Streit um die Besiedlung des Marrs gibt es in dem Wissenschaftlich-phantastischen Roman „Das Kosmodrom im Krater Bond“ von Alexander Kröger.
Wer weiß noch, was eine Brigade der sozialistischen Arbeit war? Und überhaupt Sozialistischer Wettbewerb? „Wer verschenkt schon seinen Sieg? Ein Spiel von der Zukunft, in der wir schon leben“ von Hasso Grabner frischt Erinnerungen auf.
Um einen Betrieb, dessen Technik völlig veraltet ist, um Liebe, einen Seitensprung und harte Auseinandersetzungen um Ökonomie und moralische Maßstäbe in der neuen Gesellschaftsordnung geht es in dem Roman „VEB Arche Noah“ von Hasso Grabner.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Der heutige Beitrag bringt den Kampf gegen deutsche Besatzer während des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung – und den Mut, den andere Deutsche damals bewiesen haben, um Menschenleben zu retten, wobei sie nicht selten ihr eigenes aufs Spiel setzten.
Erstmals 1958 erschien im Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung als Heft 15 seiner Erzählerreihe „Der Streit um die Partisanen“ von Hasso Grabner, in dem der Autor eigenes Erleben aufgriff: Dem deutschen Kommunisten Karl geht es gut auf der griechischen Insel, obwohl er dem Bewährungsbataillon neunhundertneunundneunzig angehört. Doch da wird er zum Partisanenkampf aufs Festland geschickt. Wegen seines schlechten Schuhwerks ist er beim Marsch etwas zurückgeblieben und entdeckt am Straßenrand zwei Partisanen. Er will sie schon laufen lassen, da kommen der Bayer Alois und weitere drei Kameraden dazu, die die beiden sofort erschießen wollen. Karl gelingt es, sie als seine Gefangenen mit zur Truppe zu nehmen. Das ist aber nur ein Aufschub, denn er soll die beiden gemeinsam mit Alois erschießen. Fieberhaft sucht er nach einer Lösung, das Leben der beiden zu retten. Und so beginnt die befohlene Suche nach den Partisanen:
„Gschwindleitner fluchte, wie eben nur ein bayrischer Holzhauer fluchen kann, als ihn der Melder des Alten aus seinen Träumen riss. Es war noch sehr früh am Morgen, und er hatte sich vorgenommen, in dem gestern erst bezogenen Quartier etwas länger zu schlafen. Der Befehl „Mit vollem Gepäck sofort antreten, in einer halben Stunde Abmarsch“ wurde durchgegeben. Gschwindleitner trieb seine Männer mit wütenden Anschnauzern hoch.
„Verfluchtes Partisanengesindel, ka Ruh gönnts anen net, die Himmelhunde, sakra“, murrte einer. Alle schimpften durcheinander.
Nach kurzem, aufgeregtem Hin und Her standen sie mit verdrossenen Gesichtern auf der schmalen Dorfstraße. Der Spieß besann sich in seinem Ärger auf jeden Kasernenhofschnick, nörgelte an Vordermann und Seitenrichtung und meckerte Karl wegen seiner „Ballettschuhe“ an. Der Kompanieführer nahm seine Meldung mit einem Gesicht entgegen, als seien ihm die acht Eier vom letzten Abendbrot nicht bekommen.
Schweigend setzte sich die Truppe in Marsch. Karl war nicht weniger wütend als die anderen. Nur die Triebfeder seines Zornes unterschied sich erheblich von der seiner Kameraden. Verfluchter Mist, brütete er vor sich hin. Aus der Traum! Nun konnte er nicht mehr durch vorsichtiges Horchen bei den Dorfbewohnern herausknobeln, wie man zu den Partisanen kommt. Immer wieder hatte ihn dieser Gedanke beschäftigt, seit er auf dem Festland war. Von der Insel aus gab es keinen Weg in die Berge. Ein Boot mit einem Landser konnte man von Land aus schon Stunden früher sehen, ehe sein Kiel im Sand knirschte, und die Küste wurde scharf bewacht. Während der Autofahrt hatte er eine fast ähnliche Situation vorgefunden. Nirgends war vom Wagen her ein deutscher Soldat sichtbar gewesen. Jedes Mal aber, wenn die Karre hielt, lugten Schirmmützen links und rechts der Straße auf halber Höhe hinter Felsbrocken hervor. Ohne Zweifel gab es auch noch höher Posten, unsichtbar für jeden von unten, von oben aber alles mit einem Blick erfassend. Wo fing diese Kette an, wo hörte sie auf? Nein, man konnte nicht aufs Geratewohl loslaufen, am Tage nicht und in der Nacht schon gar nicht wegen der zusätzlichen Chance, im Dunkeln das Genick zu brechen.
Karl war kein Feigling, das hatte er im Gestapokeller bewiesen. Er war aber auch nicht gewillt, hier, sozusagen in Tuchfühlung mit der Freiheit, sein Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Verbindung muss man haben, irgendeine Verbindung zu den Partisanen, und dazu hätte ihm dieses kleine Dorf vielleicht verhelfen können. Nun war es wieder Essig, und das rechtfertigte wohl Karls schlechte Laune, mit der er hinter Alois‘ Esel in den grauenden Morgen hineinmarschierte.
