Diesem außergewöhnlichen Malerleben ist Siegfried Stang in seiner Romanbiographie „Caravaggio“ auf der Spur. Apropos Caravaggio. Auch Malta spielt in der bewegten Lebensgeschichte dieses Mannes zumindest kurzzeitig eine Rolle. Und noch heute ist die südeuropäische Inselrepublik im Mittelmeer stolz auf zwei seiner bedeutendsten Gemälde, die Caravaggio dort geschaffen hat und die noch immer in der St. John’s Co-Kathedrale in der Hauptstadt Valletta zu besichtigen sind: „Der Heilige Hieronymus“ (1607) und „Die Enthauptung Johannes des Täufers“ (1608). Letzteres Kunstwerk spielt übrigens auch in einer aktuellen Neuerscheinung der EDITION digital eine Rolle, die dieser Tage veröffentlicht wird und deren Handlung überwiegend auf Malta angesiedelt ist und ein bisschen in – Leipzig. Der Wirtschaftsthriller „Erbe ohne Todesfall“ von Ingo Kochta kommt jetzt off- und online in den Buchhandel. Und damit zurück zu den anderen drei aktuellen Sonderangeboten dieses Newsletters.
„Eine leise Sehnsucht“ wohnt den teils autobiografischen Texten von Karin Sorkalla inne.
Gleich mit zwei ihrer Bücher ist Gisela Heller in diesem Newsletter vertreten. So enthält „Potsdamer Geschichten“ zwei Dutzend Reportagen über Geschichte und Gegenwart dieser Stadt, in der sowohl preußischer Militarismus als auch Humanismus zu Hause waren. In ihrem sehr viel früher erstmals veröffentlichten „Märkischen Bilderbogen“ war die Reporterin zu DDR-Zeiten zwischen Spreewald und Stechlin unterwegs – also gewissermaßen im Fontane-Land. Und das waren dann auch schon die vier E-Books, die in dieser Woche zum Sonderpreis zu haben sind.
Zum Normalpreis dagegen ist der aktuelle Beitrag der Rubrik Fridays for Future zu kaufen. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Aus Anlass der 80. Wiederkehr des Beginns des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 befasst sich der Fridays-for-Future-Titel im Monat September mit dem Thema Krieg und Frieden: Wie und warum „entstehen“ eigentlich Kriege? Wie kann man sie verhindern? Welche Folgen haben Kriege für die Menschen, die sie erleiden müssen? Und wer stellt sich den Feinden des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts entgegen? Spannende historische Antworten auf diese Fragen gibt ein Buch, das sich mit einem heute vielleicht eher unbekannten Teil des antifaschistischen Widerstandskampfes im Zweiten Weltkrieg beschäftigt:
Erstmals 1985 erschien im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin „Das Tal der Hornissen“ von Jan Flieger: November 1944. Slowakei. Ein früher und bitterer Winter wird erwartet. SS-General Höfle will die Partisanen, die sich in die Berge zurückgezogen haben, zu Tode hetzen. Kälte, Fieber und Hunger sollen die töten, die keine Kugel trifft. Zu den slowakischen Partisanen gehören auch zwei Deutsche, die eines Nachts aus einem sowjetischen Flugzeug abgesprungen sind, sie tragen sowjetische Uniformen ohne Rangabzeichen und haben russische Decknamen. Auch die Partisanen dürfen nicht wissen, dass sie Deutsche sind – Deutsche, wie diejenigen, die sich jetzt auf das Gebiet zubewegen, in dem die Erdbunker der Partisanen liegen. Wieso wussten ihre Feinde so genau Bescheid? Und was war mit den Posten geschehen, die so getarnt standen, dass sie nur der Eingeweihte entdecken konnte? Ein gnadenloser Wettkampf zwischen den heranziehenden SS-Leuten und den Partisanen beginnt, darunter den beiden Deutschen. Bärenbach und Fechner. Obwohl der Tod, getarnt mit weißen Schneehemden und Kapuzen, von allen Seiten kommt, können sie mehrfach entkommen. Aber können sie sich auch in das neue Operationsgebiet absetzen? Hier ein kurzer Auszug aus dem sehr spannenden Buch. Die beiden Deutschen sind auf der Flucht. Und plötzlich kracht ein Schuss:
„Das Gefälle wurde stärker und stärker. Später lichtete sich der Wald.
Sie standen vor einer fast senkrecht abfallenden Schlucht. Vielleicht dreißig, vielleicht auch vierzig Meter unter ihnen schäumte ein Wildbach zwischen Eisschollen, Felsen und Schnee. Auf der anderen Seite der Schlucht wuchsen wieder Tannen, und hinter den Tannen begann ein Wald, dessen Bäume aussahen wie Fahnenstangen, die man in den Schnee gesteckt hatte, beinahe kahl. Wie Schleier wehten ein paar Zweige im Wind.
„Wir müssen hinunter“, sagte Bärenbach, „und drüben wieder hinauf. Die Schlucht ist sehr lang, wir verlieren zwei Stunden, wenn wir sie umgehen.“
Sie liefen an ihrem Rand entlang, bis sie eine Stelle fanden, die, mit Gesträuch bewachsen, einen Abstieg ermöglichte.
Schritt für Schritt tastete sich Bärenbach in die Tiefe, während Fechner in die Gegend spähte und die Waffe entsichert hielt. Dann folgte er Bärenbach.
Die Schlucht war nicht breiter als fünfzehn Meter. Der Bach hatte eine schmale Rinne durch den Schnee gefressen, dabei vereiste Felsbrocken freigelegt, auf denen sie sich hinübertasteten.
