Eine Bilanz seines Lebens und Schreibens zieht der Schriftsteller Wolfgang Schreyer in seinem sehr persönlichen und freimütigen Erinnerungsband „Der zweite Mann“.
Um Abenteuer auch in einer Zukunft, in der es die Menschheit nicht mehr gibt, geht es im dritten Band der Raumlotsen von Carlos Rasch – „Daheim auf Erden“.
Nachrichten aus einem inzwischen verschwundenen kleinen Land präsentiert der Kurzgeschichten-Band „Polterabend“ von Jan Flieger.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Heute geht es fast genau fünf Jahrhunderte zurück, in eine Zeit, als wieder einmal heftig und unerbittlich um menschliches Glück und Gottes Beitrag, vor allem aber um ein anständiges Leben auch für die kleinen Leute und um soziale Gerechtigkeit gestritten wurde. Im Mittelpunkt der damaligen Kämpfe stand ein Mann, der seinen Auftrag als Prediger des Evangeliums sehr ernst nahm und dafür einen hohen Preis zahlen musste.
Erstmals 1972 veröffentlichte Heinz Kruschel im Kinderbuchverlag Berlin „Rebell mit Kreuz und Schwert. Das Leben des Thomas Müntzer“: Das Buch für Kinder ab 12 Jahren gibt einen spannenden Einblick in die Geschehnisse um 1525. Der Prediger Thomas Müntzer gibt sich mit den Lehren von Martin Luther nicht zufrieden und kämpft nicht nur gegen die vom Papsttum beherrschte geistliche Obrigkeit, sondern auch gegen die weltliche Ordnung, gegen Klassenunterschiede, Ausbeutung und Unterdrückung. Das Buch beschreibt das Wirken Müntzers bis zu seiner Hinrichtung und große Schlachten des Bauernkrieges. An packenden Einzelschicksalen zeigt Kruschel überzeugend die Not und Unterdrückung der Landbevölkerung auf. Hier ein spannender Ausschnitt, der das Wirken Müntzers und seine Ausstrahlung zeigt:
„Die Armen der Stadt, die Tagelöhner und Knechte, die Tuch- und Bergknappen und die armen Bauern aus den umliegenden Dörfern kamen in die Katharinenkirche, wenn Müntzer predigte. Sie standen in der großen Halle unter dem Netzgewölbe und blickten auf den in Holz geschnitzten auferstandenen Christus mit der Siegesfahne und auf den kräftigen Mann mit dem bräunlichen Gesicht, der ihre Sorgen verstand und nicht an ihren Ohren vorbeiredete. Auch die Anhänger des Niklas Storch kamen in die Kirche, wenn Müntzer predigte. Müntzer redete nicht gegen die Schwärmer und Propheten, denn in seinem Kampf gegen die heuchlerischen Franziskaner der Stadt zählten sie zu seinen Bundesgenossen. Auch sie traten gegen die bettelnden, faulen Mönche auf.
Gegen Egran wurden Spottgedichte verfasst. Müntzer ließ sich auch durch wohlgemeinte Ratschläge nicht davon abhalten, Egran anzugreifen, der mit seinem gepredigten Glauben dem guten Leben der Reichen nicht widersprach und selber nach einem guten Leben trachtete.
Die Reichen der Stadt bemerkten unruhig den Einfluss Müntzers und auch das Anwachsen der Sekte des Niklas Storch.
Der Winter kam. Und als die ersten Krokusse blühten, verbot der Rat Zwickaus Storch und seinen Anhängern, öffentlich zu predigen.
Da nahm Thomas Müntzer von der Kanzel herab Storch in Schutz und kritisierte die Maßnahme des Rates.
Immer unbequemer wurde er. Unzufriedener wurden auch die Tuchknappen, ihre Schwärmer verkündeten überall das Ende der Dinge und das nahe Gericht.
Der Rat der Stadt beschuldigte Müntzer, die Tuchknappen anzustacheln, und so beschloss er am 16. April 1521, den Prediger zu beurlauben, er sei ein „blutrünstiger Mann, dessen Herz nach Blutvergießen stehe“.
In Müntzer, der von der Beurlaubung nicht überrascht war, tauchten Fragen auf: Ich gehe, aber was habe ich erreicht? Ich lasse Anhänger zurück, Freunde, aber was für Antworten kann ich den Menschen auf ihre Fragen geben? Die Schwärmer des Niklas Storch glauben an das verändernde Wunder, das von Gott kommen soll. Das Wunder aber muss eine Veränderung der Verhältnisse sein. Die Menschen wollen keine Versprechungen auf ein jenseitiges Leben mehr. Sie wollen einen Weg sehen, den sie gehen können, der zu einem Ziele führt.
Aber diesen Weg müssen sie friedfertig gehen, dachte Müntzer, der gemeine und geschundene Mensch muss sich befreien, ohne Blut zu vergießen. Aber wie?
Noch immer wirkten in Deutschland, besonders unter den Knappen, die Einflüsse der böhmischen Reformation. Der Magister und Rektor Jan Hus hatte vor über hundert Jahren für eine Reform der Gesellschaft und der Kirche gekämpft, er hatte über Papst und Klerus so geurteilt: „Der Rang hoch, der Sinn niedrig, die Hand träge, viel Gerede, wenig Furcht, die Miene streng, das Handeln leichtfertig, das Ansehen gewaltig, die sittliche Haltung schwach, ein blinder Wächter, ein stummer Herold, ein verkrüppelter Kämpfer, ein lahmer Läufer, und ein Arzt, unkundig der Krankheit.“
Müntzer wollte kundig der Krankheit werden. Jan Hus war verbrannt worden, ein Hussitenkrieg hatte danach die Länder Europas erschüttert, die Hussiten wurden geschlagen, doch die Ideen des Jan Hus lebten weiter. Wo sich Menschen gegen die feudale Ordnung erhoben, da wirkten die hussitischen Vorstellungen mit.