Die Felsspitze über dem Einschnitt, durch den die serpentinenreiche Straße lief, war ein idealer Platz für die Partisanen. Oft schon hatten hier vorbeifahrende oder -marschierende Deutsche sorgenvoll zu der steilen Höhe geblickt, und sich gesagt: Wenn da welche säßen! Und nun saßen sie da. Das Plateau von höchstens fünfzehn Metern Durchmesser fiel an der Straße hundert Meter lotrecht ab. Eine Besteigung von dieser Seite wäre nur unter Anwendung aller technischen Mittel der Hochalpinistik möglich und von jedem Verteidiger spielend zu verhindern gewesen. Auf der dem Bergmassiv zugewandten Seite ging es, auch unter sehr schwierigen Passagen, rund fünfzig Meter abwärts. Dann kam man auf einen kleinen Sattel, der die Felsspitze mit dem Massiv verband. Von da ging es recht steil etwa zweihundert Meter zur Straße abwärts. Ein Angriff auf die Spitze konnte nur über diese schräge Wand vorgetragen werden. Selbst ohne Gegenwehr würden auch hochtrainierte Bergsteiger diese Wand nicht unter zwei Stunden bezwingen. Da sie jederzeit eingesehen und nachts mit Sicherheit gehört werden konnten, war die Spitze fast uneinnehmbar. Schlimmstenfalls konnten die Partisanen ihre fünfzig Meter bis zu dem Sattel in wenigen Minuten am Seil herunterklettern und, lange ehe der erste Deutsche diese Stelle erreichte, im Massiv verschwinden.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1983 veröffentlichte Alexander Kröger als Band 167 dessen Reihe „Spannend erzählt“ im Verlag Neues Leben Berlin „Das Kosmodrom im Krater Bond. Wissenschaftlich-phantastischer Roman“. Dem E-Book liegt die Originalausgabe von 1983 zugrunde. Es wurde lediglich auf neue Rechtschreibung umgestellt: Jul Roth hat sich auf diesen Tag gefreut; er selbst leitet die erste Landung eines Raumschiffes im neuen Kosmodrom auf dem Mars. Dazu die Aussicht, bald Urlaub zu haben, Urlaub mit Betty auf der Erde … Plötzlich jedoch schrillt die Alarmanlage. Eine große Raumflotte außerirdischer Herkunft nähert sich unserem Sonnensystem. Doch die Fremden sind gar keine Unbekannten, sie kommen aus dem System Alpha Centauri, und vor vielen Jahren waren sieben von ihnen in Südamerika notgelandet. Diesmal aber ist die Begegnung nicht freundschaftlich. Die Centauren fordern von der Menschheit den Mars zur Besiedlung und lehnen Verhandlungen ab … Ein fieberhaftes Treiben beginnt, Menschen werden evakuiert, und Jul Roth wird zum Verantwortlichen auf dem Mars ernannt. Er soll versuchen, die Fremden zur Umkehr zu bewegen. Aber darf man die Centauren, die anscheinend einen neuen Heimatplaneten dringend benötigen, einfach wegschicken? Jul Roth macht sich die Entscheidung nicht leicht. Sein Handeln wird noch erschwert, als die attraktive Editha van Vorst auftaucht. Hier aber erstmal der Anfang der spannend erzählten Utopie:
„1. Kapitel
Der Himmel färbte sich allmählich fahlgelb. Langsam trat schwarz wie die Rückenpanzerung eines Fabelungeheuers der gezackte Rand des Kraters hervor. Wenig später drangen übergangslos die matten Strahlen der Sonne durch die an den Gipfeln hängenden Staubschleier. Die Schatten des Ufergebirges flossen verwischt in die zunehmende Helle auf dem weiten, ebenen Grund des Kraters.
Am jenseitigen Ufer schluckten Dunstschwaden wie lang gezogene Wattebausche das schüttere Licht. Aber kaum stand die Sonnenscheibe sichtbar über dem Horizont, begann der Kamm an einer Stelle zu glühen. Dort fraß es sich wie Feuer in die Felsen im roten Beugungsschein von Infras, der zuvorderst umlaufenden künstlichen Sonne.
Jul Roth stand in einem Gebüsch von subtropischen Pflanzen unmittelbar dort, wo die gläserne Kalotte, die den Wohntrakt überspannende Kuppel, in den Boden tauchte. Oft hatte er das faszinierende Farbspiel zwischen den Auf- und Abgängen der sieben Sonnen genossen. Heute fehlte ihm dafür der Sinn. Er starrte in die Dunstwolke am jenseitigen Kraterrand, wissend, dass Infras in wenigen Minuten den Nebel aufgeleckt und das, was dieser verhüllte, entschleiert haben würde.
Dann glomm drüben hoch oben ein Punkt auf, ein Leuchten, als brenne ein Licht in einem Seidenkokon. Die Kanzel des Leitturms trat aus dem Brodem. Ihre Verglasung sandte den Reflex. Vor dem rötlichen Hintergrund des jenseitigen Kratergebirges drängten sich, wie von einem Zauber beschworen, die Bauwerke des Kosmodroms hervor, funktionelle Kunstwerke aus Stein, Plasten, Metallen und Glas.
In wenigen Minuten verflüchtigten sich letzte Schleierfetzen. Greifbar plastisch stand der Komplex vor Jul. Er konnte sich in dieser Sekunde weniger denn je dem Reiz dieses Anblicks entziehen: Vor dem gleichförmigen Himmel in grautönigem Rosé das ohne Übergang aus der ebenen Kratersohle steigende dunkelschründige braunrote Gebirgsmassiv und davor der filigrane, jetzt im Schein Infras gleißende Hafen, umgeben von einer dunkelgrünen, tauglitzernden Parklandschaft, die sich gleichsam aus der öden Ebene majestätisch löste.
Nichts rührte sich dort. Die im Park angesiedelten kleinen Vögel, Hörnchen und Insekten ließen sich auf diese Entfernung nicht ausmachen. Eines nicht mehr fernen Tages jedoch würden stündlich vier Raumer landen und starten, ständig Zubringerflugzeuge einschwirren oder schwerfällig ihre vollgestopften Rümpfe von den Pisten heben. Es würde lebendig sein im Krater Bond – und nicht nur in der Luft.
Juls Blick glitt die metallene Röhre entlang, die sich irgendwo links von seinem Standort aus dem Untergrund löste, sich in einem leichten Bogen zum Kosmodrom wand, dort an der Südbegrenzung verschwand, aber, vom Auge fortgesetzt, im Norden wieder auftauchte und sich von rechts erneut der Kuppel näherte. Ein gigantischer Ring, der die Schnellbahn barg.
