Viele gute Beispiele aber in der Fläche nicht zufriedenstellend: Wundexperten fordern mehr Standardisierung

Als gelungene digitale Premiere fand am 3. und 4. Dezember der 03. Nürnberger Wundkongress statt. Neue Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, viele beachtenswerte Beispiele gelingender Vernetzung und kluger Verzahnung der Disziplinen und Professionen sowie Forderungen nach mehr Standardisierung in der Wundbehandlung erreichten erneut rund 1.000 Teilnehmer – diesmal eben an den Bildschirmen in Kliniken, Wohnzimmern und selbstunter Palmen. 

 

Der Nürnberger Wundkongress ist – natürlich, der Name sagt es ja – in Nürnberg zu Hause. Auch in Zeiten der Pandemie. Mit Glühwein und Nürnberger Lebkuchen hieß Tagungspräsident Prof. Dr. Hermann Josef Bail, seines Zeichens Orthopäde und Unfallchirurg und Leiter der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg, die Kongressteilnehmer willkommen. Zumindest mit einer appetitlichen Abbildung, dazu Bilder der Stadt Nürnberg früher und heute sowie vom weltberühmten Nürnberger Christkindlesmarkt. Die brachte für den Moment wenigstens eine Idee von Lokalkolorit auf die Bildschirme der rund 1.000 Teilnehmer bei der dritten Auflage des Nürnberger Wundkongresses.  

 

Getrennt und trotzdem vereint 

 

„Getrennt und trotzdem vereint“ lautete die Devise der komplett digitalen Veranstaltung, „WISSEN TEILEN, WUNDEN HEILEN“ das diesjährige Kongressmotto. 120 Live-Vorträge ausgewählter Experten in neun Hauptsitzungen, 20 Seminaren, 14 Sitzungen kooperierender Fachgesellschaften und Verbände, dazu elf Industriesessions und 30 Aussteller – eine stolze Bilanz zumal im Krisenjahr 2020, die auch beweist, wie sehr all jenen, die tagtäglich um die kontinuierliche Verbesserung der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden ringen, an einem regelmäßigen, wissenschaftlichen, gegenseitigen Austausch gelegen ist! 

 

Am Ende zweier abwechslungsreicher Tage rund um das Thema chronische Wunde attestierte Hermann-Josef Bail den Vorträgen und Diskussionen eine hohe Qualität: „Wir nehmen viele neue Impulse mit nach Hause und mit zu unseren Patienten!“ Das ungewohnte Format hat sich dabei wunderbar bewährt, in sechs parallellaufenden Strängen blieb den Teilnehmern mitunter die Qual der Wahl – doch der rasche Wechsel in einen anderen „Raum“, in ein anderes Themenfeld, gestaltete sich ungleich simpler, als man es aus dem realen Kongresszentrum kennt. 

 

Zu den thematischen Highlights des 03. Nürnberger Wundkongresses zählte zweifellos die Hauptsitzung zu „Gentherapie und Biologicals“. Spannend die Schilderungen von Maximilian Kückelhaus (Münster) zu den Chancen der Gentherapie bei der Erbkrankheit Epidermolysis bullosa: Kückelhaus präsentierte Ergebnisse eines Fünf-Jahres-Follow-Up zum Fall des damals 7-jährigen Hassan, dem Ärzte das Leben retteten, indem sie 80 Prozent der Körperoberfläche des Jungen, der an der Schmetterlingskrankheit leidet, mit Transplantaten aus genetisch veränderten epidermalen Stammzellen versorgten. Ohne dieses Wagnis hätte das Kind keine Chance gehabt, das sich seither weitgehend normal entwickeln kann. Ein Fall, der illustriert, dass es lohnen kann, nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Nach fünf Jahren berichtet Kückelhaus durchweg positive Ergebnisse: Die transgene Haut erweist sich als stabil, ohne Kontrakturen, ohne Blasen, ohne funktionelle Einschränkungen oder Hinweise auf maligne Entartungen. „Die Architektur gleicht jener einer gesunden Haut“, so Kückelhaus. Eine Adaption der Therapie auf andere Formen der Epidermolysis bullosa, aber auch – aufgrund der guten Qualität der transgenen Haut – zur Versorgung von Brandverletzten könnten folgen.  