Thomas Müntzer wandte sich nach Böhmen, er erhoffte sich von dem Land Jan Hus’ und von seinen Schülern Antworten auf die Fragen, die ihn quälten. Er wollte die neue apostolische Kirche kennenlernen, vielleicht hatte sie schon Antworten gefunden.
Auf seiner Reise erreichte ihn die Nachricht, dass der deutsche Kaiser, nachdem der Papst auf Ecks Betreiben die Bannandrohung wahr gemacht hatte, nun auch die Reichsacht über den Wittenberger Professor Martin Luther verhängt hatte. Er soll, so erzählte man, verschwunden sein, aber es gäbe einen einflussreichen Fürsten, der für Luther sorgen und ihn schützen werde.
In Prag erwartete man Thomas Müntzer und freute sich über den Besuch des bekannten deutschen Geistlichen. Deutsche katholische Fürsten hatten im 15. Jahrhundert ihre Kreuzzüge gegen die Hussitenkrieger geführt, deutsche katholische Historiker hatten Jan Hus angegriffen und verspottet. Und nun kam ein deutscher Prediger ins Land. Das empfanden viele, die noch hussitischen Gedanken anhingen, als eine Ehrung für den toten Märtyrer.
Müntzer dachte: Vielleicht verbreitet sich von Böhmen aus wieder einmal die neue Lehre, diesmal aber mit dem Ergebnis, auch eine neue Ordnung zu schaffen.
Im frühen Sommer des Jahres 1521 predigte Thomas Müntzer schon in Prager Kirchen in lateinischer und deutscher Sprache.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 2004 erschien im Deutschen Taschenbuchverlag München „Pia und die Graffiti-Geister“ von Maria Seidemann: Pia versteht die Welt nicht mehr. Ihr Bruder Patrick liegt mit gebrochenem Bein im Krankenhaus und schlimmer noch: Patrick soll eine echte Straftat begangen haben! Das behauptet jedenfalls Wachtmeister Kröber. Angeblich hat Patrick die Friedhofsmauer mit Graffiti-Geistern verunziert. Als Pia der Sache nachgehen will, geschieht das Unglaubliche: Die Graffiti-Geister werden lebendig und steigen munter von der Mauer herab. Am Anfang des Buches tauchen aber noch keine Geister auf, sondern ein ganz realer Ordnungshüter:
„Ein Polizist steht vor der Tür
Am Nachmittag brachten wir Mama zum Bahnhof. Als der Zug abgefahren war, sagte Papa: „Das wird bestimmt eine furchtbare Woche!“
Patrick meinte: „Wieso? Wir haben doch alles besprochen. Ich mache jeden Tag ein bisschen sauber. Pia kocht. Und du gehst in deine Schule wie immer! Alles total normal!“
Papa seufzte und schob uns ins Auto. Er setzte Patrick bei seinem Sportverein ab und mich vor unserer Wohnung. Dann musste er in die Schule zur Elternversammlung.
Als er gegen neun Uhr zurückkam, war Patrick noch nicht zu Hause.
Papa sagte mit seiner strengsten Lehrerstimme, er hätte es ja gleich gewusst, dass hier alles aus dem Ruder laufen würde, und er wollte auf der Stelle Mama anrufen.
„Stopp!“, rief ich. „Mamas Lehrgang fängt morgen früh an. Wenn du sie jetzt anrufst, dann setzt sie sich in den nächsten Zug und lässt den Lehrgang sausen!“
„Du hast Recht, Pia!“, sagte Papa. „Und ohne den Lehrgang bekommt sie die neue Arbeitsstelle nicht.“
Da klingelte es. Vor unserer Wohnungstür stand ein Polizist.
Papa ahnte sofort, dass der Mann nicht nur nach der Uhrzeit fragen wollte.
„Patrick? … Was ist passiert?!“
„Polizeiobermeister Kröber!“, sagte der Polizist und tippte an seine Mütze. „Sind Sie der Vater von Patrick Petersen? Ihr Sohn wurde bei einer Straftat ertappt.“
„Was – was?“, stammelte Papa. „Was denn für eine Straftat??“
„Ihr Sohn hat die frisch restaurierte Mauer des Alten Friedhofs mit Sprühfarbe verunziert.“
„Wo ist mein Sohn?“, fragte Papa. „Sie können doch ein Kind nicht die ganze Nacht auf der Wache behalten – wegen einer Farbschmiererei?!“
„Ihr Sohn ist im Krankenhaus!“, sagte Kröber.
„Das sagen Sie mir erst jetzt?“ Papa musste sich hinsetzen. „Was haben Sie mit Patrick gemacht?“
„Ich habe gar nichts mit ihm gemacht! Ihr Sohn hat sich der Festnahme widersetzt. Bei seinem Fluchtversuch ist er unglücklich gestürzt.“
„Was heißt denn das: Er hat sich widersetzt?“, hakte ich nach.
„Ja – also, es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen.“
„Sie haben meinen Sohn geschlagen?“, rief Papa empört.