Was sollte dagegen die lächerliche Straße ausrichten, die jetzt noch, staubig und holprig, die zwanzig Kilometer von der Siedlung zum Raumhafen überbrückte.
Ja, hier wird Leben sein, ausgedrückt in technischer Bewegung und diese gesteuert von Menschen …, dachte Jul Roth. Und ich werde dazu heute den Auftakt geben! Zum ersten Mal werden die Leitstrahlen in den Kosmos schießen, wird das Schwerefeld pulsieren. Die Leitstände werden, wie später im täglichen Einsatz, besetzt sein, durch hunderttausend Kabelbäume fließen Ströme, Schaltkreise werden geöffnet und geschlossen.
Der erste, seit drei Tagen in der Umlaufbahn fertig montierte Großraumer der Menschen würde, geleitet vom Kosmodrom, automatisch landen und starten. Heute – in wenigen Stunden!
Jul Roth lächelte. Wenn auch das Band über dem Steuertisch – gestern Abend hatte er es eigenhändig mit gespannt – vom Sekretär der Sektion Mars, Tamar, zerschnitten werden wird, wenn ich in der Rangfolge der Honoratioren ziemlich hinten stehen werde, ich, Jul Roth, leite die Manöver ein!
Obwohl er sich sicher war, dass alles aufs Genaueste funktionieren würde, fühlte er seinen erhöhten Pulsschlag, seine Aufregung, die ihn viel zu früh auf die Beine getrieben hatte. Er schalt sich töricht deswegen, doch sobald er an das Bevorstehende dachte, durchrieselte es ihn in der Magengegend.
Das Bild draußen hatte sich verändert. Das Gebirge hinter dem Kosmodrom schien flächenhafter, die Konturen der Türme und hohen Gebäude verwischten im beginnenden Flirren der Atmosphäre. Es würde ein heißer Tag werden. Des Tests wegen würde es keinen Regen, keine Schatten spendenden Wolkenbänke geben. Die Klimatechniker hatten heute Pause, vorsichtshalber in der gesamten Äquatorzone.
Ein Feiertag! Jul dachte flüchtig, nur einen Augenblick, an die fünf Jahre, die ihn zum Gefangenen dieses Kraters namens Bond gemacht hatten. Von jenem Namen wusste er lediglich, dass der einem Astronomen gehörte, der zum ersten Mal von der Erde aus an dieser Stelle der Marsoberfläche einen verschwommenen Ring gesehen und kartiert hatte.
Das Schwere dieser Jahre schien mit diesem Tag in weite Ferne zu rücken. Was bedeuteten Havarien, Unglücksfälle, Materialfehler, Marskoller …
Jetzt zählte einzig und allein, dass sich in kurzer Zeit ein Koloss minutiös in den Krater senken würde.
Ab heute beginnt überhaupt erst die Eroberung des Mars! Jul lächelte erneut. Dann spürte er wieder die Unruhe.
Jul Roth hörte die Rede Tamars nicht, das heißt, er nahm sie nicht auf. Er ging in Gedanken noch einmal die Reihenfolge der Hauptvorgänge durch, schaltete, unbeachtet von der Menge Menschen, die in der großen ausladenden Schaltzentrale – beinahe ehrfürchtig – das Ereignis genossen, Videoverbindungen zu den angeschlossenen Dispatcherpunkten. Nein, es konnte nichts passieren!
Dann kam Bewegung in die Menge. Jul, der am Steuertisch stand, sah auf. Sein Blick glitt über die Gesichter der Menschen. Nur ein Viertel der Anwesenden, so schätzte er, war ihm bekannt. Das wird sich wohl nie ändern, dachte er, dass große Ereignisse im Wesentlichen solche der Unbeteiligten sind. Und in diesem Augenblick sehnte er sich nach dem Normalfall, der je Schicht lediglich zwei Mann in der Zentrale vorsah …
Tamar trat auf den Steuertisch zu, hielt ungeschickt eine Schere, zerschnitt im zweiten Ansatz das Band, das sich über die Bedienelemente zog, und klopfte mit der Linken Jul ein wenig gönnerhaft auf die Schulter.
Jul nickte, drückte mit dem Daumen den roten Startknopf, beugte sich zunächst über den Tisch, dann setzte er sich und sagte mit großer Ruhe: „Hier Bondkosmodrom, Cont eins, bitte kommen. Am Leitstand Roth!“
An der Übersichtstafel blitzte der Schirm auf. Ein rundes Männergesicht erschien, dem anzusehen war, dass im Ernst der Situation offenbar auch Lächerliches mitschwang, wie stets, wenn einfach zu Sagendes – in deklamatorische Formel gepresst – zum ersten Mal vorgetragen wird.
„C … Cont eins hier. Anfliegen Bondkosmodrom, bitten um Landeerlaubnis. Kommandant der ersten Transportflotte – Mirror.“
Jul sprach weiter Formeln, betätigte Schalthebel und Knöpfe. Er hatte die Leute ringsum vergessen. Aufgeregt fühlte er sich längst nicht mehr. Routine, wie sie sein muss, wie er sie an Metejew, den jungenhaften, der mit gerötetem Gesicht neben ihm stand, weitergeben würde.
Schade, dachte Jul, dass die Zeit hier vorbei ist. Man hatte sich aneinander gewöhnt, wusste, was man voneinander zu halten hatte, kannte gegenseitig Schwächen und Stärken; was hilft’s. Eine neue Etappe, ein Neubeginn. Man würde das hier Erfahrene anwenden, Fehler vermeiden, neue begehen … Dass ein zweites Kosmodrom gebraucht wird, steht außer Zweifel. Dass ich es wieder errichten soll, ist praktisch. Was einem solche Jahre abverlangen, ist nebensächlich.
Einen Augenblick dachte Jul an Ruhe, an langes Ausspannen, wurden ihm die Entbehrungen und der Ärger bewusst, die unweigerlich und bei allem guten Willen der Versorger und Betreuer wieder da sein würden, zermürbend, permanent belastend. Nun, diesmal würde Betty von Anfang an dabei sein! Aber Jul, wenn du dann erneut vor dem roten Knopf stehst …?
