besetzten zunächst englische, nach einem Monat amerikanische und ab Juli 1945 sowjetische Truppen die Stadt.
Mit der Abschaffung der Länderstrukturen erfolgte die Bildung von Bezirken in der DDR. 1952 erhielt Schwerin den Status einer Bezirkshauptstadt. 1971 begann in Schwerin der Bau des Neubaugebietes Großer Dreesch, errichtet auf dem ehemaligen großherzoglichen Exerziergelände.
Zunächst an dessen Rand erbaut, entstand ein neues Wahrzeichen, der Schweriner Fernsehturm, welcher infolge der rasanten Bautätigkeit alsbald mitten im Wohngebiet lag.
1972 erreichte Schwerins Einwohnerzahl die 100 000 und Schwerin damit den Status einer Großstadt. Diese Zahl kletterte danach bis über die Höhe von 130 000.
Es entstanden das Klement-Gottwald-Werk, das Kabelwerk Nord, das Plastverarbeitungswerk, das Molkerei- und Dauermilchwerk, das Plastmaschinenwerk, das Hydraulikwerk, das Lederwarenwerk etc.
Mit der Auflösung der Bezirksstrukturen in der DDR und der Bildung des neuen Landes Mecklenburg-Vorpommern entspann sich ein Kampf darüber, wer sich nun die Krone der Hauptstadt dieses Landes aufsetzen darf. Am 27. Oktober 1990 entschied sich der neue Landtag: Schwerin erhielt wiederum den Status einer Landeshauptstadt, diesmal den von Mecklenburg-Vorpommern.
1993 verließen die letzten Einheiten der sowjetischen Streitkräfte die Stadt Schwerin.
Schwerins Einwohnerzahl sank so Anfang des neuen Jahrtausends wieder unter die Zahl 100 000, Schwerin ist somit keine Großstadt mehr. In die Mehrzahl der bis dahin von der NVA genutzten Kasernen zogen Truppen der Bundeswehr ein.
Ehemalige Pioniere der Nationalen Volksarme bildeten am 24. November 1995 die Pionierkameradschaft Schwerin.
Man sieht, Schwerin besitzt eine lange Tradition als Garnisonsstadt.
Schwerin bot den Soldaten viel Sehenswertes, sowohl an Bauten als auch der schönen Umgebung und nicht zu vergessen was Soldaten besonders im Ausgang reizte: Kneipen wie Mädchen sah man reichlich. Viele gab es sogar im Schloss, zeitweilig genutzt als Internat der Schule für Kindergärtnerinnen.
Die Unterabteilung Pionierwesen der 8. MSD
Im Stab der Division, später offiziell als Führungsorgan der 8. MSD bezeichnet, gab es den Leiter Pionierdienst (LPiD)/später Leiter Pionierwesen (LPiW), auch Leiter der Unterabteilung Pionierwesen (LUA PiW) genannt. Dazu gehörten zwei Offiziere: ein Oberoffizier für die operative Arbeit sowie einer für den pioniertechnischen und den versorgungsmäßigen Bereich. Ein Schirrunteroffizier (meist der „Schreiber“ genannt) ergänzte den Personalbestand.
Zeitraum nicht bekannt: Oberstleutnant Dohle, Hans?, LPiD/LPiW
Zeitraum nicht bekannt: Oberstleutnant Baumgart, Martin, LPiD/LPiW; Major Mony, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
bis 07/1965: Oberstleutnant Lenz, Willi, LPiD/LPiW; Major Mony, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
07/1965 bis 31.08.1968: Oberstleutnant Schulze, Gottfried, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Rehfeld, Gerhard, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
01.09.1968 bis 31.10.1978: Oberstleutnant Lemke, Kurt, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Biewald, Dietrich, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim/ Major Schmidt, Jochen, OO Pi-Versorgung
01.11.1978 bis 28.02.1986: Oberstleutnant Biewald, Dietrich, LPiD/LPiW; Major Schmidt, Rainer, Oberstleutnacht Schmidt, Jochen, OO Operative Arb; Major Schmidt, Jochen/Oberstleutnant Normann, Heiko, OO Pi-Versorgung
01.03.1986 bis 1988: Oberstleutnant Beckmann, Wolfgang, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Schmidt, Jochen, OO Operative Arb; Oberstleutnant Normann, Heiko, OO Pi-Versorgung
1988 bis1990: Oberstleutnant Richter, Norbert, LPiD/LPiW; Major Winkelmann, Harald, OO Operative Arb; Oberstleutnant Normann, Heiko/Hauptmann Fritsche, Stefan, OO Pi-Versorgung
OO Pi-Versorgung ab 1.10.89: OO PiTeSst.
Der Leiter Pionierwesen
unterstand direkt dem Kommandeur der Division, ab 1986 dem Stabschef.
Er fungierte als direkter Vorgesetzter des PiB-8 (bis 1986) sowie als fachlicher Vorgesetzter der Truppenpioniere und des Divisionspionierlagers.
Darüber hinaus oblag ihm die fachliche Zuständigkeit für die Pionierausbildung, -ausrüstung und -versorgung der anderen Truppenteile und Einheiten in der Division.
Im Einsatz besaß er die Verantwortung für die Pioniersicherstellung der Handlungen der Division. Dafür erhielt er Arbeits- und Führungsmittel, welche jedoch erst in den 80-er Jahren einen Stand erreichten, die ihm aus dieser Sicht eine relativ gute Erfüllung seiner Aufgaben ermöglichten, was vorher nicht ausreichend der Fall war, insbesondere im Bereich der Nachrichtenverbindungen zu seinen Nachgeordneten.
Dem Leiter Pionierwesen der Division standen dafür zur Verfügung:
– eine Funkstation R 145 auf Basis des SPW 60 PB,
– eine Funkstation R 142 auf Basis des LKW GAS 66 Koffer sowie
– ein Stabsfahrzeug ausklapp
EDITION digital wurde vor 25 Jahren von Gisela und Sören Pekrul gegründet und gibt Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1.000 Titel (Stand Mai 2019).
EDITION digital Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Telefon: +49 (3860) 505788
Telefax: +49 (3860) 505789
http://www.edition-digital.de
Verlagsleiterin
Telefon: +49 (3860) 505788
Fax: +49 (3860) 505789
E-Mail: editiondigital@arcor.de
Fridays for Future, Wege ins Leben, Schnapsgeschichten und ein Stück DDR-Militärgeschichte – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Bei den anderen Angeboten bleibt es dagegen bei den bekannten Sonderpreisen und – wie auch in diesem Newsletter – sogar bei einem Supersonderpreis wie immer am Ende dieser Ausgabe. Und nun zu den aktuellen Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 31.05.19 – Freitag, 07.06.19) zu haben sind. Zwei Dinge haben die ersten beiden Angebote von Heinz Kruschel und Christa Grasmeyer, „Endlich ein Mann sein“ und „Aufforderung zum Tanz“ gemeinsam – sie erschienen erstmals gedruckt fast zeitgleich 1986 und 1987 im Verlag Neues Leben Berlin und sie befassen sich mit jungen Leuten jener Jahre, ihren Ansprüchen, Wünschen und Träumen und mit ihren auch damals schon nicht einfachen Wegen ins Leben. Ein ganz ähnliches Thema bewegt übrigens auch den Autor des heutigen Supersonderpreis-Angebotes, aber mehr dazu wie gesagt erst am Ende dieser Ausgabe.
Lustige und traurige Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen Wilhelm Eickhoff und Irma Köhler-Eickhoff in „Paulchen, Schnaps und Schweinespeck“.
Mit der Geschichte der „Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision der Nationalen Volksarmee der DDR“ befasst sich Dietrich Biewald – ein Stück seines eigenen Lebens. Und damit zum allerersten Fridays-for-Future-Angebot:
Erstmals 2011 hat EDITION digital in einer Eigenproduktion den fantastischen Roman „Tornado – Die tödlichen Rüssel“ von Klaus Möckel herausgebracht: Im Küstenland Hahl vollzieht sich eine gewaltige Umgestaltung. Brachliegende Strände sollen für den Tourismus erschlossen, Hotels und Vergnügungszentren erbaut werden. Probleme bereitet noch das unwirtliche Klima, doch eine geniale Lösung scheint gefunden: Vulkane sollen angezapft und mit ihrer Glut eine warme Meeresströmung bis in die Bucht vor Hahl geführt werden. Der Journalist Vangrin erhält das Angebot, dieses Projekt mit seinen Reportagen zu begleiten. Da er in letzter Zeit privat wie beruflich einige Niederlagen einstecken musste, sieht er in dem Auftrag eine neue Chance. Zumal das Angebot vom Manager des Baukonzerns kommt, einem früheren Freund und Mitstudenten. Das gigantische Vorhaben, das tief in die Natur eingreift, stößt nicht nur auf Zustimmung. Während die lokale Wirtschaft, die Sex- und Unterhaltungsbranche von hohen Gewinnen träumt und manche jungen Leute Aufstiegsmöglichkeiten erhoffen, befürchten die Küstenfischer das Ausbleiben der Fischschwärme, die Umweltschützer Verschmutzung und Zerstörung der Natur. Das Anheizen des Meeres birgt Gefahren, die nur schwer abzuschätzen sind. Der Journalist gerät in einen Konflikt, weil sich über der See erste „Rüssel“, kleine Tornados, bilden. Seine Lage wird noch schwieriger, als er sich in die Freundin seines Auftraggebers verliebt. Mit dem Fortschreiten des Projekts, dem Bau immer neuer Hotels, aber auch Industrieanlagen spitzt sich die Situation zu. Der Konzern will seine Ziele unbedingt erreichen, die Gegner rufen zu Widerstand und Sabotage auf. Auch Vangrin muss letztlich erkennen, dass er nicht neutral bleiben kann. „Tornado …“ ist ein Roman voller Spannung und Konflikte. Liebe, Hass und Hoffnung beschwören dramatische Situationen herauf. Unaufhaltsam treibt die Handlung einer Katastrophe entgegen. Ein zerstörerischer Wirbelsturm, der das Meer aufwühlt und an Land alles mit sich reißt, stellt die Akteure auf eine letzte harte Probe. Hier der Beginn dieses spannenden Buches:
„I. Der Aufbruch
1
Der Mann, einen dunklen Umhang um die Schultern und die Kapuze in die Stirn gezogen, hatte keuchend den Hügel erklommen. Unter ihm lag die Stadt Hahl mit ihrem Hafen und den Stränden, weiter hinten dehnte sich leicht wellend und scheinbar unendlich das Meer. Eine falbe Abendsonne ließ ihre Strahlen durch die Wolken sickern, schnitt eine glitzernde Bahn ins Wasser. „Fuego corriente“ flüsterte der Mann, „ihr dürft es nicht, haltet ein!“ Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf; er kauerte sich auf den Boden, murmelte unverständliche Worte. Doch die Ruhe, die er suchte, verweigerte sich. Zwar schlummerte er, an einen Federbaumstamm gelehnt, schließlich ein, aber Alpträume schienen ihn zu quälen. Sie schüttelten ihn, ließen ihn ein ums andere Mal zusammenzucken.
