Wirtschaftswachstum wird überwiegend über den Indikator BIP gemessen. Das BIP-Wachstum gilt nach wie vor als wichtigste Dynamik im vorherrschenden Wirtschaftssystem. Das zeigen auch die Auswirkungen der Corona-Krise: Bleibt Wachstum aus, verliert das System an Stabilität, was sich unter anderem in sinkenden Staatseinnahmen und Einkommen sowie steigenden Insolvenzen, Arbeitslosenzahlen etc. bemerkbar macht. Das auf den Markt zentrierte Wirtschaftsmodell ist auf kontinuierliches Wachstum angewiesen. Das Problem: „Wachstum stößt irgendwann an seine Grenzen. Schon der Club of Rome stellte 1972 die These auf: Unendliches Wachstum ist auf einem endlichen Planeten nicht möglich“, sagt Otto. Aus den Zwängen von Profitmaximierung und Konkurrenz resultiert ein immer höherer Output an Waren und Dienstleistungen, wozu ein höherer Verbrauch an Energie und natürlichen Ressourcen, aber auch eine stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität der Beschäftigten, benötigt wird. „Die Ausbeutung der Natur und des Menschen gehört damit zum Wesen des Kapitalismus. Wenn in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft zusätzliches Wirtschaftswachstum zur Überwindung ökonomischer Krisen zunehmend zu ökologischer Zerstörung sowie sozial destruktivem Wachstum und damit in ökologische und gesellschaftliche Krisen umschlägt, sollte Wachstum anders erfolgen und müsste entsprechend auch anders gemessen werden“, meint Otto. Hier könne das Saarland einen Beitrag leisten, indem die Landesregierung einen alternativen, ergänzenden Wohlstandsmaßstab entwickelt und regelmäßig, zum Beispiel im zeitlichen Zusammenhang mit den BIP-Zahlen, veröffentlicht.
Vertiefender Hintergrund:
„Die Wirtschaft hat die Aufgabe, dem Wohl des Volkes und der Befriedigung seines Bedarfes zu dienen“, so heißt es in der Saarländischen Verfassung. Da sich das BIP auf die über den Markt erzielte Wertschöpfung konzentriert, bleiben bedeutende Aktivitäten zur gesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung unbeachtet. Dies gilt für die Hausarbeit (insbesondere die häusliche Pflege), aber auch für ehrenamtliche Aktivitäten (freiwillige Feuerwehr, Flüchtlingshilfe). Keine Berücksichtigung findet zudem die Verteilung der Einkommen im BIP: Wird eine BIP-Steigerung weitgehend gleich verteilt oder erreicht sie nur einen kleinen, ausgewählten Teil der Bevölkerung? Darüber hinaus ist die Bewertung ökologischer Aspekte unbefriedigend. Zum einen wird der Abbau von natürlichen Ressourcen nicht mit einbezogen, zum anderen können wirtschaftliche Aktivitäten zu Schäden in der Natur führen, welche Reparaturmaßnahmen nach sich ziehen. Die entstandenen Kosten erscheinen im BIP dann als Steigerung, obwohl sie nur den Zustand wiederherstellen, der vor der Umweltschädigung bestand. Dagegen kann es zu einer Verringerung des BIP führen, wenn bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten unterlassen werden, damit ökologische Schäden gar nicht erst entstehen. Kennziffern, anhand derer sich gesellschaftliche Wohlfahrt über das BIP hinaus konkret messen lässt und auch Konzepte, was dies für eine wohlfahrtsorientierte Politik bedeuten kann, sind bereits vorhanden. Auf regionaler Ebene könnte der Ansatz „Regionaler Wohlfahrtsindex“ (RWI) geeignet sein. Er bietet die Chance, andere Faktoren der Wohlfahrt zu erkennen und zu stärken: eine gerechtere Einkommensverteilung, die Wertschätzung sozialen Engagements sowie die Minderung von Umweltbelastungen und des Verbrauchs nicht erneuerbarer Ressourcen. Ein derart gestalteter Wohlfahrtsindex könnte auch die informatorische Grundlage politischer Entscheidungsfindung verbessern – einerseits durch den Vergleich mit dem Verlauf des BIP, andererseits anhand der gesellschaftlichen Trends, über die Teilvariablen des Index Aufschluss geben.
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