Auf der anderen Seite war der Hang sehr glatt, sie rutschten mehrmals ab, ehe sie ihn erklimmen konnten.
Dann schritten sie durch einen Wald, der kein Ende nehmen wollte. Bärenbach ließ Fechner als ersten gehen, damit der Gefährte nicht hinter seinem Rücken unbemerkt zusammensank.
Sie liefen in einer schmalen Schneise, die zwischen Tannen hindurchführte. Sie liefen so nahe an den Bäumen, dass sie beim Laufen mit den Schultern die Zweige berührten und der Schnee herabrieselte.
Der Schuss fiel plötzlich. Es war ein einzelner Schuss.
Fechner krümmte sich zusammen, ehe er seitwärts zwischen die Tannen stürzte. Sofort warf sich auch Bärenbach in ihren Schutz.
Wer hatte geschossen? War es nur ein Schütze? Lauerte er mit anderen im Schutz der Stämme?
Bärenbach spähte in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war – aber nichts geschah. Es konnte ein versprengter Partisan sein, der sie für Deutsche hielt. Oder ein Suchtrupp der SS. Ihre Verfolger konnten es unmöglich sein. Wie sollten sie gegangen sein? Oder folgten sie ihnen in mehreren Gruppen? Waren sie es doch? War das gesamte Gebiet umstellt? Wollten sie ihn lebend?
Endlos lange beobachtete Bärenbach die Tannen. Er spürte die Nähe des Todes fast körperlich. Immer wenn die Angst begann, die sich vom Magen aufwärts auszubreiten schien, spürte er sie. Und es hätte ihn nicht verwundert, wenn der Tod ein bestimmtes Gesicht besäße.
Wo lauerte der Feind? Hatte man ihn bereits im Visier? Doch er musste zu Fechner, weil der getroffen im Schnee lag und verbluten konnte.
Bärenbach robbte zu ihm hin, und als er sah, dass Fechner lebte, zog er ihn weiter in den Wald hinein, knöpfte dem Bewusstlosen die Kleidung auf. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er das Loch über Fechners Leiste sah, ein kreisrundes Loch, das ungewöhnlich groß war für ein MPi-Geschoss und aus dem ein Stück Darm herausquoll.
Bärenbach lauschte weiter. Gedeckt durch das Tannendickicht beobachtete er den gegenüberliegenden Waldrand. Dann entnahm er dem Rucksack das Verbandpäckchen und versuchte, das Stück Darm mit dem Finger in die Wunde zurückzudrücken. Es gelang ihm nicht, es war zu glatt.
Noch nie hatte er eine solche Wunde gesehen. Seine Hände zitterten.
Fechner stöhnte, und blutiger Schaum stand vor seinem Mund. Endlich gelang es Bärenbach, die Wunde zu verbinden, aber Fechner würde Hilfe brauchen, wenn es überhaupt noch Hilfe geben konnte für ihn. Doch dazu musste Bärenbach hinabsteigen in ein unbekanntes Dorf.
Sicher hatte man im nächsten Dorf den Schuss gehört. Doch man hörte oft Schüsse aus den Bergen, in den Tälern war man sie gewohnt. Aber Bärenbach musste weg aus der Nähe des unheimlichen Schützen. Er lud sich Fechner mühsam auf die Schultern und stapfte weiter in den Wald hinein, immer weiter. Erst als er am Ende seiner Kräfte war, legte er Fechner auf den Boden. Fechner lag ohne Bewusstsein zu seinen Füßen. Er zog ihn in dichtes Unterholz, tarnte ihn so, dass man ihn nur durch einen Zufall finden konnte.
Bärenbach entdeckte die Holzfällerhütte, als er schon beinahe mit dem Kopf gegen sie gestoßen wäre. Es war ein Blockhaus, in dem nur zwei Bänke standen und ein Tisch aus rohem Holz.
Er schleppte Fechner in die Hütte, legte ihn auf Tannenzweige, die er von den Bäumen schnitt.
Fechner stöhnte nun ununterbrochen. „Erschieß mich, bitte“, stammelte er und hob die Augen flehend zu Bärenbach.
Bärenbach schwieg. Er biss sich auf die Lippen, bis er das Blut schmeckte. Er schnallte den Rucksack ab und stellte ihn unter den Tisch.
„Ich hole Hilfe“, sagte er. „Finde ich einen Arzt, kannst du es schaffen.“
Fechner lag mit geschlossenen Augen. „Erschieß mich“, bat er erneut.
Bärenbach strich ihm mit der Hand über das verschwitzte Haar. „Warte“, sagte er leise.
Vor der Hütte verwischte er mit Tannenreisig seine Spuren, dann stieg er zum Dorf hinab.
Es war ein kleines Dorf, mit wenigen blockhüttenartigen Häusern und einer Holzkirche. Das Tal wurde an manchen Stellen so schmal, dass man es mit einigen Dutzend Schritten durchqueren konnte.
Obwohl es schon zu dämmern begann, sah Bärenbach kein Licht. Aber er entdeckte gefrorene Tücher an Fenstersimsen – das Zeichen für Partisanen. Das Dorf würde helfen. Er schritt am Waldrand entlang, um so in den Schutz der Bäume tauchen zu können, wenn er SS-Männer sah oder Hlinkagardisten. Die Häuser lagen vor ihm. Aber er erblickte keinen Menschen. Dann sah er die Toten. Sie hingen nebeneinander an einem langen Balken. Bärenbach zählte sechzehn Männer. Ein paar weitere Tote lagen im Schnee.