„Na hören Sie mal!“ Kröber war beleidigt. „Ich schlage nicht mal meine eigenen Kinder! Ihr Sohn wollte weglaufen und ist auf der Treppe am Kirchberg gestolpert. Er hat sich ein Bein gebrochen!“
Papa hatte schon den Hörer in der Hand, um das Krankenhaus anzurufen.
Ich dachte: Irgendwas stimmt hier nicht. Patrick hat noch nie Farbdosen gehabt. Und das Graffiti hatte ich doch schon in der vorigen Woche an der Friedhofsmauer gesehen. Dieser Kröber log wie gedruckt!
Kröber sagte: „Also, Sie wissen ja jetzt Bescheid. Haben Sie noch Fragen zur Straftat Ihres Sohnes?“
Papa sprach mit der Unfallstation und antwortete ihm nicht. Ich schob Kröber zur Tür hinaus.“
Erstmals im Jahre 2000 erschien in Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft „Der zweite Mann. Rückblick auf Leben und Schreiben“ von Wolfgang Schreyer: Hier erinnert sich der Autor seiner literarischen Anfänge. Der Autor bekannter Erfolgstitel überrascht das Publikum jetzt mit der schwungvollen Schilderung seines eigenen Lebens. Was wird aus dem Hitlerjungen von 1939? Ob im Elternhaus oder bei der Heimatflak, an der Front, in US-Gefangenschaft oder NKWD-Haft – auch an Albtraumorten treibt ihn der Wunsch, alles zu begreifen, was da geschieht, um es später stimmig zu erzählen. Magdeburgs Schwarzmarkt der 40er Jahre, das erste eigene Buch nebst Preisverleihung, Kämpfe mit der Zensur, Reisen nach Polen, in die Sowjetunion, nach Kuba, Portugal und in die USA: persönliche Dramen voller Anekdoten und exemplarischer Abenteuer. Aus mancher Begegnung oder Liebschaft, selbst aus dem Nachwende-Frust gewinnt Schreyer kostbare Erfahrung. Heute lockt es ihn mehr denn je, Menschen sichtbar zu machen – damit der Leser sich hier selbst wiederfindet: „ …in Spiegelungen seiner eigenen Träume, Zweifel oder Ängste, so dass er all dem Großartigen, Komischen und Tragischen begegnet, aus dem, in wechselnder Mischung, unser Leben besteht.“
Wo Hoch- und Populärliteratur sich nahe sind, standen für DDR-Leser die Bücher Wolfgang Schreyers. Sieben davon wurden verfilmt. Sein Rückblick auf sechzig Schaffensjahre verblüfft durch Freimut, auch im Privaten. Viele Kapitel lesen sich wie Thriller-Miniaturen: witzig, packend, handlungsprall, frech oder nachdenklich, nie klagend. Vom Hitlerreich bis zur Gegenwart ein sehr persönlich gefärbtes Bild unserer Zeit.
Dazu passt sehr gut ein Zitat des mit Schreyer befreundeten Schriftstellerkollegen Stefan Heym: „Ich kenne Wolfgang Schreyer seit langem, aus den DDR-Jahren und später. In dieser Zeit hat er sich von einem hochbegabten Abenteuer-Autor zu einem Philosophen entwickelt, der uns allen von seinem Reet-Haus in Ahrenshoop her eine Menge zu sagen hat. Davon legt sein Buch ‚Der zweite Mann‘ gültiges Zeugnis ab.“ Und hier ein nicht ganz jugendfreier Auszug aus diesen sehr gut zu lesenden Memoiren mit einem klaren Bezug zur aktuellen Jahreszeit:
„FRÜHLINGSERWACHEN
Mein Vater ist passionierter Fotograf. Sein Geschäft Ebendorfer Straße 7, Ecke Klopstockstraße, firmiert als Fotodrogerie. Hobbyfreunde sammeln sich um ihn. Sogar Pastor Trost, im nahen Gemeindehaus hat er meinen Bruder Bernd getauft, besucht den Ungläubigen, ist der auf Urlaub daheim. Aus Frankreich und der Ukraine bringt Franz Schreyer Fotos mit: Die Türme von Notre-Dame, geknackte Feindpanzer. Gewalt gegen Menschen wird ausgeblendet; keine Gehenkten. Dafür Vater in der Badehose, wie auf einer Pfadfinderfahrt. Später mehren sich Winterbilder, Rückzug im Schnee mit Panjewagen.
Im unbenutzten Herrenzimmer stehen Bildbände hinter Glas. Neben den Reihen der Klassiker, dem grüngebundenen Werk des Hermann Löns, John Knittels „Via Mala“ und dem gelbbraunen Stapel der NS-Schulungshefte locken künstlerische Aktaufnahmen. Mich zieht das Bild einer Gleichaltrigen an, Vorfrühling benannt. Unter kahlem Geäst hebt das Mädchen, die Arme schwärmerisch breitend, knospende Brüste der Sonne entgegen.