Fuego corriente, fließendes Feuer, so hieß eine warme Meeresströmung, die in den letzten Jahren im Land für Aufregung gesorgt hatte. Weit im Süden, dort wo unablässig eine heiße Sonne brannte und ein gleichmäßig kräftiger Wind die Wellen peitschte, nahm sie mitten im Ozean ihren Ursprung. Sie sog die Hitze des Himmels in sich ein, wirbelte sie in die Tiefe und bildete ein kilometerbreites Band, das sich immer mehr von den kalten Fluten abgrenzte. Diese Fluten machtvoll zerschneidend, schäumte die Strömung mit großer Geschwindigkeit nach Nordosten.
Fuego corriente war ein gewaltiger tiefreichender Fluss im Meer, der Tausende und Abertausende Seemeilen dahinströmte, dem Mondkontinent ein freundliches Klima brachte, die Wanderklippen und die Westinseln umspülte, um endlich vor der bergigen Küste der Stadt Hahl zu verebben. Den Ländern hier gab er nur noch wenig von seiner Wärme ab. Lediglich in besonders günstigen Jahren setzte er der rauen Gebirgsluft seinen milden Atem entgegen, ermöglichte einen etwas längeren Sommer und eine reichere Ernte. Meist jedoch schien die Luft mit Eisnadeln durchsetzt, die feinsandigen Strände westlich von Hahl dehnten sich leer unter einem kalten Himmel.
So war es zumindest Jahrhunderte hindurch gewesen, seit Menschengedenken. Doch nun war überraschend etwas geschehen, sollten sich die Dinge grundlegend ändern. Einige Unternehmen von jenem hinter dem Meer liegenden Kontinent hatten einen Plan vorgelegt, der den Tourismus ankurbeln und Wohlstand in das nicht gerade reiche Land mit der Hafenstadt Hahl bringen sollte. Das Projekt Silberstrand war zwar nur mit modernster Technik zu realisieren und erforderte gewaltige Investitionen, aber es erschien Erfolg versprechend. Seine Grundidee: die warme Strömung sollte verlängert, die Wassertemperatur vor den Küsten erhöht und damit das Klima angenehmer gestaltet werden. Dann, so argumentierte das entsprechende Konsortium, könne sich das Land bald nicht mehr vor Touristen retten; man würde endlich die nahezu unberührten Strände nutzen, Hotels bauen und die Infrastruktur entwickeln. Die Industrie würde einen ungeahnten Aufschwung nehmen, die Wirtschaft aufblühen.
Alles einleuchtend – aber mit welcher Energie sollte das „Fließende Feuer“ neu angeheizt und nach Norden hin ausgedehnt werden?
Die Antwort lautete: durch die vulkanische Glut im Südzipfel des Landes, die auf Grund wiederkehrender Ausbrüche bisher nutzlos verpufft. Wird die Strömung durch sie dauerhaft erhitzt, so ist das gewünschte Ergebnis bald erreicht. Denn diese Glut aus dem Innern der Erde ist unerschöpflich. Die Vulkane müssen nur mit Bedacht angezapft werden, damit die ungeheure Hitze nicht außer Kontrolle gerät.
Zu diesem Zweck hatten die Projektanten riesige, aus wärmedämmendem Material erbaute Lavaröhren vorgesehen, die in Staukesseln am Meeresboden endeten. Ein wirksames System, genial in seiner Einfachheit, so dass die Regierung den Plänen zustimmte. Dem Konsortium wurden weitgehende Rechte für das "Unternehmen Silberstrand" eingeräumt.
„Fuego corriente“, flüsterte der Mann im dunklen Umhang und ihm schien, der milchig blaue Himmel in seinem Traum habe sich verdüstert. Eine Wolke bildete sich, wuchs zu ungeheurer Größe heran. Schwarzgrauer Horizont, lila leuchtende Blitze, Orkanböen, die aus dem Nichts kamen. Urplötzlich bildete sich zwischen den Wolken und dem Meer ein dicker Schlauch, ein rotierender Rüssel, der übers Wasser aufs Land zulief, mit mächtigen Wirbeln die Flut spaltete. Zugleich aber entstanden neue Schläuche – oder waren es Arme, deren geballte Fäuste alles packten, was sich auf dem Meer befand: Segelgleiter, Yachten, Passagierschiffe und Tanker.
„Thuron“, brüllte, jaulte der Mann, der in der Wolke eine geballte Faust zu erkennen glaubte, „ich hab es gewusst, du wehrst dich, du steigst hernieder!“ Er wollte aufspringen, vermochte es nicht, der Sturm seiner Vision drückte ihn zu Boden. Zuckend lag er da, Horrorbilder vor Augen: Häuser, die zerplatzten, gläserne Paläste, zersplitternd unterm Orkan, Schiffe, die sich im Kreis drehten, wie aufbäumende Pferde aus dem Wasser stiegen und in die Tiefe gerissen wurden. Durch die Luft wirbelten Wagen und Räder, Menschen flohen schreiend vor der Kraft der Windhosen, wurden zu Boden gestreckt und gegen Mauern geschleudert; in Todesangst heulten Tiere. Schneisen, in Wälder gebrochen, taten sich auf – Türme stürzten ein, Brücken zerbarsten, Strommasten knickten.
„Lass es nicht zu, Thuron“, wimmerte der Mann, dem die Bilder nun in ein hässliches, schmutzigbraunes Gebräu zusammenflossen. Er erwachte und hob die Augen zum milchigen Himmel. Langsam schien er zu begreifen, dass nichts an seinen Träumen wirklich war, aber er wollte es nicht wahrhaben. Er sprang auf und stand einige Minuten starr da, bevor er sich, den Umhang zusammengerafft, wieder an den Abstieg machte. Es sah aus, als sei er selbst in einen dunklen Schlauch gehüllt, der jeden Augenblick mit ihm davontanzen konnte.
2
Der Bug des gedrungenen Fährbootes zerschnitt die Wellen, seine beiden Rotoren rissen Schaumfetzen aus der grünlichen Flut. Die „Robbe“ machte kräftig Fahrt und würde in weniger als einer Stunde in Hahl anlegen. Sie befuhr zweimal wöchentlich eine der üblichen Routen zwischen dem Mondkontinent und dieser Stadt. Das hatte immer ausgereicht, man war manchmal sogar ziemlich leer gefahren. In der letzten Zeit aber wuchs die Zahl der Fahrgäste, und man dachte daran, weitere Tage ins Programm einzubeziehen.
Ray stand, an die Reling gelehnt, auf dem Vorderdeck des Schiffes und schaute den Seestaren zu, die kreischend über ihn hinwegschossen. Einige Passagiere fütterten die Vögel mit Keksen, und obwohl Ray das nicht besonders mochte, bewunderte er die Geschicklichkeit, mit der die Beute geschnappt wurde. Die Stare griffen im Sturzflug zu, und nur selten fiel ein Brocken ins Wasser.
Die Wellen hoben und senkten das Schiff, doch sie waren bereits weniger hoch als auf offener See. Man fuhr am Ufer entlang, war schon in Höhe der Kreidefelsen, die Schneegipfel der Weißen Berge grüßten herüber. Wälder, Strände, ein Fischerdorf. Ihnen entgegen stampfte, erdbraun gestrichen, ein Fischkutter.
Der Steward, ein Mann mittleren Alters, den weißen Rochen als Symbol an der Mütze, Hose und Hemd nach Art der Hahl-Matrosen blau-gelb, trat an Ray heran und salutierte: „Doktor Vangrin, nicht wahr?“
„Ich kann nicht leugnen, dass ich so heiße.“
„Ich habe Sie nach dem Foto in Ihrem Buch erkannt. Auch auf dem Panoschirm habe ich Sie schon gesehen, aber das liegt eine Weile zurück.“
Erst jetzt bemerkte Ray das schmale Bändchen in der Hand des anderen. Es waren fünf seiner besten Reportagen, von einem rührigen Verleger zu einem Zeitpunkt herausgegeben, als der Name Vangrin bekannt zu werden begann.
„Das Foto ist nicht mehr ganz neu“, sagte Ray.
„Es ist Ihnen aber sehr ähnlich. Offenbar haben Sie sich wenig verändert.“
Äußerlich, dachte Ray, erwiderte jedoch nichts.
„Ich wollte Sie um Ihr Autogramm bitten“, fuhr der Steward fort, „ich habe schon einige berühmte Männer in meiner Sammlung.“
„Ich bin kein berühmter Mann.“
„Sagen Sie das nicht. Ihre Berichte über den Kanalbau sind überall bekannt, auch bei uns. Und dass man gerade Sie hierher schickt, jetzt, wo das Projekt Gestalt annimmt, hat doch bestimmt seine Gründe.“
Der Kanalbau, dachte Ray, die Leute erinnern sich noch immer daran. Damals hatte er durch eine aufsehenerregende Reportage erreicht, dass ein Naturschutzgebiet erhalten geblieben war. Man hatte die Wasserstraße um dieses Gebiet herumgeführt, obwohl es erhebliche Mehrkosten brachte. Er war noch jung gewesen, hatte an den Sieg der Gerechtigkeit geglaubt. Später kamen dann die Zweifel und Misserfolge.