Jul wurde in seinen Gedanken durch das Einschwenken des Raumers in die Landeparabel unterbrochen. Der Koloss hatte programmgemäß seine Triebwerke abgeschaltet, fiel nun auf die Marsoberfläche zu, wurde im entgegengesandten Antigrav-Impuls gebremst und auf den vorgesehenen Platz dirigiert.
Das Schiff lag jetzt voll in der Automatik des Hafens. Dann erfassten es die Wellenfinger des Fernholographen. In einem Leitkäfig aus vier Strahlen, die, von Jul auf dem Schirm sichtbar gemacht, wie grünliche Nadeln den Transporter berührten, sank der Koloss.
Obwohl sicher niemand im Raum am positiven Ausgang des Tests zweifelte, herrschte atemlose Spannung. Die Blicke der Anwesenden hingen am Schirm, Juls leise Kommandos wurden kaum von den unmittelbar neben ihm Stehenden wahrgenommen.
Dann setzte das Raumschiff auf, unmerklich, ohne einen Ruck, ohne Staub aufzuwirbeln. Jul lehnte sich zurück – als Zeichen, dass der erste Teil der Vorführung beendet war. Beifall brandete auf, man murmelte anerkennende Worte, Freude stand in den Gesichtern.“
Erstmals 1960 erschien im DDR-Gewerkschaftsverlag Tribüne Berlin „Wer verschenkt schon seinen Sieg? Ein Spiel von der Zukunft, in der wir schon leben“ von Hasso Grabner: In dem 1959 mit dem Literaturpreis des FDGB ausgezeichneten Funk- und Fernsehspiel geht es um zwei Brigaden, die um den Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ ringen. In der gemeinsamen Auswertung wird ehrlich und schonungslos abgerechnet. Es kommt vieles zur Sprache, auch Schlechtes wird nicht verschwiegen. Es geht um das sozialistische Arbeiten, Leben und Lernen. Eine sehr unterhaltsame Darstellung des Lebens, Denkens und Handelns fortschrittlicher Arbeiter Ende der Fünfzigerjahre in der DDR. Und gleich am Anfang des Stücks wird man den heroischen Optimismus der Fünfziger Jahre bemerken. Und besonders interessant ist in dem Stück eine Figur:
„PERSONEN
WALTER: FDJ-Funktionär
ERIKA: FDJ-Stenotypistin
BARTH: AGL-Vorsitzender
MULLE: Brigadier der Jugendbrigade „Fortschritt“
HEIDE, SPUTNIK, MONI, PETRA, KÜKEN, KIRSCHE: Mitglieder der Jugendbrigade „Fortschritt“
ERWIN: Brigadier der Jugendbrigade „Avanti“
KURT, RIESE, MÖPSCHEN, FRIEDEL, SOCKE, MARIELU: Mitglieder der Jugendbrigade „Avanti“
DER HERR, DER SICH KONKRET NENNT: Eine Figur, aber nicht mehr
1
Eine Tür zu einem Büroraum wird geöffnet. Zwei Menschen treten ein.
BARTH: Aha – die Jugendleitung! Nun, was gibt’s Freunde?
WALTER: (temperamentvoll): Wir können uns nicht einig werden, Genosse Barth, und da
wollen wir dich als AGL-Vorsitzenden mal fragen.
ERIKA: Es geht um die Jugendbrigaden.
BARTH: „Fortschritt“ und „Avanti“?
WALTER: Ja.
ERIKA: Die Kreisleitung hat angerufen. Am 22. September sollen wir melden, welche von beiden die Bedingungen des Wettbewerbs um den Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ erfüllt hat. Und heute
ist schon der 17.!
WALTER: Wegen der Auszeichnung nächsten Monat.
BARTH: Na und?
WALTER: Ja, welche sollen wir denn melden?
BARTH: Ganz einfach – die beste.
ERIKA: Das ist es ja – Walter sagt „Fortschritt“, und ich sage „Avanti“.
WALTER: Bloß Erika kanns nicht beweisen.
ERIKA: Du wohl, ja?
WALTER: Allerdings! Was Planerfüllung und so weiter anbelangt, steht „Fortschritt“ besser.
BARTH: Na schön – „Avanti“ ist als Montagebrigade abhängiger von den Vorleistungen und so.
ERIKA: Das sag ich doch, die Prozentzahl der Übererfüllung sagt nicht alles.
WALTER: Aber sozialistisch arbeiten steht an erster Stelle.
ERIKA: Und sozialistisch leben an letzter, was?
WALTER: Na, so natürlich nicht – aber wie willste denn das miteinander vergleichen und gegenseitig abschätzen?
ERIKA: Eben.
WALTER: (heftig): Da müssen wir Berichte anfordern.
ERIKA: (spöttisch): Neuer Arbeitsstil.
WALTER: Mach mich nicht verrückt, Mensch – wie willste denn das sonst machen, die einen haben vielleicht hundert Flaschen Bier weniger getrunken, die anderen eine Nietverbindung durch eine Schweißnaht ersetzt.
ERIKA: Siehste, das ist die Aufgabe. Hundert nicht getrunkene Flaschen Bier im Verhältnis zu einer Schweißnaht ist wie viel?
WALTER: (erbost): Mensch, das kannste doch nicht rechnen.
ERIKA: Eben, und deswegen sage ich „Avanti“.
WALTER: „Fortschritt“.
ERIKA: „Avanti“.
BARTH: So scheint mirs nicht zu gehen. Wisst ihr denn genau, was die beiden Brigaden gemacht haben?
WALTER: So ziemlich.
ERIKA: So ziemlich nichts.
BARTH: Wer weiß es denn dann?
ERIKA: Na, höchstens die Brigaden selbst.
BARTH: Na also.
WALTER: (erstaunt fragend): Wie?