 

Phagen: Reserveoption bei multiresistenten Keimen  

 

Großes Potenzial scheinen auch Bakteriophagen zur Bekämpfung von Wundinfektionen zu bergen. Alperen Bingöl (Hannover) berichtete von Erfahrungen mit dem supportiven Einsatz der Viren, die hochspezifisch Bakterien befallen und zerstören, bei inzwischen vier Patienten, bei denen es gelang, chronisch infizierte Wunden vollständig zur Abheilung zu bringen. Die Phagen, aus dem Klärwerk gewonnen und aufbereitet, werden auf Wunde und abdeckende Gaze aufgesprüht. Wenngleich das Vorgehen zeitaufwendig ist – zwei bis drei Wochen vergehen, bis die passenden Phagen isoliert sind –, sieht Bingöl eine Reservestrategie bei multiresistenten Keimen und fehlender antibiotischer Option. Allerdings ließen sich nicht immer die passenden Viren isolieren. Auch ist eine Kassen-Abrechnung der Behandlung derzeit nicht möglich. Klinische Studien werden durch strenge Regulierung erschwert. 

 

Das Thema Kosten indes erweist sich nicht nur in diesem Fall als Pferdefuß. Beispiel Hyperbare Oxygenierung: Als Behandlungsoption bei chronischen und infizierten Wunden will der Gang in die Druckkammer sehr gut begründet sein. Fallberichte aus Berlin und Hannover andererseits konstatieren unterstützende Wirkung durch die Erhöhung des Sauerstoffanteils im Gewebe etwa bei nekrotisierenden Weichteilinfektionen oder beim Pyoderma gangraenosum. Bei bakteriellen Infektionen mit hoher Sterblichkeit könne die Therapie auch dazu beitragen, das Schlimmste zu verhindern. Fachgesellschaften und Kollegen, so die Message, sollten sich hier zusammentun und die Frage der Kostenübernahme voranbringen. 

 

Eine andere Strategie zur Verbesserung der Gewebeoxygenierung bei Problemen der Wundheilung stellt die in Vergessenheit geratene Behandlung mit Kohlenstoffdioxid dar. Bereits seit dem Mittelalter ist die positive Wirkung CO2-haltiger Bäder bekannt. Am Heinrich-Braun-Klinikum in Zwickau sind Kohlensäurebäder seit den 1970er Jahren etabliert und wurden zuletzt durch ein neuartiges Trockenbadsystem ersetzt. Bernhard Karich präsentierte Untersuchungsergebnisse von 180 Patienten nach Verletzungen der unteren Extremitäten, die eine CO2-Trockenbadbehandlung erhielten. Die nicht nur oberflächliche, sondern offenbar systemische Wirkung des CO2 brachte auch bei kritischen Weichteilverhältnissen gute Ergebnisse und verminderte Infektionen. Weshalb Kohlendioxid wieder mehr in den Fokus eines modernen Weichteilmanagements rücken sollte, so Karich. 

 

Wundinfekt nach OP: Gegen manche Regel wird ständig verstoßen 

  

Wundinfektionen – speziell postoperativen – gehörte in diesem Jahr ein Schwerpunkt. Dass es in OP-Sälen und auf Krankenhausstationen in Deutschland heute Defizite bei der zwingend gebotenen hygienischen Arbeitsweise gibt, die behoben werden müssen und immerwährende Aufmerksamkeit verlangen, offenbarten die Beiträge von Tagungspräsident Hermann-Josef Bail und Renate Ziegler (Nürnberg). Jeder zehnte Patient, stellte Bail klar, ist postoperativ von einer solchen Komplikation betroffen, „bei manchen Eingriffen werden es sicher noch mehr sein. Dabei wird gegen einige Regeln im OP ständig verstoßen“. Gegenseitige Aufmerksamkeit – auch entgegen der Hierarchie! – müssten von allen Beteiligten als wichtiges Mittel verinnerlicht werden, das letztlich vor allem einem Zweck diene: „der Sicherheit unserer Patienten!“ 