Wie pikant. Freikörperkultur ist verpönt im Dritten Reich, das ficht den Vater nicht an. Was steckt noch hinter der bürgerlichen Maske? Man schätzt ihn doch, dutzendfach grüßend lüpft er zwischen Wohnung und Geschäft den Hut. Zärtlich küsst er die Mutter auf der Couch, doch mir fällt auch ein schlimmer Vorkriegsstreit ein. Er sei mit der Feinkosthändlerin von nebenan, einer üppigen Blondine, mal „intim“ gewesen; was auch immer das heißt. Dass die Nachbarin ihr öfter Kakao mit Käsehäppchen serviert, nährt den Argwohn der Mutter. Und jetzt stöbere ich noch mehr Zeichen von Verruchtheit auf: Ein expressionistisches Drama, in dem der Vater ein erotisches Verlangen schwärmerisch, ja markerschütternd besingt, und ein Couvert voll höchst delikater Aktfotos.
Ein Triebmensch also, ein Filou. Das Stück erregt mich kaum, durch seinen hochtrabenden Ausdruck bleibt es mir fast unverständlich. Ich weiß ja, die Eltern haben sich in einem Theaterverein kennengelernt, dessen Laienspieler das Repertoire auch mal mit Eigenem würzten. Die Mutter war begehrte Heroine, der Vater galt als Schreibtalent. Mildernde Umstände! Der Verbindung beider Künste verdanke ich wohl mein Leben.
Die Bilder aber sind mir peinlich, obschon die Feinkostdame darauf fehlt. Schamlos posieren fünf, sechs Frauen aus dem Bekanntenkreis der Eltern, von mir als Patentanten, auch von Radpartien her, geschätzt. Wie hat Vater sie nur so entblößt vor seine Kamera gekriegt? Ich neide ihm diesen Mut, an dem es mir stets fehlt im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das immerhin erheischt Respekt, es hätte mich mit seinem Laster versöhnt, wären die Körper bloß hübscher gewesen. Sie sind leider nicht so reizvoll wie die Nackten in den Bildbänden. Und so erscheint mir sein Tun als trauriges Zurschaustellen der Tanten, als Verrat am Schönheitssinn.
Längst sind Mädchen, nun Weiber genannt, keine Spielgefährten mehr. Sind sie dabei, stört es oder macht mich befangen. Sie haben sich in alberne Ziegen verwandelt, die Stampfersblumen sammeln und von der Kriegsflotte nichts verstehen. Bis auf ein paar Fabelwesen, die Friedlichsten in unserer Straße. Wie ihre Neugier wecken? Die Unschuld frühen Imponiergehabes ist dahin.
Vorbei die Zeit, da schlichtes Spielzeug genügt hat, sich anzunähern. Der Holzroller zum Beispiel. Anstatt den heiß ersehnten Tretroller zu kaufen, hat mir mein sparsamer Vater ein Kistchen auf das Trittbrett geschraubt und Werbezettel hineingepackt. Die weisen mich aus als wichtiges Kind – die Drogerie gehört mir mit. Und zweifelt ein kleines Mädchen das an, lasse ich uns im Laden, ohne zu bezahlen. Eukalyptusbonbons geben, peng.
Erst nach der Einschulung erwacht Begehrlichkeit in mir, vielleicht dank der Geschlechtertrennung. Die 10. Gemeindeschule in der Hindenburgstraße nimmt zwar, anders als das Gymnasium dann, auch Mädchen auf, doch nur in eigenen Klassen. Wir sehen sie bloß auf dem Pausenhof, den man im Uhrzeigersinn brav umschreiten muss. Unter dem strengen Blick des spitzbärtigen „Papa“ Müller, der einen Apfel pellt; die Schale hängt ihm lang vorm Bauch. Die Mädchen sind uns unerreichbar, sie werden zu Geschöpfen einer rätselhaften Welt.
Star der Pausen ist die neunjährige Sonja, ein Schneewittchengesicht. Wenn jemand unberührbar ist, dann sie. Doch jäh bricht einer das Tabu. Der ärgste Rüpel meiner Klasse stürzt sich auf Sonja und greift nach einem Busen, der ihr erst noch wachsen muss … Für ihn setzt es Rohrstockhiebe. Heimlich aber billigen wir den Zugriff, wünschen uns für den Moment solcher Wonnen durchaus an seinen Platz.
Ich bin verliebt in Sonja. Handgreiflichkeit ist nicht mein Ding, da bleibt nur List. Beim Turnen behaupte ich, im Umkleideraum drei Groschen entdeckt zu haben. Tatsächlich gehören die mir, sind mein karges Taschengeld. Doch vor uns waren die Mädchen hier, folglich schickt man mich, den ehrlichen Finder, in Sonjas Klasse. Mir klopft das Herz – mein erstes freches Wagnis! Der Wert von sechs Eiswaffeln steht auf dem Spiel.
Aber es geht gut. Keine Schülerin ist so gemein, das Geld für sich zu beanspruchen. Weil sich kein Eigentümer meldet, spricht Rektor Hübner als höchste Autorität den Fund mir selber zu. Er lobt mich, und auch Sonja nimmt mich wahr. Gehe ich an ihrem Haus vorbei, taucht der Schneewittchenkopf manchmal im Fenster des Hochparterre auf, sie ruft mich beim Vornamen. Ein leiser Gruß, den hab ich mir erschlichen und bereue nichts. Süßer Lohn der Lüge, wenn die Fee „Wolfgang“ sagt.
Ein sportliches Missgeschick kündigt die Pubertät an, ohne dass ich fasse, was mir da geschieht. Beim Turnen streift mich das Klettertau im Schritt, bewirkt ein wellenartiges Glücksgefühl. Reine Lust, noch kein Samen, der mich befleckt und blamiert hätte. Sonst schaffe ich’s dreimal hoch am Tau, jetzt hänge ich fest, im Rausch eines rhythmischen Kitzels, dem anfeuernden Zuruf des Lehrers entrückt. Dunkel bleibt der Zusammenhang dieser irren Empfindung mit dem Schielen nach Mädchen. Doch ein Tor zum Reich der Sinne hat sich mir geöffnet, ich hab den unerschöpflichen Urquell sexueller Freuden entdeckt.