BARTH: Überlasst doch die Auswertung den Brigaden selbst.
WALTER::Das sollte ein schönes Ding werden. Jeder Krämer lobt seine Ware.
BARTH: Krämer sagtest du?
WALTER: Entschuldige … (beschämt) das ist mir so rausgerutscht – du weißt schon, was ich damit sagen will.
BARTH: Aber ich halts nicht für richtig. Und außerdem kann mans umgekehrt machen.
ERIKA: Wieso?
BARTH: Es muss ja nicht jede Brigade sagen: Unsere Leistung war gut – sie kann auch
sagen: Eure Leistung ist gut!
ERIKA: Gegenseitig?
BARTH: Gegenseitig.
WALTER: Da können sie sich ja tüchtig den Kakao vermachen.
BARTH: So?
WALTER: Oder sich gegenseitig die Bälle zuschieben – so von wegen – heute machen
wir mal den ersten, das nächste Mal dann ihr.
BARTH::So?
WALTER:(verwirrt): Na, habe ich nicht recht?
BARTH::Das kommt auf die Betonung an.
ERIKA: Wieso Betonung?
BARTH: Ob Walter nicht recht oder nicht recht sagt. Ich denke nicht recht stimmt. Kakao vermachen, Bälle zuschieben, das ist doch wieder der Krämer, der seine Ware lobt und die der Konkurrenz verreißt. Hier gehts doch aber um junge Arbeiter, um sozialistisch arbeiten, lernen, leben!
ERIKA: Siehste, jetzt hast du‘s.
WALTER (seufzt): Ich sehe es ein. Wie stellst du dir das nun praktisch vor?
BARTH: Wenn wir‘s nun so machten: Die Brigaden einigen sich auf eine bestimmte Anzahl Beispiele aus ihrer Arbeit. Die schildern sie sich gegenseitig. Nach jedem Beispiel der einen, sagt die andere Brigade ihre Meinung dazu, in bündiger Form.
ERIKA: Vielleicht ganz knapp: Sehr gut – gut – befriedigend – mangelhaft – oder schlecht.
BARTH: So etwa.
WALTER: Das könnte man auch in Zahlen ausdrücken.
BARTH: Auch.
WALTER (nachdenklich): Jede Brigade ist gerade zehn Mann stark, das wäre ein gangbarer Weg.
BARTH: Wenn er mit Vertrauen gepflastert ist …
ERIKA: … und gut organisiert.
BARTH: Das heißt, mit den Brigaden vorher sprechen.
WALTER: Das dauert zwei bis drei Tage, also am 21. die Versammlung beider Brigaden. Einverstanden?
BARTH: Wenn ihr euch inzwischen beeilt und konkret vorbereitet!
WALTER: Na, dann mal los. Aber „Fortschritt“ hat doch gewonnen.
ERIKA: „Avanti!“
WALTER (während beide gehen): „Fortschritt!“
(Barth lacht ihnen hinterher.)“
Erstmals 1975 veröffentlichte Hasso Grabner im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) seinen Roman „VEB Arche Noah“: Den Betrieb nennen sie VEB Arche Noah, weil die Technik völlig veraltet ist. Geleitet wird er von Frieder Kruse, dem alten Haudegen und glühenden Kommunisten, den Zuchthaus und Konzentrationslager geformt haben und der ein weiches Herz hat. So verleitet er die Kranführerin Rosi, die vier Kinder ohne die vier Väter hat und deshalb nur von einem etwas Unterhalt bekommt, den Diebstahl am Volkseigentum zu leugnen. Schließlich wollte sie von dem Geld lediglich Wintersachen für ihre Kinder kaufen.
Aber da ist die Sache mit der Kronbergin, der erfolgreichen Einkäuferin, deren Tochter eine Spaltlippe hat, die nicht richtig operiert werden konnte. Also fährt er an einem Sonntag mit beiden von Thüringen nach Greifswald zu einem befreundeten Professor, der das Mädchen gleich dabehält und Hilfe zusichert. Wie selbstverständlich bietet er beiden das einzige Gästezimmer an. Die junge Frau hatte schon fast vergessen, was Liebe ist, obwohl es bei dem einen Mal blieb. Schließlich ist Kruse verheiratet.
Den Seitensprung kann die Partei nicht durchgehen lassen, zumal Kruse keinerlei Reue zeigt. Es geht nicht nur um eine Parteistrafe, sondern auch um seinen Posten als Werkleiter. Und das gerade jetzt, wo das Unmögliche fast geschafft ist: Ein dringend benötigter 20 000-Tonnen-Mischer für die Maxhütte Unterwellenborn wird im VEB Arche Noah durch das begeisterte Zusammenwirken von Intelligenz, Arbeitern und der Leitung gefertigt, und das noch eine Million billiger als vergleichbare Modelle bei der westlichen Konkurrenz. Hier der originelle Einstieg in das Buch, dem sein Autor einige klarstellende Sätze vorangestellt hat:
„Dieses Buch ist ein Roman.
Seine Figuren sind frei erfunden.
Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären reiner Zufall.
Erstes Kapitel
In dem auf einem grün-plüschenen Sofa angedeutet wird, wovon hier erzählt werden soll, obwohl das auf kein Sofa gehört.
Warum soll eine Geschichte nicht auf einem grünplüschenen Kanapee beginnen? Es quietscht, und wenn man Susanne glauben darf, steht auch eine Sprungfeder unangenehm hervor. Das ist dem Möbel schwer anzukreiden. Vor dem ersten Weltkrieg war es ein sehr gutes Stück. Die Frau verwitwete Walzwerkobermeister Mehlhose hat ihren Untermieter mehrfach belehrt, dass es heutzutage Möbel von dieser Güte nicht mehr gäbe. Ob das wahr ist oder nicht, mit der Witwe Mehlhose ist nicht zu streiten.