 

Aufschlussreich in dem Zusammenhang die Erkenntnis, dass die Vorstellungen, welche Wunden tatsächlich infektionsgefährdet sind und auf welche es folglich ganz besonders aufzupassen gilt, nicht unbedingt der Realität entsprechen. Claudia Schatz (München) erläuterte hierzu: Wenn für Wunden mit besonderem Infektionsrisiko eine präventive Antiseptik vorgeschlagen wird, dann kommt der richtigen Einschätzung jenes Risikos große Bedeutung zu. Ein evidenzbasiertes Instrument für verschiedene Wundarten gibt es dazu nicht. Die Einschätzung findet in den meisten Fällen nach subjektiven Kriterien statt, erläuterte Schatz. Tatsächlich offenbarte die Auswertung von 97 Fragebögen einer quantitativen Querschnittsstudie mit Fachkräften scheinbar verbreitet fehlendes Wissen. Schulungen seien notwendig, so Schatz´ Resümee, und die Erstellung eines Risiko-Scores für einzelne Fachabteilungen und Wundarten augenscheinlich sinnvoll. 

 

Auf größtes Interesse der Teilnehmer aus Medizin und Pflege traf die Session „Neue Wundauflagen“. Nach einem Überblick über neue Wundauflagen und ihren Sinn und Nutzen – ein extrem breites Feld, wie Julian-Dario Rembe (Düsseldorf) verdeutlichte – präsentierte Michael Dietlein (Stadtbergen) Ergebnisse einer multizentrischen Anwenderbeobachtung zu den Wundheilungseigenschaften eines polyabsorbierenden TLC-Ag-Wundverbandes für Diabetische Fußulzera mit Anzeichen einer lokalen Infektion. Die Brisanz ist klar: Bis zu 35.000 Amputationen pro Jahr gehen auf das Konto diabetischer Fußulcera. Wie kann die Situation verbessert, die Infektionsrate gesenkt werden? 2.270 Patienten mit Wunden unterschiedlicher Ätiologie in 81 Zentren bundesweit waren in die Studie eingeschlossen, davon 545 mit Diabetischem Fußsyndrom (DFS). Die Auswertung allein jener Patienten unterstrich die Evidenz guter Wundheilungseigenschaften silberhaltiger Verbände – und damit die Notwendigkeit weiterer Daten, um den Weg für eine künftige Erstattungsfähigkeit zu ebnen. 

 

Versorgungssituation im Land noch immer unbefriedigend 

 

Viele weitere spezifische Einblicke bot das Programm, welches traditionell enorm von der Expertise sämtlicher an der Wunde beteiligter Fachgesellschaften und Verbände profitiert. Gewohnt breitgefächert auch das Seminarprogramm, das für vielfältige praktische Fragestellungen im Berufsalltag ein Update auf dem aktuellen Stand des Wissens präsentierte. Und selbstverständlich ist ein Wundkongress nicht vorstellbar, ohne viele gelingende Beispiele interdisziplinärer, interprofessioneller, intersektoraler Zusammenarbeit, die beim Thema Wunde so immens wichtig ist. Und die in diesem Rahmen natürlich auf offene Ohren treffen! Aber wie sieht die Realität im Land aus? Prof. Dr. Martin Storck (Karlsruhe), Präsident des Deutschen Wundrates und Co-Regisseur des 03. Nürnberger Wundkongresses, skizzierte die unbefriedigenden Fakten: 

 