Unerschöpflich? Immer langsam. Im Pausenhof des Gymnasiums. der Wilhelm-Raabe-Schule, kursiert ein Gerücht. Es betrifft die pubertäre Selbsthilfe, deren Vollzug wir uns erst hämisch vorwerfen, dann verschämt eingestehen. Einen Schulfreund hat sein älterer Bruder gewarnt, er möge sich hüten. Wohl sei das Gerede der Eltern von bleibenden Gesundheitsschäden purer Quatsch, aber „Tatsache ist: Dreitausend Schuss hat der Mann bloß“.
Das klingt glaubhaft, es lässt uns zögern. Man muss kein Mathematiker sein, um zu erschrecken. Simple Schätzung schon ergibt, wer weiter so diesem Laster frönt, der ist mit 35 Jahren fertig, halt ein Greis. Da übt man lieber Selbstbeherrschung. Nur fällt das schwer, wenn erotische Fantasie uns plagt.“
Erstmals 2010 veröffentlichte Carlos Rasch im Projekte-Verlag Cornelius Halle „Daheim auf Erden. Raumlotsen Band 3“: Die Raumlotsen Ben, Jan und Cora erleben weitere Abenteuer auf der Erde, im Orbit, auf Merkur und Mond – und sogar in einer fernen Zukunft, in der es die Menschheit nicht mehr gibt. Und einer der Raumfahrer erkennt plötzlich eine ihm bekannte Stimme:
„Rückenwind für Cargoliner
Das karibische Wettertief Dorit, zum Wirbelsturm angewachsen, tobte an der Küste von Florida. Der Kubaner Antonio Branco drückte seine Stirn an das Fensterglas und beobachtete sorgenvoll dieses heulende Wetterchaos auf dem Rollfeld des Flugplatzes. Von peitschendem Regen konnte keine Rede mehr sein. Vielmehr waren es bereits turmhohe Sturzbäche, vermengt mit Sand, Steinen, Zweigwerk und grünen Blättern, die unter grauschwarzem Himmel das Gebäude umwirbelten. Solide gebaut, hielt es zwar stand, bebte aber und vibrierte, als sei es lebendig und als werde es von Entsetzen geschüttelt. Antonio bangte um die Flugzeuge in der Halle und um die hohen Antennenmasten. Zeitweise rann das Wasser fingerdick an den Scheiben herab. Die Sicht nach draußen war verschwommen. Antonio glaubte sogar, den Aufprall der Wogen am Strand zum Ende der Startbahn zu spüren. Dicke Schaumflocken stoben bis zum Hangar, in dem die Spezialflugzeuge des Seewetteramtes standen. Sie wurden zur Erkundung in großen Höhen eingesetzt, wo Orkanschläuche den Erdball umspannten.
Ein Blick auf die Uhr zeigte Antonio Branco, dass es Zeit war, einen der täglichen drei Rapporte über solche Strahlstürme an die Koordinierungsstelle, die zur Auswertung der Daten über die Jet-Streams, wie sie international bezeichnet wurden, in Kanada eingerichtet worden war. Der Rapport fiel in diesem Fall kurz aus: „Heute keine Messungen über Jet-Stream möglich. Starts durch Hurrikan Dorit verhindert. Station Daytona Beach.“
In Kanada war man schon an solche Fehlmeldungen aus Florida gewöhnt. Daytona Beach fiel in den Sommermonaten des Öfteren aus. Hurrikane machten von Jahr zu Jahr immer häufiger Messungen direkt in den Jet-Streams – ergänzend zu den Aufzeichnungen der Satelliten – unmöglich, denn die Klimaänderung hatte seit der Jahrtausendwende weiter an Intensität zugenommen, so dass mittlerweile der Golfstrom wärmer, El Nino kräftiger, die Sahelzone über das Mittelmeer nordwärts nach Europa übergesprungen war und man in Südschweden schon daran denken konnte, Palmen anzupflanzen. Meerwasser verdunstete in deutlich höheren Mengen als früher mit entsprechend mehr Niederschlägen überall in der Welt, begleitet von Stürmen aus drastisch angewachsenen Windgeschwindigkeiten. Dachstühle üblicher Art reichten nicht mehr aus, den erhöhten Winddrücken standzuhalten. Neubauten unterlagen Vorschriften, die fast schon an Burg- und Bunkerbauten erinnerten.
Antonio Branco war allein im flachen Stationsgebäude zurückgeblieben. Wer von den Wissenschaftlern und dem Personal trotz Dorit die Fahrt aus ihren Quartieren in Palatka oder Sarfort nach Daytona Beach gemacht hatte, stand jetzt drüben im Hangar und pumpte mit Ventilatoren Ballonhüllen als Airbags um die Flugzeuge auf für den Fall, dass die Hallen Sturmschäden bekamen und Dachziegel oder Mauerbrocken herabstürzten.