„Man hat mich nicht geschickt. Ich bin auf Grund einer Einladung hier.“
„Gewiss ist sie offiziell.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Ray ausweichend. Er nahm das Buch, das ihm der Steward hinhielt, und setzte seinen Namen hinein. Schwungvoll war seine Unterschrift nicht. Ein Graphologe hätte wohl einen unentschlossenen Charakter herausgelesen.
Der andere bedankte sich und wollte gehen. Ray fiel noch etwas ein. Er fragte: „Sie sind aus Hahl?“
„Ich wohne dort. Seit zwölf Jahren. Geboren bin ich in der Hauptstadt.“
„Weil Sie nun schon davon angefangen haben. Was halten Sie vom Projekt Silberstrand?“
„Eine großartige Sache. Das Gebiet war öde, kaum genutzt. Jetzt zieht dort Leben ein. Das wird dem Land Gewinn bringen.“
„Dem Land?“
„Uns allen“, sagte der Steward überzeugt. „Schaun Sie sich doch den alten Kahn hier an. Bald werden moderne Gleiter zwischen Ihrem Kontinent und unserer Stadt verkehren.“
Ray nickte. Die „Robbe“ verkörperte zwar noch ein Stückchen Romantik, aber gehobenen Ansprüchen genügte sie nicht mehr. Viel zu langsam und unbequem. „Sie glauben also, dass sich die Pläne der GEOVUL verwirklichen lassen?“ Die Geologisch-Vulkanische Gesellschaft war der Hauptträger des Projekts.
„Natürlich. Der wichtigste Schritt ist ja bereits getan. Letzte Messungen besagen, dass sich das Wasser in der Bucht erwärmt. Trotz der kühlen Außentemperaturen. Das wird sich aufs Klima auswirken.“
„Sie befürchten keine Pannen? Zum Beispiel einen unkontrollierten Lavaaustritt?“
„Ich verstehe nicht viel davon, aber ich vertraue Ihren Wissenschaftlern“, erwiderte der Steward. „Ihren Berechnungen, dem Material, das eingesetzt wird. Dem Kontrollsystem. Es wird keine Pannen geben. Außerdem – warum sollte man immer zuerst an das Schlimme denken.“
„Sie haben recht, warum sollte man“, sagte Ray.
Der Steward entfernte sich, und der Journalist wandte seine Aufmerksamkeit dem Ufer zu, das nun sehr nahe rückte. Hahl kam in Sicht, der Hafen mit seinen Kränen und Industrieanlagen, dahinter erhoben sich die Häuser und Bürotürme. Auch der Sternenhügel mit dem Poetenrelief tauchte auf, das den Auseinandersetzungen während der sogenannten heroischen Zeit gewidmet war. Links aber, in einiger Entfernung von der Stadt, sah man die ersten neuen Strandhotels.
Fischkutter, ein Drachen, dann größere Schiffe. Auf dem Kai, den sie ansteuerten, winkende Menschen. Die Leute erwarteten Verwandte, Freunde, Bekannte oder waren einfach aus Neugierde gekommen. Die Passagiere des Fährbootes winkten gleichfalls, sie hatten sich auf der Landseite versammelt und verfolgten das Anlegemanöver. Einige von ihnen, das wusste Ray, hatten bereits einen Aufenthalt am Silberstrand gebucht.
Die „Robbe“ hatte die Fahrt verlangsamt, nun stoppte sie, stampfte ein wenig zurück, glitt mit der eleganten Plumpheit einer Ente, die bei der Wasserlandung übers Ziel hinausschießt, zur Kaimauer. Taue schlangen sich um Pfeiler, die Gangway wurde angelegt, und die ersten Passagiere gingen an Land. Sechs Stunden hatte die Überfahrt gedauert, mit dem Flugmobil wäre es wesentlich schneller gegangen. Aber Ray liebte das Meer. Den Wind, der hart übers Deck fegte, die Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen und das Boot tanzen ließen. Liebte den Seegeruch. Auch das war ein Anreiz gewesen, hierher zu kommen.
Er schob sich zwischen den anderen Passagieren zur Treppe, stieg langsam hinunter. Seine Augen suchten Mohlenberg, aber der Freund war nicht zu entdecken. Der Freund, dachte Ray, sind wir denn tatsächlich Freunde, waren wir es je? Vor Jahren waren sie durch die Studentenbewegung zusammengekommen, hatten in Zentralstadt an Versammlungen und Demonstrationen teilgenommen. Gegen die Mächtigen auf dem Kontinent, die Vermarktung der Ideale. Die wahre Pressefreiheit wollten sie, eine unabhängige Kunst. Denn damals schrieben sie beide Gedichte und Mohlenberg träumte davon, retrofuturistisch zu arbeiten. Doch genauer betrachtet, waren ihre Beziehungen oberflächlich gewesen. Das hatte sich herausgestellt, als Ray wegen aufsässiger Artikel im Studentenblatt Schwierigkeiten bekam und Erken vorsichtig auf Distanz ging. Ihn der Unbedachtheit zieh, alles tat, um nicht in einen Topf mit ihm geworfen zu werden. Später hatten sie sich kurzzeitig wieder einander genähert. Bevor sie dann jeder den eigenen Weg gingen und sich aus den Augen verloren.
Mohlenberg war kein Retrofuturist geworden, dafür aber ein Baumanager, der für die größten Firmen des Mondkontinents arbeitete. Ein enormer Aufstieg. Er besaß Kenntnisse auf vielen Gebieten und Format, er war hartnäckig und wusste, wo es einzusteigen lohnte. Im Augenblick war er Chefkoordinator beim Unternehmen Silberstrand, besaß Stimme im leitenden Gremium der GEOVUL. In dem Brief, mit dem er Ray eingeladen hatte, den Fortgang des Projekts aus der Nähe zu verfolgen und darüber zu berichten, spielte er auf ihren gemeinsamen Beginn an. Auf die Ideale, für die sie seinerzeit eingetreten waren. „Das ist ein Plan, der Größe und Humanismus atmet“, schrieb er, „Fortschritt in jeder Hinsicht. Im Namen unserer Freundschaft, es lohnt sich, dabei zu sein.“ Und tatsächlich hatte der Brief Ray aus der Lethargie gerissen. Vielleicht gab eine solche Aufgabe ihm, dem allzu skeptisch Gewordenen, Auftrieb.
Erken war nicht unter den Wartenden, das schien nun gewiss, und obwohl er den Gast hatte persönlich empfangen wollen, gab es daran nichts Verwunderliches. Bei dem Aufgabenbereich, den ein Leiter wie er hatte. Bestimmt würde er jemand anderen schicken. Und tatsächlich trat in diesem Augenblick, ein wenig zögernd, eine junge Frau auf Ray zu. Dunkelhäutig, offenbar aus den Südstaaten. In helles Glanzit gekleidet. Und wie auf dem Schiff der Steward, fragte sie: „Doktor Vangrin?“
„Ja.“
„Herr Mohlenberg schickt mich, in seinem Namen soll ich Sie sehr herzlich in Hahl begrüßen. Hatten sie eine gute Fahrt?“
„Eine erfrischende Fahrt. Ich hatte fast vergessen, wie das Meer aussieht. So ganz aus der Nähe, meine ich.“
„In Hahl können Sie es jeden Tag genießen.“
„Ich weiß. Das ist ein Grund, weshalb ich hergekommen bin“, sagte er.
Sie hieß Frika Lamelle und war, was immer das bedeuten mochte, eine persönliche Mitarbeiterin Erkens. So drückte sie sich aus, wurde, als sie das erwähnte, noch einen Schein dunkler um die Augen. Ray amüsierte das, er konnte ein Lächeln nicht verbergen. Wahrscheinlich eine kleine Freundin des großen Häuptlings, ihn ging es nichts an. Nachdem er seinen Koffer in Empfang genommen hatte, steuerten sie ihr Mobil an. „Viel Gepäck haben Sie ja nicht“, sagte sie, „wir hofften, dass sie eine Weile bleiben.“
„Was verstehen Sie unter einer Weile?“
„Wenigstens einen Monat. Nach Möglichkeit länger, damit Sie alles gründlich kennenlernen.“
Er zögerte mit der Antwort. "Was ich brauche, kann ich ja jederzeit hier kaufen", erwiderte er ausweichend.“ Und nun zu den anderen Angeboten dieser Woche:
Erstmals 1987 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Endlich ein Mann sein“ von Heinz Kruschel: Nickel möchte groß herauskommen in diesem Sommer. Zunächst aber fällt er durch die Matheprüfung und tritt seine Lehre nicht an. Wer keiner geregelten Arbeit nachgeht, fällt in der DDR auf. Der Abschnittsbevollmächtigte kümmert sich schon um ihn, mehrmals wird er vom Amt für Arbeit vorgeladen. Da hilft ihm auch nicht der gute Ruf der Eltern und Großeltern. Groß und stark fühlt er sich an der Seite des Mädchens Kora, aber sie sagt ihm, dass sie nicht nur ihn liebt. Zu Beginn dieses Buches ist etwas Trauriges passiert, etwas für Nickel sehr Trauriges:
„1. Kapitel
Nickel geht die Treppen hinauf. Das Haus, in dem er wohnt, steht in einer engen, kühlen Straße. Alle Häuser der Straße sind Anfang dieses Jahrhunderts gebaut worden. Sie wirken von außen narbig, angeschimmelt und schaumgrau, haben aber schöne und große Wohnungen, gedrechselte Geländer im Treppenhaus und farbige Ornamente auf den Flurfenstern, die verschlungene Pflanzen und Tiere darstellen.
In dem Haus ist Nickel aufgewachsen. Er kennt jeden Mieter, jede Ecke und jeden Bodenverschlag.
