In ihrer Heimat Dänemark ist Sissel-Jo Gazan ein Literaturstar, in Deutschland dagegen noch ein Geheimtipp. Höchste Zeit, die Autorin auch hierzulande zu entdecken. Mit ihrer besonderen Mischung aus Suspense, dem Eintauchen in ungewöhnliche Milieus, dem Blick der Wissenschaftlerin auf ausgefallene Themen und einem feinen Sinn für komplexe Beziehungsnetze zieht sie den Leser in ihren Bann. Mit diesen prägnanten Elementen jongliert sie virtuos auch in ihrem aktuellen Roman Was du von mir wissen sollst. Als Reminiszenz an ihren Bestseller Dinosaurierfedern startet Gazan Blaekhat – so der dänische Titel – als Krimi mit der mysteriösen Vergiftung einer Randfigur. Doch dann nimmt die Autorin uns mit auf eine Zeitreise in das dänische Aarhus der 80er Jahre und zieht den Leser mit einem Entwicklungsroman mit komplexen, von leichter Hand gewebten Erzählsträngen in ihren Bann. Protagonistin ist das Mädchen Rosa, das bei ihrer Mutter Helle aufwächst. einer leidenschaftlichen Mykologin und überzeugten Anti-Atomkraft- und Kriegsgegnerin. Eine glückliche, freie Kindheit, nur die Frage nach Rosas leiblichem Vater will Helle ihrer Tochter nicht beantworten. Zum Glück hat sie einen wunderbaren Ersatzvater, den homosexuelle Künstler Kalle Krudt, und in dem hippieartigen Freundeskreis und ihrer großbürgerlichen Großmutter verlässliche Bezugspersonen. Doch die Frage nach ihrem biologischen Vater treibt Rosa weiter um und wird sie bis zum Ende des Romans nicht loslassen.
Mit ihrer besten Freundin Sevim stromert sie durch die Gassen von Aarhus und entdeckt dabei die Welt der Graffitis und Paste-Ups für sich. Rosa und die entstehende Street-Art-Szene werden gewissermaßen miteinander groß, die Street-Art wird regelrecht zu einer eigenständigen Figur. Rosa entwickelt sich von der Entdeckerin zur selbstständigen Künstlerin: Von dem ersten subversiven Monchichi, das sie an die Betonwände der Stadt malt, bis zu den großen Pieces ihrer späteren Gang – Rosa macht nicht nur selbst Kunst, sie dokumentiert auch ihre und fremde Werke akribisch in einem Notizbuch, wird schließlich zur Wissenschaftsexpertin für Straßenkunst. Die Atmosphäre der Geburtsstunde der Street-Art-Szene und die Beschreibung der Pieces lassen den Leser in eine für die meisten wohl völlig fremde Welt eintauchen. Hier ist das Buch besonders stark – authentisch, greifbar, faszinierend.
Ebenso interessant sind die komplexen Handlungsstränge, die Gazan webt. Der Straßenkampf zwischen linker Hausbesetzerszene und rechten Strukturen in der Gesellschaft, dem persönlichen Stellungskampf von Rosas türkischstämmiger Freundin Sevim, die wie ihre Cousine und Freundinnen in patriarchalen Strukturen aufwächst und andererseits als Straßenkünstlerin rebelliert. Zwischen ihren beiden ersten Lieben, dem stramm-konservativen Jacob und dem Autonomen Tom. Mit einem Zeitsprung nimmt uns die Autorin mit in das Leben der Erwachsenen Rosa: Die rebellische Rosa scheint als Wissenschaftlerin in die Fußstapfen ihrer rationalen Mutter getreten zu sein und ist Expertin für Street-Art. Mit Mutter und Großmutter, Ersatzvater Krudt und den alten Freunden lebt sie ein harmonisches Leben, doch eine unerklärliche Unruhe lässt sie keine festen Beziehungen eingehen und rastlos um die Welt reisen, immer auf den Spuren der angesagtesten Street-Art-Künstler. In Berlin führen alle Erzählstränge zusammen und zu einem überraschenden Ende.
Unbedingt lesen. Aber Achtung: Nach der Lektüre sieht man die eigene Stadt und ihre Straßenkunst plötzlich an allen Ecken und Wänden und vor allem mit völlig neuen Augen.
Sissel-Jo Gazan: Was du von mir wissen sollst
Roman, erschienen bei dtv premium, 592 Seiten, UVP 17,90 Euro
ISBN 978-3-423-26222-4
Über die Autorin: Sissel-Jo Gazan wurde 1973 in Aarhus geboren und hat Biologie studiert- 2008 erschien der Roman Dinosaurierfedern, der vielfach ausgezeichnet wurde u.a. als Dänemarks bester Kriminalroman des Jahrzehnts und verfilmt wird. Bereits 2005 zog Sissel- Jo Gazan nach Berlin, wo sie heute mit ihren drei Kindern lebt. Aktuell arbeitet sie an ihrem neuen Roman, der in der Tattoo-Szene spielt, und fiebert der Veröffentlichung ihres Berlin- Reiseführers entgegen, der die deutsche Hauptstadt erstmals ganz wissenschaftlich und hochunterhaltsam anhand der pH-Skala erklärt.
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