Mit einem ähnlichen Manöver ist die Union kurz nach dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle an der Saale im Oktober 2019 gescheitert. Auch damals haben wir vor den Plänen gewarnt und argumentiert: „Während über Sozial- und Bildungsarbeit gegen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Diskriminierung und über Täter- und Opferberatungen nicht weiter gesprochen wird, fordert die CDU ein ganzes Paket an Überwachungsmaßnahmen“.
Das aktuelle Manöver folgt einem ähnlichen Muster: Die Union nimmt den aufgedeckten Fall von schwerstem Kindesmissbrauch in Münster zum Anlass, um anlasslose Massenspeicherung von Telefon- und Internetdaten aller Menschen in Deutschland zu fordern. Damit treibt sie die Pläne der Bundesregierung für eine EU-weite Massenspeicherung von Telefon- und Internetdaten voran. Erneut warnen wir:
Mit dem Fall in Münster lässt sich nicht plausibel für eine Vorratsdatenspeicherung argumentieren, wie die Chronologie des Falls beim Redaktionsnetzwerk Deutschland zeigt. Der mutmaßliche Täter ist seit etwa 10 Jahren polizeilich bekannt. Zum Erfolg bei der Aufklärung haben gezielte polizeiliche Ermittlungen und Hinweise aus dem Umfeld des Täters geführt. Es ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar, warum die Union vor diesem Hintergrund fordert, pauschal Telefon- und Internetdaten willkürlich von allen 85 Millionen Menschen in Deutschland speichern zu wollen.
Immer wieder ignorieren Befürworter der Vorratsdatenspeicherung ganz bewusst das Kernproblem: Die pauschale Speicherung von Telefon- und Internetdaten von allen Menschen ist in Demokratien und Rechtsstaaten keine Option und sollte verboten werden. Es bricht ganz klar Grundrechte, wenn rund um die Uhr persönliche Aktivitätsdaten von Millionen rechtstreuen Bürger.innen gespeichert werden. Im übrigen konnten die Befürworter von Vorratsdatenspeicherung bisher weder auf Bundes- noch auf EU-Ebene Belege für den Nutzen von Massenüberwachung vorlegen.
Das verzweifelte Festhalten an der Vorratsdatenspeicherung verhindert notwendige Lösungen. Der direkte Weg zur tatsächlichen Verhinderung und Aufklärung von Missbrauchsfällen ist die nicht-digitale Welt – nicht ziellose digitale Massenüberwachung. Wer diese Verbrechen verhindern will, muss gezielt im Netz suchen und vor allem in der realen, analogen Welt. Nur hier sind letztendlich die Tatorte, Täter.innen, die Mitwissenden, die Opfer, das soziale Umfeld und gerichtsfeste Beweise zu finden.
Leider gibt es immer wieder Fälle, in denen Sozialämter, Ermittlungsbehörden oder auch die Nachbarschaft und andere Akteure im Umfeld Verdachtsmomenten nicht oder ungenügend nachgehen. Zu den Gründen gehören Überforderung, unklare Zuständigkeit, fehlende Erfahrung, Personalmangel oder mangelnde Beratungsangebote.
Im 2019 bekannt gewordenen Kriminalfall in Lüdge haben Behörden und Polizei auf vielen Ebenen versagt. Dies ermöglichte das Fortlaufen unzähliger Missbrauchsfälle. Hier würden Schulungen der Behörden zur frühzeitigen Erkennung von Fällen helfen. Ein anderes Problem: Cybercrime spielt sowohl in der polizeilichen als auch juristischen/ justiziellen (Grund-) Aus- und Fortbildung nahezu keine Rolle.
Statt Massenüberwachung sind Trainings von Sozialämtern, Schulen, Polizeien und anderen Behörden zum Erkennen von Fällen notwendig, ebenso Umfeld- Täter- und Opferberatungen. Ganz konkret ein Beispiel: Notwendig ist die Erarbeitung verbindlicher Handreichungen und Leitlinien zum Vorgehen bei Verdacht auf Missbrauch in Jugendämtern, Schulen und anderen Stellen.
Der EU-Gerichtshof hat klare Grenzen gesetzt: Eine Maßnahme, bei der beispielsweise Telefon- und Internetdaten erhoben werden, muss einen belegbaren Bezug zu einer Gefahr bzw. einer Tat haben. Dazu muss eine Maßnahme räumlich und zeitlich eingegrenzt sein. Anlasslos alle Daten von allen erfassen geht nicht.
Die Versuche der Union verhindern auch technische Instrumente, die der Aufklärung dienen könnten, wie beispielsweise das Quick-Freeze-Verfahren, bei dem Daten nach richterlichem Beschluss „eingefroren werden“. Wenn nicht immer wieder grundrechtswidrige anlasslose Vorratsdatenspeicherung gefordert werden würde, die bessere Verfahren bremsen, könnten Polizeien dieses Instrument bereits seit Jahren nutzen.
Noch in diesem Jahr wird die EU-Kommission die Ergebnisse ihrer VDS-Studie veröffentlichen und danach möglicherweise eine neuen Vorschlag für eine EU-weite Regelung zur VDS erarebeiten. Wir bewerten die Studie als einseitig und erwarten ensprechend überwachungsfreundliche Ergebnisse. Im September wird ein wegweisendes Urteil des EU-Gerichtshofs erwartet, an dem sich die EU-Kommission orientieren wird.
Willkürliche Datenspeicherungen sind unverantwortlich. Sowohl Behörden, als auch Unternehmen verlieren immer wieder die Kontrolle über die von ihnen gespeicherten Daten. Im Falle von Telefon- und Internetdaten einer Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um sensible Aktivitätsdaten von rechtstreuen Bürger.innen. Mit solchen Daten dürfen nicht anlasslos und willkürlich die Risiken von Datenpannen, Geheimdienstzugriffen oder Hackangriffen eingegangen werden.
Sicher ist, dass bestimmte Parteien und Behörden jede Gelegenheit nutzen werden, um anlasslose Massenüberwachung zu fordern. Wir werden dagegen halten, weil wir wissen, dass Überwachungsgesetze, wenn sie einmal eingeführt werden, Stück für Stück verschärft und ausgebaut werden. Das wollen wir verhindern und deswegen haben wir gegen das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Mehr Informationen
Alle Digitalcourage-Artikel zum Thema Vorratsdatenspeicherung
- Artikel: Vorratsdaten: einseitige Studie der EU-Kommission
- Pressemitteilung: EU-Vorratsdatenspeicherung: Digitalcourage veröffentlicht und kritisiert Position der Bundesregierung
- Artikel: Bundesregierung will EU-weite Vorratsdatenspeicherung
- Vortrag auf dem 36. Chaos Communication Congress – Bitte Hinweis auf einen Fehler beachten
- Artikel: Vorratsdatenspeicherung: Wir klagen für mehr Transparenz
- Artikel: Vorratsdatenspeicherung: keine Entwarnung
- heise.de: Vorratsdatenspeicherung: CSU-Sprecher fordert neue EU-Initiative
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