Frau und Herr Reiher kommen ihm entgegen und grüßen ihn leise. Darüber wundert er sich. Die Reihers mögen ihn nicht, und er mag sie nicht. Herr Reiher versucht, den Dackel Nante zu vergiften, weil er nach Hundeart manchmal einen Knochen in Reihers Hausgarten verbuddelt oder einen Haufen setzt. Die Reihers bedauern Herrn und Frau Groß, dieses pampigen Sohnes Nickel wegen.
Und nun grüßen sie ihn, und sogar zuerst. Dabei tut er das nicht, obwohl ihn seine Mutter darum gebeten hat. Hauslamas grüße er nicht, hat er ihr geantwortet, solche Leute könnten bloß spucken. Er kann sich nur kurz über den Gruß der Reihers wundern, denn Nickel sieht Primasz auf dem Absatz des fünften Stockes stehen und winkt ihm zu. Der alte Zigeuner wohnt ganz oben. Ein stiller Mann, der manchmal einen trinkt.
Primasz verschwindet schnell. Dabei wartet er sonst immer darauf, von Nickel angesprochen zu werden.
In der Wohnung ist es sehr ruhig. Kein Fernseher läuft, kein Radio, sodass Nickel schon in sein Zimmer gehen will, als er das Hüsteln seines Vaters hört. Nickel geht in das Wohnzimmer.
Vater sitzt auf einem Stuhl am Tisch und sieht ihn ernst an. Nickel überschlägt in Gedanken den heutigen Tag und den gestrigen, denn so lange hat er seinen Vater nicht gesehen. Ihm fällt nichts ein, wofür er eine Entschuldigung erfinden müsste. Gut, er hat in den letzten Tagen für die Nachprüfung in Mathe nichts getan, aber das kann Vater nicht wissen. Vater trägt keinen beuligen Trainingsanzug, sondern eine gebügelte Hose und ein weißes Hemd.
Nickel schließt die Tür hinter sich. Sein Vater schweigt eine Weile, bis er sagt: „Setz dich, Nikolaus, setz dich doch.“
In Nickel steigt Beklemmung auf. Er setzt sich schnell, weil sich das Zimmer um ihn zu drehen beginnt. Er hat so ein Gefühl, als müsse er sich übergeben. Es ist etwas passiert. Irgendetwas.
Er möchte fragen und kann nicht fragen.
„Ja“, sagt Vater, „der alte, gute Jan, dein Opa. Er ist tot. Ganz plötzlich ist er gestorben. Er hat nichts gemerkt. Es war ganz friedlich. Nikolaus, Junge.“
Nickel schüttelt den Kopf. „Nein, nein.“ Er denkt: Der doch nicht, der Jan doch nicht, der war doch gesund. Der stieg in die Bäume, um sie zu beschneiden. Der schleppte einen Zentnersack auf dem Rücken weg. Der fuhr mit dem Rad. Der war mal Sportler, er hat ein paar Läufe auf der ersten Rennschlittenbahn Deutschlands gewonnen. Der konnte sich bücken. Der konnte mit Holz umgehen und aus verknorpelten Ästen und Stämmen die wunderlichsten Tierfiguren machen.
„Doch, Nikolaus. Es ist schwer zu begreifen. Mutter ist bei Oma auf dem Spionskopf.“
Auf dem Spionskopf wohnen Oma und Opa seit sechzig Jahren. Der Stadtteil liegt zwischen Fluss und Eisenbahn, begrenzt von Rübenfeldern. Er liegt auf einem neunzig Meter hohen Hügel, der höchsten Erhebung in der Landschaft. Vom Spionskopf aus kann man die ganze Stadt sehen, den Dom, die Gasometer, die neuen Wohngebiete, die Schornsteine der vielen Fabriken und die Autobahn in Richtung Westen. Nickel ist gern auf dem Spionskopf. Er versteht sich gut mit Oma und Opa, besonders mit Opa Jan. Der soll nun gestorben sein.
„Vielleicht stimmt es nicht, vielleicht war es nur eine Ohnmacht“, sagt Nickel, denn über den Tod hat er bisher nur in Büchern gelesen. Im Fernsehen zeigen sie den Tod täglich. Bis jetzt aber hat er noch nie erlebt, dass ein Verwandter gestorben ist.
Vater schüttelt den Kopf. Er knöpft sich die Hose zu, er hat einen Bauch. Dabei arbeitet er schwer in einem Dieselmotorenwerk, er arbeitet in Schichten.
„Aber wir wollten doch einen Giraffenlöwen bauen“, sagt Nickel, „für den neuen Kindergarten am Galgenberg.“ Als er es gesagt hat, merkt er erst, was für ein dämlicher Satz das gewesen ist. Er fragt: „Warum habt ihr ihn nicht rasch in ein Krankenhaus gebracht?“
„Jan lag im Garten“, sagt Vater, „zwischen den Blumen Hennys. Er war tot, Nickel, er war achtzig Jahre alt.“
„Und wenn schon, vielleicht ist er nicht richtig tot.“ Nickel zittert. Er hat das Gefühl, das Zittern kriecht in seinen Körper, es kommt nicht von innen, es kriecht von außen in Arme, Hände, Beine und in seine Brust.
„Ihr hättet euch um ihn kümmern müssen, so ein Mann wie Jan, der ist nicht gleich tot, der lebt doch noch, der muss nur rasch in ein Krankenhaus gebracht werden, ihr denkt immer bloß an euch, wann bist du denn das letzte Mal bei ihm gewesen, wann denn?“
„Ach, Nikolaus, was soll das jetzt noch.“
In Nickel ist Zorn, ein hilfloser, bitterer Zorn, und Wut, die er an seinem Vater auslässt. Sein Vater hat, wenn Sohn Nickel wütend war, auch als kleines Kind schon, nicht mit Strafe oder Schlägen reagiert. Nickel ist nie geschlagen worden, und sein Vater weiß, dass sich auch jetzt hinter Zorn und Wut eine tiefe Trauer versteckt.
„Aber es hätte nicht geschehen müssen. Ein paar Tage im Krankenhaus, der wäre wieder fit gewesen.“ Er wird leiser, er spürt die aufsteigenden Tränen und will vor seinem Vater nicht weinen.
„Man hätte doch, ach, Mann, und du sitzt hier rum, früher hättest du bei ihm sein müssen, denkst du, ihr seid ohne Schuld?“
Der Vater lässt Nickel in Ruhe, weil er sich nicht verteidigen muss, auch nicht gegen Nickels ungerechtfertigte Vorwürfe. Vater und Mutter Groß haben stets ihre Kinder Hannchen und Nikolaus und deren Gefühle geachtet, auch bei heftigen Reaktionen haben sie weder mit Arrest noch mit bösen Worten noch mit scharfen Blicken reagiert.
Vater Groß sieht seinen Sohn nur ernst an. Und Nickel geht nach einer Weile in sein Zimmer. Aber es hält ihn nicht lange darin. Er geht die Treppe hinauf. Er will auf den Boden, in die Kammer.
Primasz muss ihn gehört haben, denn er kommt aus seiner Wohnung heraus und sieht ihn bekümmert an. Primasz ist sein Verbündeter, denn als sich Nickel versteckt hielt, hat ihn der alte Zigeuner nicht verraten. Als Herr Reiher einmal mit einem Beil in der Hand den Dackel Nante jagte, hat Primasz magische Zeichen vor Herrn Reiher gemacht und ihn damit erschreckt: ein Hexer im Haus! Seitdem sieht sich Reiher vor. Primasz hat volles weißes Haar, das er wachsen lässt wie ein indischer Sikh, und einen schwarzen Heiduckenbart, dessen Ecken herabhängen. Darum sieht Primasz immer traurig aus. „Nickel“, sagt er nun, „es tut mir leid, das ist überhaupt kein Trost, aber das ist nun mal das einzig Gerechte auf der ganzen Welt, dass alle sterben müssen, keiner von den Lebenden bleibt übrig, ist’s wahr?“
„Wahr ist’s“, sagt Nickel leise. Auf diese Formel hatten sich Primasz und er vorzeiten geeinigt, wenn sie übereinstimmten. Er sagt kein Wort mehr, sondern geht in die Bodenkammer. Hier sind seine Burgen gestapelt, vier Schuljahre lang hat er nur Burgen gebaut, Modelle von Wallburgen und Pfalzen, von Ritterburgen und Kastellen. Nun stehen sie hier und verstauben.
Er will sie alle verbrennen, diese Kindereien, aus Wut, aus Ohnmacht, was sollen noch diese sächsischen Rundburgen und die viereckig fränkischen, die Tiroler Klausen, mit denen sie früher die Pässe versperrten. Er müsste etwas tun, es kann doch nicht alles so weitergehen wie bisher, ohne Jan!
Alles ist anders geworden. Er selber hätte Ferien machen können wie seine Klassenkameraden, die die Prüfung bestanden haben, er könnte durchs Land radeln, nach Querfurt, wo die größte Burganlage Deutschlands stehen soll, die er noch nie gesehen hat. Aber er muss eine Prüfung wiederholen. Und nun Jan. Der kann nicht mehr auf der grünen Bank sitzen und seine Frau eine „Schwester der Schakale“ nennen, weil sie vorgeschlagen hat, den Nussbaum zu fällen, da der zu viel Dreck mache. Nickel hört, wie Jan antwortet: „Der Baum bleibt, schämste dich nicht, Henny, versteh mal recht, wo ein Nussbaum steht, da gibt es keine Mücken und Gnitzen.“
Nun kann Oma Henny ihn ja fällen lassen. Sie hat nämlich Angst, dass er mal umkippt, wenn es stürmt, dass er ihr kleines Haus zerschlägt. Außerdem muss sie immer die Samenraupen wegräumen und die vielen schmierigen Blätter. Und dann wachse unter so einem großen Baum keine Blume. Nun kann der Baum weg. Der Mann, der dagegen war, lebt nicht mehr. Lebt nicht mehr. Ist tot. Lag zwischen den Blumen. Muss noch die Kamille gerochen haben. Hat noch einen Wurm gesehen oder einen Käfer oder einen Schmetterling. Hat mit den Händen noch einmal die Erde gefühlt. Mit der Stirn, mit dem Mund. Er soll nichts gemerkt haben, aber wer will denn das wissen? Das reden sich die Lebenden bloß ein. Opa Jan war sein bester Freund. Sein Vater ist nicht sein Freund, er ist der Vater, und wie Väter eben so sind, sie belehren, sie wissen alles besser. Sein bester Freund soll nun tot sein. Ob sie ihn verbrennen lassen? Dann müssen sie die Asche in eine Urne tun. Wer weiß aber, ob das auch wirklich Jans Asche sein wird. Oder sie begraben ihn und lassen den Sarg hinunter.“
Erstmals 1986 veröffentlichte Christa Grasmeyer ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Aufforderung zum Tanz“: Bettinas Freundin Nathalie meint, dass es altmodisch sei, immer bloß einen Mann zu lieben und dem auch noch ständig treu zu sein. Für moderne Liebe ist Bettina auch. Aber Arne, wie denkt er darüber? Hier der Anfang des 2. Kapitels:
„Jetzt kommt wieder das Heimweh. Bettina liegt auf ihrem Bett. Vielleicht wird sie einschlafen, bevor sich das Heimweh richtig an ihr festkrallen kann. Müde genug ist sie nach dem Tag in der Schule, und dann haben sie auch noch immer einen langen Weg bis zum Wohnheim, mit der S-Bahn und mit der U-Bahn, und zu Fuß, das dauert eine Stunde. Sie essen von den Vorräten, die sie unterwegs einkaufen. In dem kleinen Bad, das zum Zimmer gehört, waschen sie ihre Trikots und Slips und Strümpfe und hängen die Sachen über die Badewanne.