Bärenbach trat hinter eine Tanne. Er wartete…
Der Wind, der von den Bergen kam, schaukelte die Toten, so dass sie gegeneinander stießen. Bärenbach fröstelte es. Er hatte schon viel gesehen in diesem Krieg, aber immer war das Grauen anders. Er hörte einen Schrei, sehr fern, aber es schien ihm, als ob es Fechner gewesen war. Er lief bergauf, so schnell er konnte.“
Ganz neu ist als Eigenproduktion der EDITION digital soeben die Romanbiografie „Caravaggio – Ein außergewöhnliches Malerleben“ von Siegfried Stang erschienen: In der „Ich-Form“ lässt der Maler Caravaggio im Roman sein abenteuerliches Leben Revue passieren, erinnert sich an Ereignisse und die Entstehung seiner berühmten Werke. In dem Buch werden die entscheidenden Lebensstationen des Malers beschrieben, wobei auch auf die Lebensumstände der Menschen zur Zeit des Barock in Italien eingegangen wird. Von besonderem Interesse waren die Charakterzüge und Eigenarten des Künstlers. Ebenso die Motive und Hintergründe seiner kriminellen Taten, wobei neuere Erkenntnisse und bislang nicht allgemein bekannte Dokumente Berücksichtigung fanden. Der Roman beschränkt sich nicht auf Einzelereignisse (wie beispielsweise die Flucht Caravaggios aus dem Gefängnisverlies des Castel Sant‘Angelo auf Malta), sondern er bietet einen Gesamtüberblick zu Leben und Schaffen des berühmten Malers und seiner Entwicklung. Im folgenden Auszug geht es um die beruflichen Anfänge des späteren Künstlers, der aus einer Handwerkerfamilie stammte und selbst eigentlich auch Handwerker werden sollte, genauer gesagt Maurer. Aber hören wir Caravaggio selbst:
„Für mich war eigentlich vorgesehen, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters Fermo treten und wie er Maurermeister werden sollte. Deshalb arbeitete ich auch einige Zeit als Handlanger bei meinen Onkeln väterlicherseits, die ebenfalls Meister des Maurerhandwerks waren. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in der Sommerhitze Steine schleppte, bis an den Rand der Erschöpfung. So fand ich schnell heraus, dass der Beruf eines Maurers sehr anstrengend und hart sein kann. Das gefiel mir nicht sonderlich, vor allem nicht die Aussicht, mich vielleicht mein Leben lang abplagen zu müssen. Ich überlegte, zermarterte mir das Hirn, um meiner Mutter einen anderen Beruf für mich vorzuschlagen und den Strapazen, die mich als Maurer erwarteten, zu entgehen. Lange dachte ich nach, aber mir fiel kein Beruf ein, der mich interessiert hätte. Doch einmal, als ich meine Gedanken wandern ließ, erinnerte ich mich an die herrschaftlichen Bauten der Sforza Colonna, insbesondere an die prächtige Ausstattung der Räume in diesen Gebäuden. Und plötzlich kamen mir die Bilder in den Sinn, die ich dort an den Wänden gesehen hatte. Nicht einzelne Gemälde – die ich als Junge auch gar nicht in meinem Gedächtnis hätte speichern können –, sondern bestimmte „Arten“ von Bildern: Porträts, ganze Galerien mit den Bildnissen von Vorfahren der Sforza Colonna, denn die waren sehr stolz auf ihre Geschichte; oder Bilder von geflügelten, dicklichen Engelchen und vielfarbigen antiken Göttern (von denen ich damals allerdings noch keine Ahnung hatte), zum Teil sogar an der Decke von Räumen.
Alle diese Gemälde – viele in goldfarbenen, kunstvollen Rahmen – sahen in meiner Erinnerung edel und wertvoll aus. Sie waren Teil dessen, was in meiner kindlichen Vorstellung zur Adelsfamilie der Sforza Colonna gehörte und ihren Glanz ausmachte: Bilder in kostbar glänzender Einfassung, die in den riesigen Räumen der Paläste dieser Familie hingen. Bilder als prächtiger Schmuck für Deckengewölbe. Gemälde, Reichtum, Macht, Nobilità – das gehörte für mich zusammen.