Der Untermieter hat Besuch, und der Besuch sitzt auf dem Sofa. Nicht sehr sittsam, warum auch, Susanne ist nicht das erste Mal hier, und sie kennt das Sofa trotz Quietschen und Sprungfeder in seiner ganzen Länge. Also kann sie die Beine übereinanderschlagen. So bietet sie einen freundlichen Anblick, nicht brandneu für Jochen Jonak, aber das Schöne bedarf der Neuheit nicht.
Der junge Ingenieur weiß, wie die Sache weitergeht. Man legt Susanne die Hand aufs Knie und fragt, ob ihr kalt ist – eine vom Frühling, Sommer, Herbst und Winter unabhängige Frage. Die Antwort sucht man in den Augen Susannes. Augen können alle Antworten geben und jede Frage stellen. Man kennt die Antwort sowieso, aber man erwartet sie trotzdem. Männer wollen nun einmal eingeladen sein. So der Übereinstimmung gewiss, beginnt die Hand die sanfte und doch aufregende Talfahrt. Ein Rocksaum ist ein Rocksaum und keine unüberwindliche Grenze, ebenso wenig wie der Übergang vom glatten, kühlen Gewebe des Strumpfes zur glatten, warmen Haut. Was sollen Grenzen? Liebe ist grenzenlos. Jochen Jonak, der Ingenieur, kennt das Verfahren. Heute macht er keine Anstalten, obwohl der Rock eine weite Strecke der Talfahrt übersehen lässt und Susanne mit bestem Gewissen dreinschauen könnte, wie eine, der gar nicht kalt ist. Stattdessen schiebt Jochen das leere Bierglas von einem Wachstuchmuster zum anderen und seufzt.
Susanne weiß, wo ihn der Schuh drückt. Er ist in der Hütte verantwortlich für den Mischer, und das ist das Nadelöhr der Produktion. „An dem Ding ersticken wir noch“, sagt er. Susanne bleibt nur zu nicken und das rechte Bein über das linke, statt das linke über das rechte zu kreuzen. Optisch verändert sich da nichts.
So geht das fast jedes Mal, wenn sie hier ihre Wochenenden verbringt. Eigentlich müsste er die acht Stunden Bahnfahrt hin und her auf sich nehmen und zu ihr kommen. Aber als Ingenieur in der Hütte kann er es sich nicht leisten, Kavalier zu sein. „Zwei Tage weg, um Gotteswillen, keine ruhige Minute hätt’ ich!“
Leicht einzusehen, dass ein so unruhevoll Lebender nicht auch noch um die Seelenruhe gebracht werden darf. Dafür bringt Susanne gern Opfer. Dabei unterscheidet sie sehr wohl zwischen Seelenruhe und Ruhe schlechtweg. Um Ruhe geht es ihr nicht. Die hat sie an sechs Abenden in der Woche, und das ist eine Ruhe, die einen unruhig machen kann.
„Vielleicht nächstes Jahr“, sagt sie und verdirbt damit Jochens Laune vollends, denn er weiß seit gestern, dass der Antrag, die zwei Millionen West zu bewilligen, von der Staplakom auch für nächstes Jahr abgelehnt wurde. Zu dieser Neuigkeit kam heute früh noch eine Panne an der Kippvorrichtung. Der Mischer war fast den ganzen Vormittag blockiert. Das reicht ihm für heute.
Susanne ist ein kluges Mädchen. Sie sagt nicht: Na und? Dass ich da bin, das ist wohl nichts, wie? … Da käme auch nur ein geknurrtes: Natürlich ist das was, und ich freue mich auch, aber … heraus. Solche Liebeserklärungen mit Vorbehalt mag Susanne nicht. Was tut sie also? Sie sagt:
„Eine Hitze ist das heute“, kreuzt die Arme vor der Brust, fasst den Pulloverrand links und rechts und zieht sich mit einem Ruck das kaffeebraune Gestrick über den Kopf.
Jochen glotzt. Wie sollte man das sonst nennen? Es fällt ihm ein, was er eigentlich hätte sagen müssen: Der neue Pullover steht dir gut. Die blonden Haare, das Braun, auf dem grünen Hintergrund, also Rembrandt ist nichts dagegen. Er sagt nichts. Die Geste bringt ihn aus der Fassung, die Vorwegnahme einer Handlung, die ihm obläge, wenn alles wie üblich verliefe. Der verdammte Mischer scheint nicht nur die Ordnung in der Hütte durcheinander zu bringen.
Susanne ist sich ihrer Wirkung bewusst. Sie weiß, an ihr gehen nur die Blinden vorbei, ohne einen Blick zu riskieren. Jochen wehrt sich innerlich noch einen Augenblick. Es scheint ihm fast wie Verrat, dass sein schöner wichtiger Mischer vor Schönerem und Wichtigerem kapitulieren soll. Aber das ist nur ein kurzer Augenblick. Dann hält es ihn nicht mehr auf dem Stuhl.
Das ist die große Stunde der Woche. Von der wunderbaren Gewalt eines Gottes, der sagen darf: Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Für Susanne wenigstens. Hände und Leib entziehen sich der Welt der Gedanken, um einem unnennbaren Gefühl zu dienen. Keine Zeit, nach irgendetwas zu fragen, keine Bedenken noch Zweifel. Die kommen viel später. Im ratternden Zug oder am Montag am Zeichenbrett. Aber auch dann wird die Gewalt noch groß genug sein, um Lust und Liebe zusammenzuhalten. Wenn Jochen in der nächsten Woche an Susanne denkt, wird sich das Wort ‚Erfahrung‘ in seine Gedanken schleichen. Eine erfahrene Frau. Darin wird ein gewisser Stolz liegen. Es muss doch etwas Besonderes an ihm sein. Sie könnte an jedem Finger zehn andere haben. Ausgerechnet auf ihn fällt das Glück. Ein kurzer Besuch, vor einem halben Jahr, dienstlich, von ihrem Betrieb aus. Sehen und ineinander verlieben war alles eins. Früher hat er immer von einem ganz unerfahrenen Mädchen geträumt. Der Erste zu sein. Darauf wäre er stolz gewesen, aber das hat er vergessen.