Wohnheim … Wer wohnt hier, wer fühlt sich hier heimisch? Bettina nicht. Das große Haus, die steinernen Treppen, die vielen Türen an den langen Fluren sind ihr unheimlich. Kann man die gekachelten Räume, in denen Herde und Kühlschränke stehen, überhaupt Küchen nennen? Kaum einer kocht darin, und die Schränke sind gähnend leer, denn Töpfe und Geschirr würden sofort verschwinden. Die Kühlschränke haben zwar verschließbare Fächer, aber die sind mit einiger List und Gewaltanwendung leicht zu öffnen und werden ausgeraubt, besonders in den letzten Tagen vor der Auszahlung der Stipendien. In einer Küche, wie Bettina sie kennt, riecht es gut, da ist es warm, da erzählt man, sitzt am Tisch und isst miteinander, da steht und liegt jedes Ding an seinem Platz, da spült man Geschirr, schält Kartoffeln, wischt den Fußboden, da scheint die Sonne herein durch die kleinen Fenster, von draußen, vom Garten …
Bettina seufzt. Draußen ist die riesige Stadt, eine Endlosigkeit von lauter fremden Straßen. Züge donnern in Bahnhöfe, über die Treppen schwappt eine Flut von Menschen, ergießt sich in Busse und Straßenbahnen, von denen Bettina nicht weiß, woher sie kommen und wohin sie fahren. Irgendwo ist ein Stadtteil, der Karlshorst heißt, darin steht ein Haus, ein Neubau, nach wenigen Jahren schon den Stempel der Verlotterung tragend, weil es für all die Studenten, die aus und eingehen, nur eine Unterkunft ist, nicht für die Dauer bestimmt, und hinter einer der unzähligen Türen, in einem der Zimmer, auf einem der Betten liegt sie. Bettina Stoll.
Ihre Stadt ist anders, da oben zwischen den Seen, auch nicht gerade klein, und voller Menschen, im Zentrum sogar überfüllt, denn die Straßen sind viel enger als hier, und Straßenbahnen und Busse und Autos schieben sich hindurch, und die Neubaugebiete sind wie überall. Und doch anders.
Vielleicht bloß deshalb, weil ich sie kenne, denkt Bettina. Was man kennt, ist nicht fremd. Mit der Zeit werde ich hier auch nicht mehr fremd sein. Aber dann sieht sie das Haus ihrer Eltern vor sich und die Gärtnerei, und sie reißt die Augen auf, um nicht das Haus zu sehen, die Haustür und die Stufen davor, sondern dieses Zimmer, in dem drei Stühle sind und ein Tisch und drei Betten, eins davon unbelegt, und das andere gehört Julia. Sie haben Glück, Bettina und Julia, dass sie nur zu zweit sind und ein bisschen mehr Platz haben als Doreen, Silke und Claudia im Zimmer gegenüber, auf der anderen Seite vom Flur. Julia hat Poster von Beatgruppen an die Wände gepinnt, daneben sehen Bettinas zwei Poster treuherzig aus. Auf dem einen sind Hunde, die erinnern sie an den guten Janko, und auf dem zweiten sind Blumen, die erinnern sie an den Garten.
Es ist gar nicht gut, wenn sie sich erinnert, Heimweh ist kindisch. Das soll sich mal einer vorstellen, mit sechzehn Jahren wälzt sie sich auf dem Bett und heult beinah vor Heimweh, vor Sehnsucht nach den Eltern, nach ihrem Zimmer zu Hause, das so hübsche Tüllgardinen und gedrechselte Regale hat, und auf den gelackten Dielen liegt ein bunter Teppich. Sogar nach Bernhard sehnt sie sich, dem spöttischen großen Bruder, ja, und nach Janko.
Julia hat sich von den Studenten der Artistenschule, die ein Stockwerk tiefer wohnen, beschwatzen lassen und ist zu Besuch runtergegangen. Julia hat kein Heimweh, Kunststück, sie stammt aus Potsdam und fährt jedes Wochenende nach Hause. Bettina ist in den sechs Wochen, die inzwischen vergangen sind, erst zweimal zu Hause gewesen, und hinterher hat sie sich scheußlicher gefühlt als vorher. Es ist wahrscheinlich unnormal. Man hockt nicht im Elternhaus bis ins hohe Alter. Aber Bettina hat da bisher eben immer gehockt, sie hat keine Krippe, keinen Schulhort gekannt, weil ihre Mutter in der Gärtnerei mitarbeitet, also in der Nähe, ständig greifbar und bei Bedarf abkömmlich. Vielleicht ist das der Grund. Es nützt ihr aber gar nichts, über den Grund zu grübeln. So wenig nützt es, als wolle man den Grund für eine Erkältung herausfinden. Deshalb schnieft und hustet man doch.
Sie ruft oft die Eltern an, das hat der Vater ihr eingeschärft. Mindestens zweimal in der Woche anrufen, natürlich als R-Gespräch. Dann plaudert sie munter ins Telefon. Würde sie klagen, käme der Vater nach Berlin gefahren, im Auto, um sein Kind in die Arme zu schließen und mit nach Hause zu nehmen. Gern würde er sie oft besuchen, und noch lieber würde er sie jedes Wochenende bei sich zu Hause haben. Aber erstens werden solche häufigen Heimfahrten von der Schule nicht gebilligt, und zweitens will Bettina doch Tänzerin werden, sie will es mit aller Macht. Dazu gehört, dass sie sich einlebt, hier in Berlin, dass sie ihr Heimweh überwindet.
Der Fragebogen zur Eignungsprüfung verlangte Angaben zur Konstitution, da konnte Bettina guten Gewissens schreiben, dass Bruder und Eltern und Großeltern mager sind und allesamt schlechte Nahrungsverwerter. Der Vater hatte den Kopf geschüttelt. Gute oder schlechte Futterverwerter, das spielt beim Schlachtvieh eine Rolle! Und als er seine Tochter zur Eignungsprüfung begleitete, widerwillig und im Stillen hoffend, sie würde abgelehnt, da ärgerte ihn, dass sie, wie sie ihm nachher erzählte, vor den Prüfern hatte stehen müssen und sich begutachten lassen und dass man ihre bloßen Füße in die Hand genommen und gebogen hatte. Wozu muss seine Tochter ihre Füße herzeigen und später peinigen beim Spitzentanz? Weil sie es nun mal wollte und weil sie die Eignungsprüfung bestand und weil er nicht imstande ist, ihr einen Wunsch abzuschlagen, hat er sie zur Aufnahmeprüfung erneut nach Berlin gefahren und seine Unterschrift gegeben, halb bekümmert, halb verdrossen, als habe man ihn veranlasst, eine Orchidee wider alle Vernunft aus dem Treibhaus zu nehmen und an einen Platz zu pflanzen, wo raue Winde wehen. Seitdem lauert er auf ein Anzeichen von Verwelken, von Verkümmerung. Bettina sieht beim Telefonieren den Vater vor sich, wie er argwöhnisch auf den Klang ihrer Stimme lauscht, und sie erzählt nur Gutes und Erfreuliches. Wenn ihre Mutter am Telefon ist, lässt sich Bettina gehen, denn die Mutter bleibt gelassen. Die Mutter antwortet zwar verständnisvoll, aber doch mit einer gewissen Bestimmtheit: „So was macht jeder mal durch, Betti, das gibt sich.“ Und dann lenkt sie ab, dann sagt sie zum Beispiel: „Neulich hat mich Viviane nach dir gefragt …“
Ach ja, Vivi! Jahrelang ist Bettina mit Vivi zur Schule gegangen. Sie haben zusammen Tennis gespielt, das konnte Vivi besser als Bettina, und im Winter flitzte Vivi mit Schlittschuhen übers Eis und zog Bettina an der Hand mit. Wenn Bettinas Tanzgruppe einen öffentlichen Auftritt hatte, klatschte Vivi Beifall und bewunderte die Freundin, denn nichts bewundert man so wie das, was man selber überhaupt nicht kann. Grazie geht Vivi ab, sie ist ein sportlicher Typ, furchtlos und klug, sie besucht die Schule weiter bis zum Abitur, und danach will sie Chemie studieren. Aber was Bettina macht, worauf die sich vorbereitet, das findet Vivi viel schöner. Für Vivi schwebt die Ballettschule irgendwo über den Wolken, selbst die alltägliche Schinderei, von der Bettina ihr berichtet, erscheint Vivi als nicht ganz von dieser Welt. Sie wäre enttäuscht, wenn sie Bettina jetzt sehen könnte, verzagt auf dem Bert liegend. Es ist eigentlich merkwürdig und ein bisschen traurig und doch wohl unabänderlich, denkt Bettina, dass Vivi ihr in den wenigen Wochen schon so ferngerückt ist. Nathalie dagegen ist ihr nähergekommen.