Der Hurrikan-Charta von Miami zufolge, unterzeichnet von den Anliegerstaaten des karibischen Raumes mit entsprechender Kostenaufteilung, stiegen große Joditbomber auf, sobald sich Wirbelstürme weit draußen auf dem Atlantik noch jenseits der Sargassosee entwickelten, um sie mit Joditstreuungen zu bekämpfen und möglichst schon im Keim zu ersticken, ehe sie Küsten erreichten. Hatten die Hurrikan-Piloten diesmal zu lange gewartet? Es war Frühsommer und noch nicht die Zeit der Wirbelstürme. Trotzdem wurden sie schon eingesetzt. Der Hurrikan Anita war noch erfolgreich abgefangen und in seiner Entwicklung durch die Joditbomber gestört worden. Betsy ermattete glücklicherweise gegen jede Erwartung von allein über der See vor der Küste von Yucatán. Mexiko war somit noch mal heil davon gekommen. Cleopatra aber konnte ungehindert über die Karibischen Inseln hinwegfegen. Man hatte ihr nicht schon auf dem Atlantik den Garaus machen können. Die Hurrikan-Piloten hatten abdrehen müssen, ehe sie das Auge dieses Zyklons erreichten. Ihre pulvrige Ladung hatten sie nicht entleeren können. Obwohl die Wettersatelliten „Zenit 4“ und „Tiros 48“ eine sich anbahnende Zyklonsituation schon vor mehreren Tagen registrierten, fehlten womöglich gerade mal wieder die Geldmittel für eine solche Aktion. Natürlich war es trotz genauer Kenntnis über das atlantische Wettergeschehen in punkto Wirbelstürme immer noch Glückssache, so einen Hurrikan am richtigen Zipfel und auch noch früh genug zu erwischen, um ihn zu schwächen oder auf den Atlantik zurückzuschicken.
Antonio wettete eins zu tausend, dass Wirbelstürme die Orkanbänder in der Hochatmosphäre sozusagen nährten beziehungsweise anzapften und beschleunigten. Bisher war diese Theorie noch strittig. Antonio schätzte, dass Dorit die Windgeschwindigkeit des schlauchartigen Jet-Orkans aller bisher ermittelten Höchststärken übertraf und mindestens vierhundertfünfzig Kilometer pro Stunde erreichte, so dass ein solcher Orkanschlauch weit über den Wolken, der sich gegenwärtig bogenförmig von Florida nach Kuba wand und dann wieder nordostwärts zum Bermudadreieck schwang, mit diesen hohen Windströmungen noch bis jenseits des Atlantiks für jeden Stratoliner und seine Passagiere unangenehm zu spüren sein würde, sobald man ihn kreuzte.
›Man müsste heute mit einem der kleinen Flugzeuge bis zur Tropopause aufsteigen, um Messprogramme zu absolvieren‹, dachte Antonio Branco. Er selbst würde das nicht wagen. Dafür kam nur einer in Frage: Sein Freund Fernando Tortuga aus Orlando. Fernando hätte Pilot einer Mondfähre werden oder eine Aufgabe in der erdnahen Raumfahrt erfüllen können. Aber sein Grundsatz war, dass nicht die Sterne das Ziel der Menschheit waren, sondern ihre Zukunft davon abhing, wie man auf Erden verstand, umsichtig zu handeln. So war er jahrelang Hurrikan-Pilot gewesen. Aber dann quittierte er den Dienst, weil er einer faszinierenden Idee nachging. Er wollte Lastensegler im weltweiten zivilen Luftfrachtverkehr einsetzen. Das würde die Kosten solcher Transporte spürbar verbilligen. Millionen Tonnen von Gütern wurden jährlich auf dem Luftwege an ihre Bestimmungsorte geflogen. Fernando sah für Lastensegler eine Chance, wenn sie in großer Höhe die Orkanbänder über einen Teil ihrer Flugstrecke hinweg als Rückenwind benutzten. Er wurde belächelt, denn wie konnte man so verrückt sein, im Zeitalter der überschallschnellen Stratosphärenliner Lastensegler steuern zu wollen, die wie Segelschiffe in mittelalterlichen Zeiten den Wind benutzten? Aber wenn schon Schiffe Drachensegel einsetzten, warum dann nicht auch Rückenwind für Cargoliner?
Wie auch immer. Jedenfalls hatte Antonios Freund Fernando eines Tages Knall und Fall einen Job auf einem großen Airport angenommen, weil ihn die Arbeit als Wetterflieger nicht mehr zufrieden stellte. Jetzt war er Pilot einer Frachtmaschine, die zwischen Amerika und Europa hin- und herflog. Vermutlich, so dachte Antonio, wollte Fernando sich damit das Geld für den Prototyp eines Lastensegler zusammensparen, gefördert auch von der Stiftung des Europa-Neuwelt-Instituts ENI, um der Öffentlichkeit praktisch vorzuführen, dass solche Frachttransporte in Himmelshöhen keine absurde Idee darstellten. Fernando plante, dieses Vorhaben in privater Initiative aus handelsüblichen Bauteilen verschiedener internationaler Flugzeugbauer zu realisieren. Bei Banken jedenfalls bekam Fernando keinen Kredit, um ein solches Unternehmen für Frachtensegler zu gründen. Denen waren die Erfolgsaussichten dafür zu fragwürdig. Das Projekt ähnelte damit den inzwischen schon alltäglich gewordenen Drachseglern im Seeschiffverkehr, wo computergesteuerte Ballonsegel gesetzt wurden, um die Maschinenkraft des Schraubenantriebes von großen Containerschiffen treibstoffsparend mit Windschub zu ergänzen.