So kam ich schließlich auf die Idee, Maler werden zu wollen. Als ich dies meiner Mutter sagte, lachte sie überrascht und schüttelte, ohne groß nachzudenken, sofort den Kopf. Einen Maler hatte es in den weitverzweigten Familien der Merisi und Aratori noch nie gegeben. „So eine Lehre ist eine kostspielige Sache. Maler sind eigentlich keine richtigen Handwerker wie etwa Maurer, selbst wenn sie ihre Arbeit mit den Händen verrichten und sich in manchen Städten zu Zünften zusammengeschlossen haben. Du, Michele, bist der Sohn eines Handwerkers und solltest als ältester Sohn der Tradition folgen, den Beruf des Vaters oder einen ähnlichen zu ergreifen.“ Aber ich ließ nicht locker: Mit meinem Wunsch bedrängte ich meine Mutter und meinen Großvater Giovan Giacomo immer wieder, obwohl es bis dahin niemals Anzeichen dafür gegeben hatte, dass ich für das Zeichnen und Malen besonderes Talent hatte. Meine Mutter wies mich ausdrücklich darauf hin und sagte sogar einmal: „Ein schlechter Maler hat immer einen Fehler gemacht: Er hat den falschen Beruf gewählt!“ Aber je öfter man mich zurückwies, desto hartnäckiger wurde ich. Endlich gab man aber meinem Drängen nach.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mit meiner Mutter und meinem Großvater an dem Tisch in der Küche saß. Man hatte mich von draußen zu dem Gespräch hereingerufen. Großvater Aratori sagte nachdenklich zu meiner Mutter: „Als Maler kann der Junge später über den Stand als einfacher Handwerker, der von Geburt an eigentlich für ihn vorgesehen ist, zu höherem Rang aufsteigen. Ein guter, bekannter Maler steht einem Rechtsanwalt oder Universitätsprofessor vom Ansehen her nicht viel nach. Das ist eine große Möglichkeit für ihn und für das Ansehen unserer Familie.“ Meine Mutter antwortete ihm: „Vater, sicherlich ist es so, wenn er erfolgreich sein sollte. Aber das sind vorerst Träume oder allenfalls schöne Hoffnungen! Ein erfolgloser Maler, der seinen Unterhalt von seltenen Kleinaufträgen bestreiten muss, steht im Ergebnis schlechter da, als etwa ein Schneider, der über einen großen Kundenstamm verfügt und in seinem Beruf Erfolg hat. Aber es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, dass Michele sich als Maler bewährt und für seine Kunstfertigkeit bekannt wird. Die Welt steht ihm offen und niemand kann in die Zukunft schauen!“ Sie seufzte tief und wandte sich nun mir zu: „Wenn es wirklich dein Herzenswunsch ist, Michele, ein Maler zu werden, dann sollst du diese Kunst auch erlernen. Hoffentlich hast du das notwendige Geschick dazu!“ Ich nickte bloß eifrig und freute mich auf das, was kommen sollte. Meine Mutter und mein Großvater waren sich einig: Ich durfte den Beruf erlernen, den ich erlernen wollte.
So wurde ich mit einem Vertrag vom 6. April 1584 für vier Jahre bei Simone Peterzano in die Lehre gegeben, einem Maler, der damals in Mailand als bester Lehrer für diesen Beruf galt.
Das Lehrgeld war hoch, es betrug jährlich 24 Scudi (Golddukaten).“
Ebenfalls in diesem Jahr brachte die EDITION als eine weitere Eigenproduktion – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book – „Eine leise Sehnsucht“ von Karin Sorkalla heraus: In 47 Kurzgeschichten und zwei Novellen geht die Autorin den merkwürdigen Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt nach, vor allem ihren Beweggründe, ihren Sehnsüchten und Träumen. Dass die Geschichten dabei hin und wieder auch melancholisch daher kommen, liegt an der Liebe der Autorin zu Rainer Maria Rilke und seinem Spruch „Aus jeder Traurigkeit erwächst eine neue Welterkenntnis“. Das Werden und Vergehen gerade in der Natur auf dem Lande trägt im Vergehen auch schon das Werden in sich. Von sich selbst berichtet Karin Sorkalla unter anderem: „Zum Kriegsbeginn geboren, habe ich meine ersten Lebensjahre in einem kleinen Dörfchen oberhalb und südlich von Dresden auf einem Bauernhof verbracht, auf dem meine Mutter als Landpflichtjahr-Magd gearbeitet hat. Mein Vater kehrte, wie so viele Väter, aus dem Krieg nicht zurück. Das Landleben hat mich geprägt, auch wenn ich später viele Jahre in Dresden als Filmtheaterleiterin gearbeitet habe, nachdem ich am Literaturinstitut J. R. Becher ein Fernstudium absolviert hatte. Mit dem Schreiben allerdings habe ich erst richtig begonnen, als ich Rentnerin wurde. Ich denke aber, man merkt meinen Geschichten an, dass ich ein Landkind geblieben bin. Seit einigen Jahren lebe ich wieder auf dem Lande, was manchmal beschwerlich ist, weil ich durch gesundheitliche Probleme nicht mehr so mobil bin, wie ich es gerne möchte, denn eines ist geblieben: Eine leise und stille Sehnsucht nach Ferne …“
In der folgenden Geschichte geht es um ein besonderes Gefühl von Zeit- und Raumlosigkeit und um die Möglichkeit, sehr unterschiedlichen Personen und sogar einem Außerirdischen zu begegnen:
„Reminiszenz Rossin
Jetzt aber, wieder zu Hause angekommen, fragt mich der Vermieter des Ferienhauses, in dem ich 14 Tage gewohnt habe, wie ich mit dem ebenem Land zurechtgekommen sei und ob es mir gefallen habe.
Hätte er mich das früher gefragt, Anfang der sechziger Jahre, als ich in Rostock studiert habe, dann hätte ich die schrecklichen Dörfer im Rostocker südlichen Vorland vor mir gesehen und entrüstet mit Nein geantwortet.
Warum kann ich jetzt und hier mit Ja antworten? Was ist anders geworden? Und warum sollte es jetzt anders sein?
Heute komme ich hierher und finde ein ruhiges, weitläufiges Land, ein stilles Land mit einem großen Atem.
Vielleicht war mir damals der Atem zu groß. Vielleicht ging es mir damals, vor 50 Jahren, eher um hektisches Hecheln, um Schnelligkeit, um immer etwas erleben müssen, ständig etwas Neues, Verrücktes, Temporeiches …
Hier aber, in diesem kleinen Ort Rossin, ist alles weit, auch von Mensch zu Mensch. Niemand, außerhalb der Dörfer, wird einem begegnen.