Bettina setzt sich auf. Sie nimmt sich vor, Nathalie morgen von diesem Heimwehkrankheitsanfall zu erzählen, jedes Mal, wenn Bettina zu Hause anruft, erkundigt sich Nathalie hinterher, was sie gesagt hätte und was die Eltern gesagt hätten und wer am Telefon gewesen sei. Zu Bettinas Verwunderung hat sich herausgestellt, dass Nathalie bereits bei der Eignungsprüfung Bettina und ihren Vater aufmerksam in Augenschein genommen hat. Sie hat den Blick gesehen, mit dem der Vater seiner Tochter nachschaute, als sie in den Prüfungsraum ging, und die Bewegung, mit der er sie an sich zog, als sie wieder herauskam. Obwohl Nathalie auf dem langen Flur ein Stück entfernt stand, allein übrigens, und nicht hören konnte, was zwischen den beiden gesprochen wurde, hat sie doch von Bettinas Gesicht die Freude über das Ergebnis abgelesen und vom Gesicht des Vaters, dass er diese Freude nicht teilte.
Bettina stellt ihren Rekorder an und lässt das Band laufen, bis sie den Walzer findet, den sie kürzlich mal mitgeschnitten hat. Sie kreuzt die Beine im Schneidersitz und tanzt mit dem Oberkörper, mit Kopf und Armen. Die Musik bringt sie ins Träumen. Sie hat Spitzenschuhe an, sie wirbelt über die Bühne, Touren beherrschend, deren Schwierigkeit sie natürlich nie bezwingen wird. So können nur die ganz Großen tanzen, die international bekannten Ballerinen, denen man Blumen auf die Bühne wirft und Liebesbriefe schreibt. Sie, Bettina Stoll, hat noch nie einen Liebesbrief bekommen, sie hat sogar noch nie einen Freund gehabt und ist schon sechzehn!
Julia kommt herein. Sie hat auf dem Flur den Walzer gehört, und als sie Bettina in Pose auf dem Bett sitzen sieht, geht sie ebenfalls in Pose. Für Schritte ist kein Platz im Zimmer. Und dann erscheint Claudia von gegenüber. Sie hat einen Schnellhefter in der Hand, vielleicht will sie irgendwas bereden wegen der Lernkonferenz. Geltungsbedürftig, wie sie ist, kümmert sie sich gern um solche Sachen, als Ausgleich gewissermaßen, denn ansonsten hat sie schwer zu kämpfen. Alle anderen verfügen über eine größere Beweglichkeit als sie, zumal in den Hüftgelenken, und soviel sie auch übt und ihre Beine zu spreizen versucht, sie macht keine wesentlichen Fortschritte.
„Ihr hört Weber“, stellt Claudia fest. „Webers ‚Aufforderung zum Tanz‘. Kennt ihr den pas de deux, der danach getanzt wird?“
Bettina und Julia kennen ihn nicht. Claudia lächelt überlegen, aber was nützt es ihr schon, dass sie die beiden Unwissenden belehren kann, dieser pas de deux sei in der ganzen Welt bekannt unter dem Titel „Geist der Rose“ und gehöre zum Repertoire der berühmtesten Tänzer. Was nützt das angesichts der spielerischen Leichtigkeit, mit der Bettina ihre Fußsohlen aneinander und die Knie links und rechts auf die Bettdecke legt?
Claudia sagt: „Julia ist wohl der Rosengeist, und du, Betti, stellst das Mädchen dar? Besser, ihr würdet Vokabeln lernen.“
Bettina antwortet nicht, aber Julia wirft den Kopf zurück. „Und wer bist du? Du bist der Geist, der einen ewig nervt.“
„Keine Bange“, sagt Claudia, „ich verzieh mich schon. Ich verzichte drauf, dich zu fragen, wo du den ganzen Abend wieder gewesen bist.“
Sie geht.
„Das bringt sie bei der Lernkonferenz vor, sollst sehen“, sagt Julia. „Wer verplempert seine Zeit, wer dallert abends rum, anstatt zu lernen oder auszuruhen? Julia!“ Sie lässt sich mit einem Seufzer auf ihr Bett fallen. „Die da unten“, sie deutet auf den Fußboden, „die haben Beat an. Was anderes als Beat ist mir früher nie in die Beine gefahren. Jetzt also Weber! Das hätt ich mir nicht träumen lassen.“
Sie hat sich vieles nicht träumen lassen. Ohne einen blassen Schimmer zu haben, was Ballett bedeutet, ist Julia auf eine Zeitungsanzeige hin zur Eignungsprüfung gefahren. Sie wurde angenommen, weil ihre körperlichen Voraussetzungen gut sind. Seitdem erlebt sie täglich von Neuem die Überraschung, dass sie all ihre Gewohnheiten umstellen muss.
„Wärst du hergekommen, wenn’s dir vorher einer gesagt hätte?“, fragt Bettina.
„Nie im Leben!“
Bettina lacht. Ihr gefällt, dass Julia so ehrlich ist. Keins der anderen Mädchen, auch sie selber nicht, würde zugeben, sozusagen aus Versehen hier gelandet zu sein.
„Oder doch“, fügt Julia hinzu, „weil ich’s nämlich nicht geglaubt hätte. Ich hab gedacht, ich lern hier tanzen. Das ahnt doch kein Mensch, dass man hier gehen und stehen und hören und sehen lernt.“
„Sehen auch?“
„Und ob! Denkst du, ich habe mir früher jemals die Haare hochgesteckt? Angeblich sieht das schön aus. Und immer ordentlich angezogen sein, sonst heißt es gleich, man ist schlampig. Neulich sagte Frau Reichert zu mir: ‚Dieser Pullover, meine liebe Julia, ist ja ein grausiges Kleidungsstück, verblichen und ausgeleiert. Siehst du gar nicht, wie dich das verunstaltet?‘ Und ein andermal hat sie gesagt: ,Du hast ein Loch im Trikot, meine liebe Julia, das möchte ich morgen gestopft sehen.‘ Blablabla. Weißt du, Bettina, dies ist keine Berufsausbildung, dies ist eine Anstalt, wo man von Kopf bis Fuß umgekrempelt wird.“
„Ja“, sagt Bettina nachdenklich. „Die Kleinen werden gleich so hingedrillt. Wir haben’s schwerer, bei uns gibt’s schon allerhand umzukrempeln. Würdest du deshalb wegwollen, zurück nach Hause?“
„Jetzt nicht mehr. Zuerst ja, da hab ich gedacht, was die hier von mir wollen, schaff ich nie, besonders in Klassisch. Jazz hat mir von Anfang an Spaß gemacht, der Rhythmus geht mehr ein. Weber!“, sagt sie verächtlich. Sie stützt sich auf, lässt den Kopf in den Nacken sinken und schüttelt ihr lang herabhängendes Haar. „Aufforderung zum Tanz? Zum Einschlafen, würd ich euer denken.“ Dann sieht sie Bettina auf einmal ganz ernsthaft an. „Meinst du, sie werden mich wegschicken, weil meine Ohren taub bleiben für Weber und Tschaikowski und all diese Leute, die Ballettmusik geschrieben haben?“
.„Keine Spur! Du bist reingekommen, hast den Walzer gehört und sofort reagiert. Du hast sehr wohl die Aufforderung verstanden.“
„Hab ich?“, fragt Julia und antwortet sich selbst, beinah verwundert: „Ja!“
„Und jetzt fordre ich dich auf.“ Bettina geht zum Tisch, nimmt ein Vokabelheft und fängt an: „Was heißt préparation?“
„Vorbereitung.“
„Courbé?“
„Gebogen.“
„En arrière?“
„Rückwärts.“
„Mach du weiter!“
„Effacer les èpaules?", fragt Julia.
„Schultern zurücknehmen.“
„Sur la pointe du pied?“
„Auf der Fußspitze.“
„Aplomb?“
„Standfestigkeit.“
Sie werden belohnt. Am nächsten Morgen bittet die Französischlehrerin Bettina an die Tafel. Die Französischlehrerin ist eigentlich keine richtige Lehrerin, sondern Dolmetscherin und Übersetzerin. Die Arbeit an der Ballettschule, einmal in der Woche, hat sie zusätzlich übernommen. Sie unterrichtet, als habe man sich in geselliger Runde zusammengefunden. Sie führt ein Gespräch, sie bittet, sie fragt: „Bettina, haben Sie Lust, an die Tafel zu gehen?“ Keiner ist bis jetzt auf die Idee gekommen, zu sagen: Nein, ich habe keine Lust. Aber wenn einer es täte, würde sie vielleicht sagen: Eb bien, dann beim nächsten Mal. Bettina schreibt flott und ohne einen Fehler, und die Lehrerin bedankt sich, merci beaucoup, und gibt ihr eine Eins.“
Erst kürzlich erschien in einer Eigenproduktion der EDITION digital „Paulchen, Schnaps und Schweinespeck“ von Wilhelm Eickhoff und Irma Köhler-Eickhoff – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Während der Feier zum 100-jährigen Bestehen eines kleinen Bauernhofes am südwestlichen Ausläufer der Lüneburger Heide wurden zu vorgerückter Stunde bei Wein und Bier Geschichten und Erlebnisse aus den vergangenen Zeiten erzählt. Da war von harter Arbeit, Moorbränden und vielen Hochwassern, aber auch Feiern, Schnapsbrennen, Schweinen und vielem mehr die Rede. Sicher hatte der eine oder andere auch etwas übertrieben und nicht immer waren die Erinnerungen vollständig, einiges wurde auch reichlich ausgeschmückt. Aber es waren viele tolle Geschichten und aufregende Erlebnisse. Die alte Zeit war buchstäblich wieder aufgelebt. Das war Ansporn für die Autoren. So entstanden 33 teils humorvolle, teils komische, aber auch einige ernste, nachdenkliche Geschichten über die Erlebnisse mit diesem Haus, seinen Bewohnern und dem Leben in dem kleinen Moordorf. Sie handeln von Paulchen und seiner Familie. Er wurde 1950 als letztes Kind in dem Haus geboren und ist dort aufgewachsen. Das Dorfleben ermöglichte ihm eine große Freiheit, barg aber auch Gefahren. Zusammen mit Freunden hatte er manche gefährliche Situation zu bestehen. Aber immer wieder waren der Schnaps und die Schweine Arbeit, Ärgernis oder Glück in seinem Leben. Seine Liebe zu den Tieren begleitete ihn beim Erwachsenwerden und führte auch zu einigen speziellen Abenteuern. Die Geschichten beschreiben den Alltag von Paulchen, sind aber im Rückblick manchmal urkomisch. Namen und Orte wurden geändert. Aber so oder ähnlich hat es sich damals zugetragen mit Paulchen, dem Schnaps und dem Schweinespeck. Um auf den Geschmack zu kommen, hier eine kleine (destillierte) Kostprobe:
„Die Destille
Wie viele in unserem Dorf, brannte auch mein Großvater leidenschaftlich gern und viel Schnaps. Gerade während der Kriegsjahre, als es wenig oder gar keinen Alkohol mehr zu kaufen gab, praktizierte er sein Hobby ausgiebig. Er achtete immer darauf, dass genug Vorrat im Haus war, denn die nächste Familienfeier, und sei es nur eine Beerdigung, kam bestimmt. Vor allem aber schmeckte ihm selber der Schnaps zu allen Gelegenheiten. Außerdem war der Selbstgebrannte eine begehrte Tauschware für schwer zu beschaffende Ersatzteile, die immer mal wieder auf dem kleinen Bauernhof benötigt wurden.