Zwischen 8.500 und 11.000 Euro Kosten verursacht ein Wundpatient im Jahr. Macht 7,5 Milliarden Euro jährlich in Summe. Die hohen Kosten sind teils nicht unwesentlich bedingt durch die oft lange Behandlungsdauer. Wo liegen die Probleme? Storck listet auf: Es fehlt am Interesse vieler Beteiligter am Thema Wunde, an Expertise, an adäquater Vergütung im ambulanten Sektor. Moderne hydroaktive Wundbehandlung ist noch immer nicht etabliert, eine Kausaltherapie kommt oft zu spät. Im Dschungel an Therapeutika fehlte es oft an nachgewiesenem Nutzen. „Wenn neue Produkte so viel teurer sind, dann muss ich das so gut begründen, dass mir manchmal die Worte fehlen.“ Es fehlt an einer praxisnahen Leitlinie, an Forschung, an Evidenz. Warum? Weil die chronische Wunde ein Symptom darstellt, dem derart komplexe Geschehen zugrunde liegen, dass sie sich schwerlich in randomisierte Studien sortieren lassen. „Standards wären wünschenswert, das wissen wir seit Jahren!“ 

  

Es ist ein Wundkongress ebenfalls nicht vorstellbar, der bei allen bemerkenswerten Erfolgen, guten Beispielen, Ansätzen und Initiativen zur Bündelung und klugen Verzahnung von Kompetenzen, beim Blick in die Herausforderungen der nahen Zukunft und in vielversprechende Grundlagenforschung nicht auch den Finger „in die Wunde legt“. Mehr Standardisierung, mehr Effizienz und Effektivitätsbeurteilung in der Wundversorgung – ohne freilich Erfahrungswissen und Heilkunst zu ersetzen – so könnten die Weichen auf Fortschritt stehen. „Auch muss die Wunde im Medizinstudium einen höheren Stellenwert erhalten“, fordert Hermann Josef Bail. Bestenfalls sollte eine Fachdisziplin das Wissen vermitteln. „Die Crux ist, dass an verschiedenen Universitäten auch verschiedene Fächer die Wundbehandlung durchführen“, so Bail, mal die Allgemeinmedizin mal die Dermatologie, Gefäßchirurgie, Diabetologe, Orthopädie und Unfallchirurgie, mal die Plastische Chirurgie usw. Daher herrsche auch wenig Einigkeit innerhalb der Disziplinen über Standards. 

  

Und nicht zuletzt: Zu den notwenigen Schritten in Richtung Standardisierung der Wundbehandlung wird die Digitalisierung – beim Wundkongress gestreift – unweigerlich einen wesentlichen Teil beitragen. Den Wundkongress als solchen haben die digitalen Möglichkeiten im Jahr der Pandemie gerettet. Für den Bedarf an wissenschaftlichem und kollegialem Austausch ist das ein Segen. Im Begleitprogramm zudem völlig unbekannte Schmankerl, wie der „Selfie“-Wettbewerb (Wie erleben Sie den Wundkongress?). Der ersetzt natürlich nicht das Flurgespräch, hat aber einen gewissen Unterhaltungswert. Die Dame, die den Wundkongress offensichtlich auf einer sonnigen Terrasse unter Palmen verfolgt, hat das Rennen um den Büchergutschein jedenfalls nicht gemacht. Sie war vielleicht doch ein bisschen zu weit weg von Nürnberg. 

 

Im kommenden Jahr soll das fränkische Zentrum wieder die realen Türen zum „WUKO“ öffnen, so wünschen es sich Veranstalter und Tagungspräsident Hermann-Josef Bail. Sicher kann das wohl noch niemand sagen. Sicher ist aber: Es lohnt sich in jedem Fall, den 02.-04.12. 2021 im Kalender zu reservieren. Der 04. Nürnberger Wundkongress wird dann unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Martin Storck stehen, an seiner Seite dann Prof. Dr. Ewa K. Stürmer (Hamburg).  

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