Jetzt aber liegen sie ohne Wunsch und fast ohne Gedanken nebeneinander. Susannes Linke fährt unendlich behutsam über das blonde Gekräusel auf seiner Brust, hinab in das Tal seines Leibes bis zu den Liebeshaaren und wieder zurück. Und auf und ab, und auf und ab. Er spürt es mit sanftem Behagen, verschränkt die Hände unter dem Kopf und starrt auf den Regenfleck an der Decke. Sie muss für einen Augenblick rechnen, ob auch alles stimmt, nach Knaus-Ogino. Aber sie schiebt den Gedanken beiseite. Nicht jetzt. Das ist klein. „Wir haben noch einen ganzen Tag“, sagt sie, und es klingt, als sage sie: Ein Paradies.
„Das ist wahr“, sagt er, aber darin schwingt nichts von einem Paradies. Dieser „ganze Tag“ ist ein Sonntag. Der Gedanke bedrückt ihn. Er wehrt sich und möchte schweigen, aber schließlich sagt er es doch: „Da stehen wir wieder kopf …“
Susanne weiß, worum es geht. Der Sonntag verläuft in der Hütte anders als die Wochentage. Thomasstahlwerk und Walzwerk laufen gedrosselt. Nur die Hochöfen stechen in normalem Rhythmus ab. Viel Roheisen, wenig Entnahme aus dem Mischer. Das allgemeine Dilemma wird auf die Spitze getrieben. Natürlich sagt keiner: Wenn der Jonak ein bisschen besser wäre … Sie wissen: Es ist nicht der Jonak, sondern der Mischer. Und doch: Wenn über den Mischer die Nase gerümpft wird, kann der Jonak keine Blumen erwarten.
Aber jetzt, in diesem Augenblick, hätte Jochen davon nicht anfangen dürfen. Da war ein großes Geigenspiel, der letzte Ton schwingt noch im Raum, da schmeißt einer einen Teller auf die Fliesen.
Susannes Hand bricht ihre Wanderung ab. Sie legt den Kopf auf den Arm. Es gibt nichts mehr zu schauen, im Gegenteil, man muss die Augen schließen, um das Glück festzuhalten. Im ganz kleinen Kreis, denn der Mann ist aus ihm herausgetreten. So schnell! Nur ein Randbewohner kann das.
Es vergehen viele Sekunden, bis Jochen bewusst wird, dass Susannes Liebkosung aufgehört hat. Die Entdeckung bestürzt ihn nicht. Sie verwundert nicht einmal. Es ist zu natürlich. Wo doch morgen Sonntag ist und wir wieder kopf stehen. Er greift über die Kanapeelehne zum Radioschalter. Susanne zieht ihren Kreis noch ein bisschen enger. Stimmen eines Hörspiels füllen den Raum. Eine Wiederholung. Jochen kennt es schon. „Genesung“ heißt es. Auf einer anderen Welle ist gewiss Tanzmusik. Nur die Stelle noch hören, wo der Held zur Gitarre singt. Der da singt, denkt Susanne, wäre sicher im Kreis geblieben …“
Erstmals 1962 brachte der Deutsche Militärverlag „Justizmord in Dedham“ (Tatsachen, Heft 10) heraus: Das Buch beschreibt spannend, durch Originalaussagen belegt, den Prozess gegen die beiden in den USA lebenden Italiener Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco und die Bemühungen fortschrittlicher Kräfte in den USA und der ganzen Welt, den Justizmord an den beiden revolutionären Arbeitern zu verhindern. Trotzdem wurden beide im August 1927, obwohl unschuldig, auf dem Elektrischen Stuhl hingerichtet. Der Autor Hasso Grabner schrieb zu seinem Buch: „Diese Schrift widme ich dem Andenken des Leipziger Jungkommunisten Georg Paul Döbler.
Er ging mit Tausenden seiner Klassengenossen am 23. August 1927 auf die Straße, um gegen den Mord an Sacco und Vanzetti zu protestieren. Es war sein letzter Gang. Unter den Kugeln der Totschlägergarde eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten ließ Georg Paul Döbler sein Leben für die Gerechtigkeit.“
Hier ein längerer Auszug aus dem dritten Kapitels dieses anklagenden Buches:
„3
So begann dort im September 1920 der Raubmordprozess von South Braintree gegen Sacco und Vanzetti.
Schutzlos standen wir am Anfang der erbarmungslosen Maschine gegenüber, die sich selbst zum blutigen Hohne amerikanische Justiz nennt.
Aber die Freunde bemühten sich zu helfen. Das kleine italienische Hilfskomitee war zu schwach; es wandte sich an seine amerikanischen Klassenbrüder. Es bat nicht vergebens, stand doch an der Spitze der „Arbeitervereinigung zur Verteidigung der Freiheit“ eine Frau, deren Leben nur eine Aufgabe kennt: Freiheit und Glück für die Arbeiterklasse. Sie heißt Elizabeth Gurley Flynn – unsere Elizabetta.
Durch sie wurde Fred H. Moore bewogen, unseren Prozess zu übernehmen. Wir kannten diesen von den Capitalistas und ihrer Justizmaschine gefürchteten Anwalt schon vom Hörensagen. Früher einmal war er Rechtsberater einer Eisenbahngesellschaft gewesen. Dort hatte er gelernt, dass das amerikanische „Recht“ dem Arbeiter das Fell über die Ohren zieht. Sein Gewissen trieb ihn auf die Seite der Unterdrückten. Er verzichtete auf Reichtum und bürgerliches Ansehen und eilte von Prozess zu Prozess der beleidigten Freiheit zu Hilfe.
Wir waren froh, unsere bedrohte Sache in den Händen eines solchen Mannes zu wissen.