Da war es nur eine Frage der Zeit, bis eines Tages überraschend die Polizei bei Gustav vor der Tür stand. Das Schnapsbrennen war natürlich verboten und wurde während des Krieges besonders streng verfolgt. Die beiden Polizisten der nahegelegenen Kleinstadt waren bei einer ihrer Kontrollfahrten durch unser Dorf durch den unverwechselbaren Geruch auf das Brennen aufmerksam geworden. Sie drohten meinem ertappten, aber durchaus geständigen Opa zunächst mit einer harten Haftstrafe, ließen dann aber nach einigen Diskussionen Gnade vor Recht ergehen. Es wurde heftig verhandelt, wobei auch der eine oder andere Schnaps probiert und bewertet wurde. Ob die Qualität der Schnäpse die Höhe der Strafe beeinflusst hat, wurde nie bekannt. Schließlich einigte man sich auf Folgendes: Jeder Polizist bekam vorab und stillschweigend eine Flasche des besten Selbstgebrannten und Opa bekam eine saftige Geldstrafe und die Auflage, alle Gerätschaften für das Brennen in Celle beim Gericht abzugeben. Natürlich durfte zukünftig kein Schnaps mehr gebrannt werden. Damit war die Haftstrafe kein Thema mehr. Die Polizisten zogen wieder ab und ein betrübter Schnapsbrenner blieb nachdenklich zurück.
All seine Gerätschaften abzugeben, war für meinen Großvater ein herber Verlust, denn erst vor einigen Jahren hatte er die wichtigsten Teile der Apparatur erneuert. Alles noch einmal zu kaufen, konnte er sich nicht leisten. Auch wurmte es ihn unendlich, dass ausgerechnet er erwischt worden war. Opa dachte einige Tage über seine anscheinend ausweglose Situation nach und begann dann in der Scheunenecke, in der sich einiges Gerümpel angesammelt hatte, nach den alten, ausgewechselten Teilen zu suchen. Tatsächlich fand er alles, was er suchte. Er setzte die alten Teile zusammen. Fast wäre das Gerät vollständig funktionsfähig gewesen. Aber eben nur fast. Opa blieb nichts anderes übrig, als nach und nach alle Nachbarn zu besuchen, seine Situation und seinen Plan zu erklären und die Kollegen um Hilfe zu bitten. Sein Pech hatte inzwischen im Dorf schon die Runde gemacht und sowohl für Schadenfreude als auch für Mitleid gesorgt. Da fast alle heimlichen Schnapsbrenner auch schon mal einige Teile ihrer Destille ausgewechselt hatten, fanden sich bei den hilfsbereiten und mitfühlenden Kollegen nach und nach die noch fehlenden Teile. Froh darüber, nicht selbst erwischt worden zu sein, überließen sie meinem Großvater gerne die alten, ausrangierten Geräte. So konnte mein Opa nach einigen Tagen alles komplett zusammenschrauben und eine etwas lädierte, aber durchaus funktionsfähige Destille auf seinen Ackerwagen laden.
Am folgenden Tag spannte er die Pferde an und fuhr gemächlich den weiten Weg nach Celle zum Gericht. Für ihn war es ein nicht enden wollender Leidensweg. Endlich angekommen, wurde dort von den Beamten alles genau kontrolliert. Sie prüften, ob er auch alle notwendigen Teile der Apparatur mitgebracht hatte und ob die Anlage voll funktionsfähig war. Skeptisch wurden die einzelnen Teile begutachtet, und schließlich schmunzelnd und augenzwinkernd von den Kontrolleuren akzeptiert.
Die Gerichtsdiener waren aber erst zufrieden, nachdem Opa auch seine Geldstrafe bar bezahlt hatte. Dies schmerzte ihn damals sehr, denn Bargeld war immer sehr knapp auf dem Hof. Tief betrübt und verärgert ließ Opa sich von seinen Pferden wieder den langen Weg nach Hause ziehen. Zum Glück hatte er sich vorsorglich einen Flachmann eingesteckt. Der half ihm jetzt, den Verlust zu ertragen.
Natürlich wurde mit der geretteten, neueren Destille weiterhin fleißig Schnaps gebrannt. Birnen, Mirabellen und Äpfel waren besonders beliebt. Doch meine Oma achtete sehr darauf, dass nicht das gesamte Obst zum Schnapsbrennen verwendet wurde, sondern auch noch genug für die Familie zum Essen übrig blieb. Deshalb wurden nach dem ersten Frost Schlehen gesammelt, um auch daraus Schnaps zu brennen. War auch der getrunken, brannte mein Opa seinen Schnaps sogar aus Rüben oder Kartoffeln. Doch vorab erkundete er die Zeiten, zu denen die Polizisten regelmäßig ihre Kontrollfahrten durch unser Dorf machten. Mit den anderen heimlichen Schnapsbrennern wurde nach und nach ein richtiges Alarmsystem vereinbart, sollte die Polizei unverhofft gesichtet werden. Da das meist tagsüber geschah, wurde zukünftig nur noch nachts Schnaps gebrannt. Einige Male kamen die Polizisten direkt zu Opa zur Kontrolle. Der bewirtete sie dann jedes Mal mit einem Schnaps aus seinen „allerletzten“ Restbeständen. Aus den Polizisten wurden mit der Zeit fast Freunde und ungebetene Razzien gab es lange Zeit nicht mehr. Obwohl Opa noch glimpflich davon gekommen war und auch weiter Schnaps brennen konnte, wurmte ihn diese Geschichte noch sein ganzes Leben lang.
Immer wenn er viele Jahre später mit mir durch Celle fuhr und wir am Gericht vorbeikamen, zeigte er mit dem Finger auf das große Gerichtsgebäude: „Dor häv ik dat allns henbring möst“, pflegte er dann zu sagen. „Wat för ne Schande“, und dann erzählte er von den Kriegsjahren und wie es ihm immer wieder gelungen war, kleine Nischen zu finden, um seinem Hobby, dem Schnapsbrennen, nachzugehen. Mir wurde nie klar, ob ihn das Erwischtwerden, der Verlust der Destille oder die Geldstrafe mehr geschmerzt hatten. Einen guten Schnaps hat mein Opa noch bis ins hohe Alter immer gern und mit Genuss getrunken.“
Erstmals 2016 veröffentlichte EDITION digital in einer weiteren Eigenproduktion ebenfalls als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book den reich bebilderten Band „Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision der Nationalen Volksarmee der DDR“ von Dietrich Biewald: Mit diesem Buch über die Pioniere in der 8. Motorisierten Schützendivision hat der Autor allen Pionieren dieser Division ein Denkmal gesetzt. Obwohl unter den Bedingungen der Geheimhaltung in der Nationalen Volksarmee nur wenig Material zur Verfügung stand, hat er mit Hilfe der Angehörigen der Pionierkameradschaft umfangreiche Informationen und fast 800 Bilder über Struktur, Umfang, Gliederung und Aufgaben der Pioniere sowie über die Menschen, ohne die das alles nichts gewesen wäre, zusammengetragen. Außerdem stellt er die DDR-Standorte der MSD und der Sowjetarmee mit dem Stand von 2006 gegenüber, mit Fotos belegt. Hier ein Ausschnitt über den Standort Schwerin:
„Pioniere im Stab der 8. Motorisierten Schützendivision
Schwerin
Der Standort in der Stadt Schwerin, die „Kurt-Bürger-Kaserne“ in der Werderstraße, mit Ausfahrten „Am Güstrower Tor“ sowie in der Walter-Rathenau-Straße (später auch Personen-KDL), beherbergte den Stab der 8. MSD mit der Unterabteilung Pionierwesen.
Der Block in der Werderstraße gehörte teils zum Stab der 8. MSD (ca. 70 % des obigen Bildausschnittes von rechts nach links). Den anschließenden Teil nutzte das Nachrichtenbataillon 8. Rechts (nur die linke Kante sichtbar) folgte das Gebäude des Wehrbezirkskommandos. Dazwischen lag anfangs die Eingangswache, der KDL (Kontrolldurchlass).
Später verlegte man auch den Personen-KDL zur bereits bestehenden Fahrzeugeinfahrt Walter-Rathenau-Straße. Ihn nutzt heute noch die Bundeswehr.