Antonio Branco wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als im Nachbarraum das Visiocom schrillte. Er verließ seinen Platz an der wasserüberströmten Fensterscheibe und ging hinüber. Ein unbekanntes Gesicht erschien auf dem Monitor, dessen Worte im Prasseln des Sandes auf dem Dach und im Heulen des Windes kaum zu verstehen waren: „Hier Tower Airport Atlanta! Schalten Sie auf Empfang. Es geht um ein internationales Hilfeersuchen. Sie werden dringend von einem Piloten über dem Atlantik verlangt. Es ist die S-IN-12. Ich wiederhole die Kennung und buchstabiere: SENIORA, IDA, NORDPOL EINS ZWO. Hallo, Jetcenter! Verstanden?“
„Hier Seewetteramt in Daytona Beach. Habe verstanden.“
„Sie sollen als Fachmann den Piloten an Bord der Frachtmaschine SEÑORA IDA NORDPOL EINS ZWO beraten. Die S-IN-12 ist vor zwei Stunden von Atlanta aus gestartet und fliegt jetzt mit Kurs Paris über der Sargassosee, will aber den Kurs ändern. Neues Ziel ist Bagdad. Gehen Sie sofort auf Empfang.“
Antonio Branco bestätigen eilig. Das Stichwort „Internationales Hilfeersuchen“ hatte ihn von seinem Sitzplatz hochschnellen lassen. Er stellte das vom Tower des Airports Atlanta genannte Frequenzband ein und meldete sich: „Hallo S-IN-12. Hier ist die Flugstaffel von Daytona Beach. Hier Antonio Branco. Kommen!“
Zu seiner Verblüffung meldete sich eine ihm bekannte Stimme, nämlich die von Fernando. Was, in drei Teufels Namen, hatte der mit einer internationalen Hilfsaktion zu tun?“
Unter dem Titel „Polterabend“ legte Jan Flieger erstmals 1981 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig einen Band mit Kurzgeschichten vor: Diese Texte erzählen von einem Land, das es nicht mehr gibt, und von den Leuten, die in diesem Land gelebt und geliebt haben. Diese Kurzgeschichten sorgten damals in dem nicht mehr existierenden Land wegen ihrer zum Teil kritischen Sicht auf den Alltag und mit ihrem besonderen Blick auf die Liebe für einiges Aufsehen. Und diese Kurzgeschichten sind auch heute noch ein Leseerlebnis – und nicht zuletzt eine liebevolle Erinnerung an ein verschwundenes Land. Hier zwei davon zum ersten Kennenlernen oder auch zum Wiederlesen:
„Die eine Seite der Geschichte
Jede Geschichte hat zwei Seiten, wie eine Münze. Man erzählt von der einen, man könnte auch erzählen von der anderen.
Ich weiß, dass sie sich gut ergänzt haben am Anfang, der stille Ralf und die immer unruhige Rita, die herumtrieb im Leben wie ein Kreisel. Eigentlich lief alles normal: das Studium, die Heirat, der Einsatz in der gleichen Stadt, die zwei Zimmer in einer Mansarde, wo man über die Dächer sehen kann bis hin zum Park. Kastanien stehen dort, Buchen und Platanen und zwei Weiden an einem Teich.
Ein Kind kommt, das sie Manuela nennen. Es hat braune Locken und Pausbacken und große dunkle Augen, die immer zu fragen scheinen. Es ist lebhaft wie Rita und läuft eher als andere Kinder.
Ritas Vater schenkt das Auto. Eine gute Stelle haben beide, jeder in einem anderen Werk, und Rita steigt schnell.
Einmal kommt sie sehr spät. Ralf schmeckt den Weinbrand auf ihren Lippen.
„Ich kann eine Aspirantur machen im Ausland, für ein Jahr.“
Das ist erst mal alles. Rita ist ehrgeizig, das weiß Ralf, nur das hier glaubt er nicht. Kommt Zeit, denkt er, kommt Rat.
Im Park die Bäume schlagen aus, Schwäne treiben auf dem Teich, und die Zeit ist gekommen und auch der Rat. Im Werk sprechen sie mit Ralf.
„Es gibt genug solche Väter, du musst umdenken.“
„Ich will keine Direktorin, ich will eine Frau.“
„Werde ein Schrittmacher“, sagen sie, „es wird einmal selbstverständlich sein.“
„Das Kind ist drei Jahre“, sagt Ralf.
Ralf bleibt mit dem Kind allein. Ich gehe kaputt, denkt er am Anfang, aber wer geht schon kaputt?
So wird es ein endloser Kreislauf: dieses Waschen, dieses Einkäufen nach der Arbeit, dieses Treppewischen, dieses Knöpfeannähen, diese Krankenpflege. Dienstreisen, die er so legen muss, dass er es noch schafft zum Kindergarten, keine Zeit bleibt für ein Hobby. Nur Briefe kommen zweimal in der Woche, und die Sehnsucht kämpft mit dem Ehrgeiz zwischen den Zeilen.
Der Herbstwind entblättert die Bäume im Park.
Da ist eine Frau, sie heißt Ilona, sie hat schon ein Kind, es spielt mit Manuela, man geht zusammen die Allee hoch zur Straßenbahn, man trifft sich. Die Frau ist geschieden und vier Jahre jünger. Sie hat dunkelblaue Augen in einem ovalen Gesicht, die noch dunkler werden, wenn man sie küsst, aber das sieht nur Ralf. Ilona ist sanft, sie braucht Wärme, sie braucht nur die Kinder und den Mann.
