EZB-Urteil schafft einen gefährlichen Präzedenzfall“ – der aktuelle Neuwirth Finance Zins-Kommentar

Am 5. Mai dieses Jahres erklärte das Bundesverfassungsgericht das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) für verfassungswidrig. Damit schaffte das Bundesverfassungsgericht einen brisanten Präzedenzfall, der den Zusammenhalt der Eurozone und der gesamten Europäischen Union (EU) auf die Probe stellen wird. Das EZB-Urteil löste bereits einen öffentlichen Diskurs aus, der sowohl von Juristen als auch Ökonomen leidenschaftlich ausgetragen wird. Erfahren Sie in der heutigen Ausgabe des Zinskommentars mehr über die Hintergründe des Urteils und die Folgen für die Geld- und Zinspolitik der EZB.

Markt-Monitoring und Ausblick

Kurzfristiger Zins: Der 3-Monats-Euribor steigt seit Mitte März und steht aktuell bei – 0,266%. Die EZB wird Ihre Geldpolitik weiter lockern. Eine überdurchschnittlich starke Kapitalnachfrage von staatlicher und nichtstaatlicher Seite führte die letzten Wochen zu steigenden Kurzfristzinsen. Bis Ende 2020 erwarten wir wieder einen leichten Zinsrückgang in Richtung – 0,50%.

Langfristiger Zins: Der 10jährige SWAP-Satz/3M steht derzeit bei – 0,23%. Mit Sicht auf die nächsten 6-12 Monate rechnen wir eher weiterhin mit negativen, 10-jährigen SWAP-Sätzen.

EZB-Urteil schafft einen gefährlichen Präzedenzfall

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes beruht auf vier Verfassungsbeschwerden aus den Jahren 2015 und 2016. Darin hatten Euro-Skeptiker wie der ehemalige AfD-Politiker Bernd Lucke gegen das Mitwirken der Bundesregierung und der Bundesbank in der Durchführung des Programms zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP) geklagt. Gegenstand der Klage ist unter anderem der Vorwurf der monetären Staatsfinanzierung. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte bereits im Dezember 2018 das PSPP-Programm der EZB als rechtskonform eingestuft, jedoch bewertete das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung als willkürlich und stufte das PSPP-Programm als teilweise verfassungswidrig ein. Sollte der EZB-Rat nicht innerhalb von drei Monaten nachvollziehbar darlegen können, dass das PSPP-Programm verhältnismäßig ist, muss die Bundesbank das Mitwirken an der Planung und Durchführung des PSPP-Programmes einstellen. Eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit sieht vor den Nutzen des PSPP-Programmes gegenüber den Kosten abzuwägen. Die Nutzenseite bezieht sich auf die Effektivität des PSPP-Programmes in der Erfüllung des EZB-Mandates, wohingegen sich die Kostenseite mit den Nebenwirkungen, wie z.B. der propagierten „Enteignung von Sparern“, befasst. Das Bundesverfassungsgericht sieht in dem PSPP-Programm dennoch keine Form der monetären Staatsfinanzierung, da die EZB für das Aufkaufen von Staatsanleihen einen Kapitalschlüssel verwendet, der sich nach der Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft der Euro-Länder richtet. Zudem kauft die EZB nicht mehr als ein Drittel der ausstehenden Titel eines Landes.

Was ist so problematisch an dem Urteil? Zunächst schafft das Bundesverfassungsgericht einen Präzedenzfall für die Unterwanderung europäischer Rechtsprechung. Der EuGH könnte als Oberster Gerichtshof Macht an die nationalen Gerichte verlieren, die somit etlichen Entscheidungen des EuGHs in Form von nationalen Urteilen widersprechen. Das ist insbesondere problematisch, wenn es um die Missachtung der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung geht. Ebenso ist der Zeitpunkt der Urteilsverkündung unglücklich, da die EZB gerade erst im März das PEPP-Programm (engl. Pandemic Emergency Purchase Programme) über 750 Milliarden Euro verabschiedet hatte. Zwar betont der EuGH, dass sich das Urteil nicht auf das PEPP-Programm beziehen würde, dennoch ist nun von neuen Klagen auszugehen, da die Aussicht auf Erfolg nicht schlecht steht. Bei dem Urteil handelt es sich auch um einen andauernden Konkurrenzkampf zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht, der auf dem Rücken der EZB ausgetragen wird und populistische Kräfte innerhalb Europas stärken könnte.

In der Frage der Verhältnismäßigkeit stoßen die deutsche und die europäische Perspektive aufeinander. Die Bewertung des PSPP-Programms darf aber nicht unter der Berücksichtigung einer einzigen Nation erfolgen, sondern muss unter der Einbeziehung aller Mitgliedsländer der Eurozone geschehen. Um Verwerfungen innerhalb der Eurozone zu verhindern, muss die Konvergenz innerhalb der Eurozone gestärkt werden. Je heterogener die wirtschaftliche Verfassung der Eurozonenländer desto schwerer ist es für die EZB eine „verhältnismäßige“ Geldpolitik zu betreiben. Die EZB wird sich sehr wahrscheinlich nicht beirren lassen und an ihrem geldpolitischen Kurs festhalten. Auch der EuGH wird Widerstand leisten müssen, um sein Gesicht zu wahren.

Im Übrigen ist es eine der Hauptaufgaben von Notenbanken das Banken- und Wirtschaftssystem mit Geld zu fluten, wenn sich eine Volkswirtschaft in einer Rezession befindet. Zu bedauern ist, dass dieser Sachverhalt in Euroland, im Besonderen in Deutschland, nicht verstanden werden will.

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