Links in dem abgebildeten Flachbau befanden sich die Küche und Speiseräume sowie die Bekleidungskammer des Divisionsstabes. Ganz oben im Vorderteil des nächsten alten Blockes lag der sogenannte MZR, der Mehrzweckraum für Dienstversammlungen und andere Veranstaltungen. Außerdem befanden sich darin die Räumlichkeiten der Militärstaatsanwaltschaft und des Militärgerichtes. Den größten Teil im hinteren Ende und nur von außen zugänglich, nutzte die UKA, die Unterkunftsabteilung Schwerin, die nicht zur 8. MSD gehörte.
Auf der diesen Bauten gegenüberliegenden Seite der Kaserne an der Straße „Am Güstrower Tor“, lagen sozusagen spiegelbildlich fast gleiche Gebäude. Eines nutzte man als Küchengebäude für die Einheiten, welche sich noch mit im Objekt befanden. Der größere Bau beherbergte teils Unterkünfte der Stabskompanie 8, teils Lehrklassen u. a. m.
Im Jahr 2004 existierte die Kaserne in der Werderstraße 100 Jahre. Beim Tag der Offenen Tür am 18. Juni 2004, trafen sich eine ganze Reihe ehemaliger Soldaten an der Stätte ihres einstigen Wirkens, besahen sich das, was davon noch steht, was sich in der Zwischenzeit veränderte und das wenige, das sich davon noch in militärischer Nutzung befindet.
Einige Daten aus der Geschichte Schwerins, der Stadt der Seen und Wälder
Im Jahre 1160 erfolgte die Gründung Schwerins durch Heinrich den Löwen nach seinem Sieg über den Obotritenfürsten Niklot. Sieben Jahre später entstand die Grafschaft Schwerin.
Aus militärischer Sicht bedeutsam: 1340 beendete man den Bau der Stadtmauer. 1358 wurde Schwerin ein Herzogtum.
Wallenstein erhielt 1628 den Titel Herzog von Mecklenburg.
Napoleons Truppen besetzten von 1806 – 1813 die Stadt.
Ab 1815 war Schwerin Großherzogtum.
1845 bis 1857 erfolgte der Umbau des Schweriner Schlosses.
Auf dem Schweriner See begann 1852 das Dampfschiffzeitalter.
1856 eröffnete das neue Theater.
1862 stellte man die „Artilleriekaserne“ auf dem Ostorfer Berge fertig (Johannes-Stelling-Straße). Bis dahin logierten die Soldaten außerhalb der Kasernen in Privatquartieren!!! Die Neuformierung der mecklenburgischen Truppen erforderte den Bau von „Quartierhäusern“, also neuer Kasernen. Dazu gehörten in der Güstrower Straße die Jägerkaserne, nach 1870 bezugsfertig sowie in der Werderstraße die heutige Werderkaserne, deren Bau 1901 bis 1904 erfolgte.
1892 erbaute man den 117,5 Meter hohen Turm des Schweriner Domes.
Ab 1908 nahm die elektrische Straßenbahn ihren Betrieb auf. Eine Linie endete direkt vor der Kaserne in der Werderstraße. Man erzählte sich, dass des Nachts, wenn die „Elektrische“ eine Ruhepause erhielt, einige Herren, welche um diese Zeit oft nicht mehr ganz nüchtern den Weg zur Werderstraße suchten, ihren Säbel mitsamt Scheide in die Rinne eines Straßenbahngleises absenkten. Endete diese, war man am Ziel: der Kaserne.
1918 dankte der letzte Großherzog, Friedrich Franz IV., ab und Schwerin wurde erstmalig Landeshauptstadt, von Mecklenburg.
Im Zuge der Aufrüstung im 3. Reich errichtete man weitere Kasernen, die Anfang des neuen Jahrtausend zu großen Teilen dem Abriss zum Opfer fielen und Platz für neue Bebauung schufen.
1945, mit Ende des Zweiten Weltkrieges, besetzten zunächst englische, nach einem Monat amerikanische und ab Juli 1945 sowjetische Truppen die Stadt.
Mit der Abschaffung der Länderstrukturen erfolgte die Bildung von Bezirken in der DDR. 1952 erhielt Schwerin den Status einer Bezirkshauptstadt. 1971 begann in Schwerin der Bau des Neubaugebietes Großer Dreesch, errichtet auf dem ehemaligen großherzoglichen Exerziergelände.
Zunächst an dessen Rand erbaut, entstand ein neues Wahrzeichen, der Schweriner Fernsehturm, welcher infolge der rasanten Bautätigkeit alsbald mitten im Wohngebiet lag.
1972 erreichte Schwerins Einwohnerzahl die 100 000 und Schwerin damit den Status einer Großstadt. Diese Zahl kletterte danach bis über die Höhe von 130 000.
Es entstanden das Klement-Gottwald-Werk, das Kabelwerk Nord, das Plastverarbeitungswerk, das Molkerei- und Dauermilchwerk, das Plastmaschinenwerk, das Hydraulikwerk, das Lederwarenwerk etc.
Mit der Auflösung der Bezirksstrukturen in der DDR und der Bildung des neuen Landes Mecklenburg-Vorpommern entspann sich ein Kampf darüber, wer sich nun die Krone der Hauptstadt dieses Landes aufsetzen darf. Am 27. Oktober 1990 entschied sich der neue Landtag: Schwerin erhielt wiederum den Status einer Landeshauptstadt, diesmal den von Mecklenburg-Vorpommern.
1993 verließen die letzten Einheiten der sowjetischen Streitkräfte die Stadt Schwerin.
Schwerins Einwohnerzahl sank so Anfang des neuen Jahrtausends wieder unter die Zahl 100 000, Schwerin ist somit keine Großstadt mehr. In die Mehrzahl der bis dahin von der NVA genutzten Kasernen zogen Truppen der Bundeswehr ein.
Ehemalige Pioniere der Nationalen Volksarme bildeten am 24. November 1995 die Pionierkameradschaft Schwerin.
Man sieht, Schwerin besitzt eine lange Tradition als Garnisonsstadt.
Schwerin bot den Soldaten viel Sehenswertes, sowohl an Bauten als auch der schönen Umgebung und nicht zu vergessen was Soldaten besonders im Ausgang reizte: Kneipen wie Mädchen sah man reichlich. Viele gab es sogar im Schloss, zeitweilig genutzt als Internat der Schule für Kindergärtnerinnen.
Die Unterabteilung Pionierwesen der 8. MSD
Im Stab der Division, später offiziell als Führungsorgan der 8. MSD bezeichnet, gab es den Leiter Pionierdienst (LPiD)/später Leiter Pionierwesen (LPiW), auch Leiter der Unterabteilung Pionierwesen (LUA PiW) genannt. Dazu gehörten zwei Offiziere: ein Oberoffizier für die operative Arbeit sowie einer für den pioniertechnischen und den versorgungsmäßigen Bereich. Ein Schirrunteroffizier (meist der „Schreiber“ genannt) ergänzte den Personalbestand.
Zeitraum nicht bekannt: Oberstleutnant Dohle, Hans?, LPiD/LPiW
Zeitraum nicht bekannt: Oberstleutnant Baumgart, Martin, LPiD/LPiW; Major Mony, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
bis 07/1965: Oberstleutnant Lenz, Willi, LPiD/LPiW; Major Mony, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
07/1965 bis 31.08.1968: Oberstleutnant Schulze, Gottfried, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Rehfeld, Gerhard, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim, OO Pi-Versorgung
01.09.1968 bis 31.10.1978: Oberstleutnant Lemke, Kurt, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Biewald, Dietrich, OO Operative Arb; Major Stroht, Hans-Joachim/ Major Schmidt, Jochen, OO Pi-Versorgung
01.11.1978 bis 28.02.1986: Oberstleutnant Biewald, Dietrich, LPiD/LPiW; Major Schmidt, Rainer, Oberstleutnacht Schmidt, Jochen, OO Operative Arb; Major Schmidt, Jochen/Oberstleutnant Normann, Heiko, OO Pi-Versorgung
01.03.1986 bis 1988: Oberstleutnant Beckmann, Wolfgang, LPiD/LPiW; Oberstleutnant Schmidt, Jochen, OO Operative Arb; Oberstleutnant Normann, Heiko, OO Pi-Versorgung
1988 bis1990: Oberstleutnant Richter, Norbert, LPiD/LPiW; Major Winkelmann, Harald, OO Operative Arb; Oberstleutnant Normann, Heiko/Hauptmann Fritsche, Stefan, OO Pi-Versorgung
OO Pi-Versorgung ab 1.10.89: OO PiTeSst.
Der Leiter Pionierwesen
unterstand direkt dem Kommandeur der Division, ab 1986 dem Stabschef.
Er fungierte als direkter Vorgesetzter des PiB-8 (bis 1986) sowie als fachlicher Vorgesetzter der Truppenpioniere und des Divisionspionierlagers.
Darüber hinaus oblag ihm die fachliche Zuständigkeit für die Pionierausbildung, -ausrüstung und -versorgung der anderen Truppenteile und Einheiten in der Division.
Im Einsatz besaß er die Verantwortung für die Pioniersicherstellung der Handlungen der Division. Dafür erhielt er Arbeits- und Führungsmittel, welche jedoch erst in den 80-er Jahren einen Stand erreichten, die ihm aus dieser Sicht eine relativ gute Erfüllung seiner Aufgaben ermöglichten, was vorher nicht ausreichend der Fall war, insbesondere im Bereich der Nachrichtenverbindungen zu seinen Nachgeordneten.
Dem Leiter Pionierwesen der Division standen dafür zur Verfügung:
– eine Funkstation R 145 auf Basis des SPW 60 PB,
– eine Funkstation R 142 auf Basis des LKW GAS 66 Koffer sowie
– ein Stabsfahrzeug ausklapp
EDITION digital wurde vor 25 Jahren von Gisela und Sören Pekrul gegründet und gibt Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit fast 1.000 Titel (Stand Mai 2019).
EDITION digital Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Telefon: +49 (3860) 505788
Telefax: +49 (3860) 505789
http://www.edition-digital.de
Verlagsleiterin
Telefon: +49 (3860) 505788
Fax: +49 (3860) 505789
E-Mail: editiondigital@arcor.de