Kahl stehen die Bäume im Park, Eis schließt den Teich, Schnee liegt auf den Dächern.
Rita kommt, die Mansarde ist ihr zu klein. Ralf küsst eine fremde Frau.
Der Verlierer ist ein Kind, es heißt Manuela.
Das ist die eine Seite der Geschichte.“
Das dritte Leben
Das Leben führt uns zusammen, von einem Augenblick zum anderen. Auch Becher und Schwester Beate führte es zusammen. Becher wollte sie nicht kennenlernen, nicht auf diese Weise.
Schwester Beate arbeitete auf einer Intensivstation: drei Schichten durchgängig und nur einmal im Monat ein freies Wochenende. Das hatte sie gewusst, von Anfang an, auch, dass es nicht so viel Geld gab wie anderswo.
Von Becher, der Kraftwerke baute in Vietnam, hatte Beate nichts gewusst an diesem Tag, und Becher hatte ihn auch anders beginnen wollen, aber das letzte, was er sah auf der Fahrbahn, war das Kind. Er riss das Lenkrad nach rechts, stürzte in eine alles auslöschende Grelle. Das Weitere nahm er nicht mehr wahr: den Wagen mit dem Blaulicht, die Glastür, die aufsprang vor den Trägern, und dahinter die Intensivstation, mit einem langen hellen Gang, rechts den kleinen Zimmern mit den Glaswänden, fünfzehn genau, dreizehn belegt. Becher kam in die Nummer acht. Alles war bereit, drei Ärzte, die Schwestern.
Später lag Becher unter dem Sauerstoffzelt, Schwester Beate stand an seinem Bett, und sie sah ihn zum ersten Mal, sie sah nur wenig von dem Mann, der Kopf war umwickelt, die Augen bedeckt. Sie war den Tod gewöhnt in diesem Raum, zuletzt lag hier ein Junge, der nicht mehr erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit.
Sie ergänzte den Protokollbogen. In den ersten Stunden der Schicht holte sie Dr. Bertram zweimal. Aber das Herz des Mannes hielt durch. Schwester Beate verfolgte die gleichmäßige Bahn der Infusionslösung. Aus dem Leben dieses Mannes wusste sie nichts, nur, dass er fünfundvierzig war, das hatte im Ausweis gestanden.
In seinem Leben, wenn er es noch einmal erreichte, hatte er vier Kraftwerke gebaut. Und diese Grelle war schon einmal um ihn gewesen, damals in Vietnam, beim zweiten Anflug der Bomber. Mehr Angst als um sich hatte er um das Kraftwerk gehabt, das zweite in seinem Leben, aber das erste unter seiner Leitung.
Die Bomber zerstörten es nicht. Drei Maschinen zerschellten im Reisfeld, aber Becher lag auf einer Intensivstation. Das erste, was er sah, als er erwachte aus einem tiefen langen Schlaf, waren die Augen der vietnamesischen Ärztin. Mancher hat drei Leben, sagte sie in gebrochenem Deutsch, und ihr Lächeln hatte Becher Kraft gegeben. Und er hatte sie nötig gehabt, bitter nötig.
Von all dem wusste Schwester Beate nichts, sie blickte auf das Protokoll, und die Werte tanzten vor ihren Augen, sie kämpfte mit der Müdigkeit, die immer kam nach der Hälfte der Schicht. Manchmal brauchte sie einen Kaffee, auch heute. Viele Schwestern, das wusste sie, hielten die Härte auf einer Intensivstation nur einige Jahre durch, aber das Wissen, was sie erwarben, war groß, und es lohnte den Einsatz.
In seinem dritten Leben, wenn er es noch einmal erreichte, würde sie Becher beim Erwachen an die vietnamesische Ärztin erinnern.
Drei Patienten betreute Schwester Beate heute, eine Schädelfraktur mit Herzversagen, eine Amputation und diesen Mann, dessen Zustand sich verschlechterte.
Sie rief Dr. Bertram vor dem Ende der Schicht. Wieder wurde operiert, und Beate blieb noch, bis man Becher brachte, obwohl sie schon Dienstschluss hatte. Die Erschöpfung kam, als der Mann wieder im Bett lag. Ehe sie sich umzog, musste sie sich setzen, einige Minuten lang, vor Schwäche.
Von dem dritten Leben für den Mann, der Becher hieß, wusste sie nichts.“
Und? Erinnern Sie sich vielleicht noch, wie es damals gewesen ist? Wie die Leute gelebt und geliebt haben? Zwar klingt das inzwischen alles schon sehr weit weg und scheint langsam im Dunkel der Erinnerung zu verschwinden, aber Kurzgeschichten wie diese von Jan Flieger können verhindern, dass das wirklich so passiert und zumindest ein Stück Erinnerung an dieses verschwundene Land und seine Menschen am Leben erhalten.
Erinnerungen finden sich auch in den anderen Sonderangeboten dieses Newsletters, darunter eine Erinnerung aus der Sicht der Zukunft.
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Frühling und lassen Sie sich von dem Hin und Her um Lockdown oder nicht nicht allzu sehr beeindrucken, sondern nutzen Sie die Zeit, sich eine oder mehrere Empfehlungen dieses Newsletters einmal näher anzusehen. Vielleicht kann man ja in ein paar Tagen sogar schon wieder draußen lesen …
Und bis demnächst.
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