Und auch die Zeit. Sie hat einen Rhythmus, der sich anders bewegt, mir kommt es vor, als könnte mir, irgendwo zwischen den Feldern, ein Germane begegnen, die Streitaxt „Franziska“ oder seine Leier geschultert. Ich wäre auch nicht überrascht, wenn es ET, das Alien wäre, das nach Hause telefonieren will.
Es ist eine gewisse Zeit- und auch Raumlosigkeit, die mich hier umweht. Die mit den gemächlichen Winden aus dem Osten hier herüberstreicht und die Zeit mitnimmt in andere Breiten und den Raum dehnt ins Unendliche.
Und dieses zeit- und raumlose Gefühl ist nicht dem Urlaub geschuldet, es ist dieses ebene Land, es scheint weder Anfang noch Ende zu haben …
Wenn ich das jetzt bedenke, so scheint es mir, dass mein Horizont ein anderer gewordenen ist. 55 Jahre liegen dazwischen. Nicht das ebene Land hat sich geändert, oder besser, nicht nur, sondern ich bin es.
Also ja, ich liebe es. Ob ich hier für immer bleiben möchte? Nein, das wohl nicht …“
Erstmals 1993 veröffentlichte Gisela Heller im arani-Verlag Berlin ihre „Potsdamer Geschichten“: Potsdam, Jahrhunderte hindurch Residenz der preußischen Könige, war lange Zeit Sinnbild einer unheilvollen Politik in Deutschland. In zwei Dutzend Reportagen berichtet Gisela Heller über Vergangenheit und Gegenwart der Stadt, über Legende und Wirklichkeit dieses Symbols preußisch-deutscher Geschichte. Neben Schilderungen von Sanssouci und Cecilienhof, der Entstehung und Geschichte der Filmstadt Babelsberg und dem „roten Nowawes“ liest man Berichte über die Rettung der Potsdamer Gärten durch die Rote Armee und den Wiederaufbau des im zweiten Weltkrieg stark zerstörten Zentrums der Stadt zwischen den Havelseen, in der einst Knobelsdorff, Schinkel, Alexander von Humboldt, Lenné gewirkt und ihre Spuren hinterlassen haben. Gisela Heller hat während jahrelanger Studien in Archiven und Museen Material gesammelt, die große Bibliothek der Potsdam-Literatur gewissenhaft durchforstet, Gespräche mit den älteren Bürgern der Stadt geführt. So ist ein lebendiges Bild menschlicher Schicksale und historischer Ereignisse entstanden, das Potsdam nicht nur als Wiege des deutschen Militarismus, sondern auch als eine Stätte vielfältiger humanistischer Traditionen zeigt. Hier der Beginn einer dieser 24 Reportagen aus Potsdam:
„Lustgarten
Wie nähert man sich einer tausendjährigen, umstrittenen Schönen? Am besten aus respektvoller Distanz. Siebzehn Stockwerke werden genügen. Beginnen wir also im Café „Bellevue“ des Hotels Potsdam, das sich wie ein architektonisches Ausrufezeichen just an jener Stelle erhebt, wo poztupimi – sehr allmählich – aus dem Sumpfe aufgestiegen ist. Hier oben, wolkennah, gewinnt man den nötigen historischen Abstand zu den Dingen, fühlt man sich abgehoben wie in einem Raumschiff. Beugt man sich vor zur südlichen Seite, taucht ein Meer von roten und altersbraunen Ziegeldächern auf, Türme und Kuppeln scheinen darin zu schwimmen; und vor dem grünen Horizont ragen da und dort helle Hochhäuser in den Himmel. An der Nordseite des Hotels fließt die Havel, auf der Schwäne wie weiße Blumen blühen.
Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts saß hier – nur eben siebzehn Etagen tiefer – am Brunnenrand einer vergoldeten Fontäne der Dichter Bellamintes und besang „das blaue Band der Havel, das mit liebenden Armen das itzt blühende Potztamp umschlingt“. Er pries die wildreichen Wälder mit ihren starken Eichen, die schimmernden Reben und Aprikosen und vor allem natürlich den Mann, dem dies alles gehörte: Friedrich I. von Hohenzollern, erster König in Preußen. Weniger emphatische Zeitgenossen dagegen klagten, das „Städtegen“ sei ein Fieberloch, ein Schlangennest, das nach sieben Jahrhunderten gerade erst mit der Nase aus dem Sumpfe rage …
In der Tat war die Fischersiedlung Poztupimi nur allmählich aus der Namenlosigkeit aufgestiegen. 993 erschien sie zum ersten Mal auf einer Urkunde, in der Kaiser Otto III. sie seiner Tante schenkte, der Äbtissin von Quedlinburg. Es war eine reine Farce, denn Poztupimi war, wie alles Land zwischen Havel und Elbe, längst wieder von slawischen Fürsten zurückerobert. Hundertfünfzig Jahre hielten sie es fest in ihrem Besitz, bis sie von Albrecht dem Bären endgültig besiegt wurden.
Zu der Zeit muss es an diesem Ufer neben den Fischerhütten schon eine palisadenbewehrte Erdburg gegeben haben.
Das erste Stadtsiegel trägt die Jahreszahl 1317. Doch krähte zu dieser Zeit noch kein Hahn nach diesem Nest, das von den jeweiligen Herren verkauft, verpfändet, im Spiel verloren oder als Prellbock in den Händeln untereinander benutzt wurde. Hauptstadt der Mark war unumstritten die Churstadt Brandenburg. Als der Ruf des dortigen Schöppenstuhls bereits bis Polen und Böhmen gedrungen war, tauchte in den uns überlieferten Zeugnissen der erste namentlich genannte Potsdamer Bürger auf. Doch war kein Staat mit ihm zu machen, es war ein Pferdedieb, der 1409 in Berlin gehenkt wurde.
Bald darauf, 1415, kamen die Hohenzollern in die Mark und errichteten ihre Hausmacht mit Methoden, die denen der Raubritter nicht unähnlich waren, doch betrieben sie ihr Handwerk „von Gottes Gnaden“ und galten deshalb als unantastbar. Die Rechte der selbstbewussten Städte beschnitten sie rigoros. Das stolze Brandenburg traf es am härtesten. Es zehrte noch eine Weile vom bleichenden Ruhm, dann brach der Dreißigjährige Krieg herein, und noch hundert Jahre danach lag es wund und ausgeblutet.
Potsdam erging es nicht besser. Zwölf Jahre nach dem Friedensschluss von 1648 kräuselte nur noch aus einer von drei Feuerstellen spärlicher Rauch. Die Mark war ausgebeutet und menschenarm. Um Wirtschaft und Handel zu beleben, entschloss sich der Große Kurfürst, das Land energisch zu bevölkern. Ludwig XIV. kam ihm bei diesem Vorhaben ungewollt entgegen. In blindem Fanatismus hatte er das Toleranzedikt von Nantes, das allen Anhängern der reformierten Kirche Glaubensfreiheit zubilligte, für null und nichtig erklärt. Auf flammten wieder die Scheiterhaufen der Inquisition. Die nicht abschwören sollten, wurden aufs Rad geflochten, verbrannt oder auf die Galeere geschickt, Frauen und Kinder hinter Klostermauern gesperrt.
Ein ungeheurer Exodus setzte ein. Hunderttausende ehrbare Handwerker und strebsame Kaufleute suchten Zuflucht in England, den Niederlanden und in Nordamerika. Der Kurfürst von Brandenburg musste sich beeilen, den Menschenstrom in seine märkische Streusandbüchse zu leiten, darum erließ er im Oktober 1685 das Edikt von Potsdam, das nicht nur Glaubensfreiheit, sondern großzügige Starthilfe in der neuen Heimat versprach. Und es kamen zwanzigtausend charakterfeste Leute, von Angst und Strapazen gezeichnet, bescheiden und unendlich dankbar. Hugenotten oder Refugies nannten sich die Flüchtlinge. Neben feineren Sitten und höflicheren Umgangsformen als den hierzulande üblichen brachten sie viele segensreiche Kenntnisse und Fertigkeiten mit, nicht nur die Kunst der Damast- und Seidenweberei, auch die Erfahrung im Anbau von Tabak und Kartoffeln, von Spargel, Rosen- und Blumenkohl. In wenigen Jahren zahlten sie die allergnädigste kurfürstliche Starthilfe hundertfach zurück.
Der Kurfürst dachte realistisch. Ihm war es gleich, zu welchem Gott, in welcher Kirche seine Untertanen an jedem siebenten Tage beteten, wenn sie nur in den übrigen sechs Tagen fleißig arbeiteten und ihm keine Scherereien bereiteten. Er ließ die Residenzen von Berlin und Cölln ausbauen, die alte düstere Burg zu Potztamp wurde abgerissen. An ihrer Stelle errichtete der niederländische Schleusenbaumeister Nering zusammen mit dem österreichischen Festungsbaumeister Memhardt und dem Franzosen de Chièze in zwanzigjähriger Bauzeit ein fürstliches Schloss; es folgten Lustgarten, Pomeranzenhaus und großzügige Alleen.
Des Großen Kurfürsten Sohn Friedrich lernte beizeiten aus dem Vollen zu schöpfen. Was die Natur ihm versagte, wollte er auf andere Weise wieder wettmachen. Mit riesiger, den Buckel verbergender Allongeperücke eilte er von einer Festlichkeit zur anderen. Bald genügte ihm der Kurfürstenhut nicht mehr. 1701 setzte er sich in Königsberg selbst die Krone auf; danach durfte er sich „König in Preußen“ nennen. Die Zustimmung ließ sich der Kaiser natürlich honorieren. Friedrich zahlte mit achttausend Landeskindern in Uniform, die der Kaiser für seinen Spanischen Erbfolgekrieg dringend brauchte. So begann das „Gottesgnadentum“ der preußischen Könige – mit Menschenhandel.“
Bereits 1976 erschien erstmals im Verlag der Nation Berlin ebenfalls von Gisela Heller ihr „Märkischer Bilderbogen“ mit dem Untertitel „Als Reporterin zwischen Spreewald und Stechlin“: Durch diese Gegenden ist einst Fontane gewandert, um Land und Leute zwischen Oder und Elbe, Spreewald und Stechlin zu beschreiben, und es hat schon seinen besonderen Reiz, heute, hundert Jahre später, seinen Spuren nachzugehen. Gisela Heller hat sich in den märkischen Städten und Dörfern umgesehen und vieles entdeckt, was dem Auge des zufälligen Besuchers meist verborgen bleibt. In dreißig Reportagen berichtet sie von den Stätten, wo Bettina von Arnim, Fontane, Einstein, Brecht gelebt haben, von Begegnungen mit interessanten Menschen aus unseren Tagen, Wissenschaftlern und Künstlern, Arbeitern, Handwerkern und LPG-Mitgliedern, von den Käuzen, auf die man überall trifft. Wir hören Historien aus oft sagenumwobener Vergangenheit und lesen erschüttert die nüchternen Tatsachen aus der jüngeren Geschichte, vom Kampf um die Seelower Höhen, von der Kesselschlacht bei Halbe. Vor dem Hintergrund geschichtlicher Traditionen entsteht so ein lebendiger Eindruck von den großen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich vor allem in den letzten dreißig Jahren in diesen wirtschaftlich früher meist vernachlässigten Gebieten der heutigen Bezirke Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder) vollzogen haben. Und damit sind wir schon bei Fontane und einem seiner Lieblingsseen, den er sogar zu einem Romanhelden gemacht hat:
„Stechlin
Der Stechlin ist wie die erste Liebe: Man kann ihn verlassen, aber nicht vergessen.
„Da lag er vor uns, der buchtenreiche See, geheimnisvoll, einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge weigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt.“ So heißt es bei Fontane. Doch bei allem Faible für romantische Geschichten war der Dichter viel zu nüchtern, um sich mit düsteren Ahnungen zufriedenzugeben. Er horchte herum, was sich die Leute über den See erzählten, die Glasbläser, Holzfäller und vor allem die Fischer. Dabei kamen, wie Fontane berichtet, die seltsamsten Dinge zutage: „Als das Lissabonner Erdbeben war, 1755, waren hier Strudel und Trichter, und stäubende Wasserhosen tanzten zwischen den Ufern hin. Der Stechlin geht vierhundert Fuß tief, und an manchen Stellen findet das Senkblei keinen Grund. Und Launen hat er, man muss ihn ausstudieren wie eine Frau … Die Fischer selbstverständlich kennen ihn am besten. Hier dürfen sie ihre Netze ziehn, und an seiner Oberfläche bleibt alles klar und heiter, aber zehn Schritte weiter will er’s nicht haben, aus bloßem Eigensinn, und sein Antlitz runzelt und verdunkelt sich, und ein Murren klingt herauf. Dann ist es Zeit, ihn zu meiden und das Ufer aufzusuchen. Ist aber ein Waghals im Boot, der’s ertrotzen will, so gibt’s ein Unglück, und der Hahn steigt herauf, rot und zornig, der unten auf dem Grunde des Stechlin sitzt, und schlägt den See mit seinen Flügeln, bis er schäumt und wogt, und greift das Boot an und kreischt und kräht, dass es die ganze Menzer Forst durchhallt von Dagow bis Roofen und Alt–Globsow hin.“
Der Stechlin übt noch heute auf den Beschauer eine solche zaubrische Anziehung aus, dass man geneigt ist, ihm wenigstens ein paar seiner Geheimnisse zu lassen. Doch da sitzen in der Alten Fischerhütte die unbestechlichen Limnologen von der Akademie der Wissenschaften und erforschen den See bis auf den letzten Kubikzentimeter. Der Rote Hahn entfloh dieser unbequemen Nachbarschaft und ist heute nur noch im Neuglobsower Wappen zu sehen.
Wie mag es zu dieser Sage gekommen sein? Dr. Heinz-Dieter Krausch aus dem Team der Binnengewässererforscher gibt eine ganz natürliche Erklärung: „Auf dem Seeboden bildet sich durch die Verwesung abgesunkener organischer Stoffe das brennbare Sumpfgas Methan. In alten Zeiten fischte man vielfach in der Nacht beim Schein brennender Kienfackeln. Aufsteigende Blasen von Methan, durch das Netz in der Tiefe freigelegt, dürften sich explosionsartig an den Fackeln entzündet und somit Veranlassung zur Sage vom Roten Hahn gegeben haben.“
So einleuchtend ist das. Wenn man’s weiß.
Wie aber steht es mit der rätselhaften Verbindung, die der Stechlin mit der Welt haben soll und worüber Fontane schrieb: „Wenn in der Welt draußen etwas los ist, wenn auf Island oder auf Java ein Berg Feuer speit und die Erde bebt, so macht der Stechlin … die große Weltbewegung mit und sprudelt und wirft Strahlen und bildet Trichter …“
Der Limnologe lächelt. Dichterische Freiheit; zugegeben, ein ausgesucht schönes und poetisches Symbol, um zu zeigen, dass die großen Weltbewegungen – Fontane meinte weniger die vulkanischen als die gesellschaftlichen Umwälzungen – selbst diesen abgeschiedenen märkischen See erschüttern, das heißt, dass man sich ihnen nirgendwo entziehen kann.
Geotektonisch ist der Stechlin schwer zu erschüttern. Er ist ein Überbleibsel der Eiszeit, zwei Schmelzwasserströme kreuzten sich hier, daher die vierarmige Gestalt und die ungewöhnliche Tiefe. Echolote maßen an der tiefsten Stelle achtundsechzig Meter, so tief ist kein anderer See in der DDR. Was Fontane aber „launisch und eigensinnig“ nannte, das nennen die Wissenschaftler heutzutage „hochgradig windexponiert“. Schon bei mäßiger Brise haben Ruder- und Paddelboote Mühe, das rettende Ufer zu gewinnen, und bei Gewitterböen ist der Stechlin so gefährlich wie vor tausend Jahren, als ihn die slawischen Fischer das wilde, unruhige Wasser nannten. Selbst die Seenforscher vom Institut haben Respekt vor dem Westwind. Jagt er über die weite Wasserfläche, so steigert er sich in seiner Heftigkeit, reißt Schaumkronen ab, Gischt steigt auf; und bricht er sich am Steilufer, das wie eine Nase in den See hineinragt, dann wird er tückisch, Windwirbel entstehen, und haushohe Fontänen tanzen in irren Kreisen über das Wasser. Wer da auf dem See ist, kann es den Altvorderen nachempfinden, die die Sage vom Roten Hahn erdichteten.
Vieltausend Menschen, die von der Gewerkschaft einen Ferienscheck oder eine vorbeugende Kur für das „Haus Stechlin“ in Neuglobsow bekommen, lesen in der Vorfreude und um sich seelisch zu präparieren, Fontanes „Stechlin“. Sind sie am Ziel ihrer Reise angelangt und haben sie von den sanft federnden Betten, der freundlichen Terrasse mit den bunten Sonnenschirmen Besitz ergriffen, dann kommt todsicher die Frage nach dem Dorf Stechlin. Die Neuglobsower warten schon darauf und versuchen den Neugierigen schonend beizubringen, dass es ein Dorf Stechlin in dieser Gegend nie gegeben habe, nur das Fontanesche Kloster Wutz könne man wiedererkennen im früheren Kloster Lindow.
Das Kloster Lindow spielte hier jahrhundertelang eine große Rolle. Mehrere Dörfer, fast alle Seen und vier Quadratmeilen Wald gehörten ihm, bis die Reformation kam und der Markgraf von Brandenburg sich alles, einschließlich der Klostermauern, unter den Nagel riss. Die Markgrafen kamen und gingen, die Kurfürsten, die Könige, doch am Stechlin und im Menzer Forst blieb’s, wie’s war.
„Hochstämmig ragten die Kiefern auf, Hirsch und Wildschwein in Fülle, doch auf Meilen in der Runde kein Haus und keine Küche, dem mit dem einen oder andern gedient gewesen wäre. ,Was tun mit dieser Forst?‘, hieß es immer wieder in der Kriegs- und Domänenkammer. Kohlenmeiler und Teeröfen wurden angelegt, aber Teer und Kohlen hatten keinen Preis. Glashütten wurden eingerichtet, aber auch sie vermochten nicht viel, da erging zuletzt eine Anfrage von der Kammer an die Menzer Oberförsterei, wie lange die Forst aushalten werde, wenn Berlin aus ihm zu brennen und zu heizen anfange? Worauf die Oberförsterei mit Stolz antwortete: ,Die Menzer Forst hält alles aus!‘ Das war ein schönes Wort, aber doch schöner, als sich mit der Wirklichkeit vertrug. Und das sollte bald erkannt werden. Noch ehe dreißig Jahre um waren, war die ganze Menzer Forst durch die Berliner Schornsteine geflogen.“
Soweit Fontane. Ein Wald aber braucht hundert Jahre, um sich zu erneuern. Ob der Flößerkanal, den die Oberförsterei bekam, um den Raubbau zu beschleunigen, dies alles aufwog? Jedenfalls ließen sich nun wenigstens die Flaschen aus der Grünen Hütte besser und billiger abtransportieren.
Die Grüne Hütte, das klingt nach Kunst mit Goldrand, aber es waren immer nur derbe, profane Flaschen, die die Neuglobsower Hütte herstellte. Manchmal, wenn Kinder im Sande buddeln, stoßen sie auf Glasbutzer und Scherben aus der Zeit, als Fontane den Stechlin besuchte. Er soll sogar im Dorfgasthof übernachtet haben, aber sicher weiß man’s nicht. Auf jeden Fall trägt das gemütliche Fachwerkhaus noch heute seinen Namen. Geschickte Hände haben in altmodischer Schrift auf den Giebelbalken gemalt: „Wer goder Meinung kommt herin, der soll mer ganz willkommen sin!“
Neuglobsow wurde eigentlich durch Fontanes Reisefeuilleton von den Berlinern entdeckt. Zuerst tauchten Künstler als Sommergäste auf. Die armen Glasmacher- und Holzfällerfamilien räumten ihnen für ein paar Wochen die Ehebetten ein und nahmen mit einer Strohschütte vorlieb. Bald bauten sich einige bescheidene Sommerhäuser. Die protzigen Landhäuser kamen später, als auch die Großindustriellen auf dieses idyllische Fleckchen aufmerksam wurden. Was die FDGB-Urlauber heute von Weitem für ein Schloss halten, vielleicht sogar für das des Herrn Dubslav von Stechlin, gehörte einst dem Besitzer der Berlin-Wilmersdorfer Müllabfuhr.“
Wer hätte das gedacht, was ein Müll-Baron für eine schöne Wohnung hat. Aber nicht nur im Leben ist manches anders als man es auf den ersten Blick denkt. Ganz so ähnlich geht es natürlich auch in der Literatur zu. Schließlich ist Literatur gewissermaßen verdichtetes oder auch gedichtetes Leben. Jedenfalls hat, wer Bücher liest, mehr vom Leben, lernt andere Welten, Weltgegenden und Schicksale kennen und kann – wenn er denn möchte – mit dem eigenen Lebensweg vergleichen und den seinigen mitunter sogar nochmal in einen ganz andere Richtung laufen lassen. Selbstverständlich aber kann es auch sein, dass man angesichts der Schilderungen fremden Lebens mit dem eigenen ganz zufrieden ist und sich mit dem beruhigenden Gefühl im Schaukelstuhl zurücklehnt: „Alles richtig gemacht.“
So oder so, viel Spaß beim Lesen, eine gute Reise durch Raum und Zeit, einen stressfreien Übergang vom Sommer zum Herbst und bis demnächst.
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