Fred Moore hat uns nicht retten können, aber er hat das Wichtigste getan, was für uns getan werden konnte: Er hat verhindert, dass wir als angebliche Raubmörder sang- und klanglos zum Tode geführt wurden. Wenn er auch die Justizmaschine nicht überzeugen konnte, dass wir keine Raubmörder sind – das weiß man da so gut wie anderswo, aber man will es nicht wissen –, dank seiner Arbeit weiß es die ganze Welt.
Nein, Nick und ich haben den Kassierer Frederick Parmenter und seinen Begleiter Alessandro Berardelli nicht erschossen. Die Geldkisten von Slater and Morill mit ihren 15 000 Dollar Inhalt interessierten uns nicht, kein Geld der Welt wäre uns einen einzigen Tropfen Menschenblut wert.
Heute weiß die Welt, wer es war, aber die Behörden decken die Morelli-Bande, denn das sind keine „Roten“, und „Rote“ müssen es gewesen sein. So lautet der unumstößliche Spruch jener Macht, für die Thayer und Katzmann auch nur Werkzeuge sind.
Wir gingen ohne Illusionen in den Prozess, wenn wir auch das nicht für möglich gehalten hätten, was uns dort erwartete.
Ein Herr Dolbeare wollte mich am Morgen des 15. April 1920 in South Braintree gesehen haben. Mit vier anderen zusammen hätte ich in einem Auto gesessen. Über die vier wusste Dolbeare nicht das Geringste zu sagen, nur mein Gesicht hätte er sich gut eingeprägt.
Der Eisenbahner Le Vangie hatte das fahrende Banditenauto gesehen und mich am Lenkrad. Ich kann gar nicht Auto fahren, und Katzmann wusste das so gut wie alle Geschworenen. Was tut so ein Anwalt der herrschenden Klasse? Er sagt ganz einfach: Dieser kleine Fehler in Le Vangies Aussage stört nicht, der Zeuge hat Vanzetti erkannt, und das ist das Wichtigste. Wenn der Zeuge gesagt hat, Vanzetti hätte den Wagen gelenkt, so hat er in Wirklichkeit gemeint, Vanzetti hätte auf dem Rücksitz gesessen, und somit wäre alles klar. Die Verteidigung brachte fünf Menschen, die bezeugten, Le Vangie habe ihnen im Verlauf der ersten Stunde nach der Tat erzählt, er habe niemanden erkennen können. Was half’s? Vierzehn Monate später beim Prozess konnte er es eben!
Ein gewisser Faulkner beschwor, mich im Zug von Plymouth nach Braintree gesehen zu haben. Ich müsste also dort hingefahren sein, um dort in das Auto zu steigen – ein umständliches Verfahren. Seine Aussage wurde aber als gültig anerkannt, obwohl erwiesen war: An diesem Morgen ist kein Billet Plymouth–Braintree verkauft worden.“
Auch ein Streckenwärter wollte mich nach der Tat am Vordersitz des Wagens gesehen haben. Weil er die Schranke geschlossen hatte, soll ich ihm in „klarem und unmissverständlichem Englisch“ entgegengebrüllt haben: „Was, zum Teufel, halten Sie uns hier auf?“ Obwohl die Anklage bei der Variante blieb, ich hätte hinten gesessen, und obwohl ich ein jämmerliches Englisch spreche, war ich ein weiteres Mal zweifelsfrei identifiziert.
Fred Moore hatte elf Personen ausfindig gemacht und sie zur Aussage bereit gefunden. Sie bezeugten, dass ich am 15. April in Plymouth war. Einer nach dem anderen trat auf und belegte trotz Hohn und Drohungen des Staatsanwalts meine Anwesenheit in Plymouth. Vergebens!
Die Anklage behauptete, der Revolver, der bei mir gefunden worden war, wäre die Waffe des ermordeten Berardelli gewesen. Ob ein Mörder so dumm sein kann, ein solches Beweisstück wochenlang mit sich herumzutragen, weiß ich nicht, der Staatsanwalt hielt das aber für möglich und bewiesen.
Ich glaubte, auch einen Teil zur Rechtsfindung beisteuern zu können. South Braintree, der Tatort, und Brockton sind Nachbarstädte, sie gehen fest ineinander über. In Brockton hatten wir für den 9. Mai zu einem Protestmeeting wegen des Mordes an Salsedo aufgerufen. Als Redner war ich vorgeschlagen. Stellt sich ein Mann, der drei Wochen vorher am hellen Tage auf offener Straße zwei Menschen ermordet hat, eine halbe Stunde vom Tatort entfernt den Einwohnern als öffentlicher Redner vor? Ich verstehe nichts von der Psychologie der Verbrecher, glaube aber doch, ein Doppelraubmörder würde versuchen, so schnell wie möglich den ganzen amerikanischen Kontinent zwischen sich und den Ort des Verbrechens zu bringen. Für Katzmann und Thayer war das kein Argument. Gerade weil ich die USA-Justiz des Mordes an Salsedo anklagen wollte, musste ich in ihren Augen ein Mörder sein.
Was der Staatsanwalt an Belastungsmaterial gegen Sacco heranschleppte, war nicht weniger dürftig.
Aus einem Fabrikfenster im zweiten Stock wollten Mary Splaine und Frances Devlin ihn im fahrenden Auto gesehen haben. Diese beiden Frauen konnten die Straße in einer Länge von zehn Metern einsehen. Bei der festgestellten Fahrtgeschwindigkeit hatten sie zwei Sekunden Zeit für ihre Beobachtungen. Mary Splaine antwortete auf die Frage, ob sie sicher wäre, dass Sacco in dem Auto gesessen hätte: „Absolut!“
Fred Moore ließ einen berühmten Psychologen, Dr. Morton Prince, die Zeugenaussage von Miss Splaine analysieren. Er meinte: „Sie beschrieb sechzehn verschiedene Einzelheiten seiner Person, sogar die Größe seiner Hand, die Länge seines Haares …, die Schattierung seiner Augenbrauen! Solch scharfer Blick und solch Erinnerungsvermögen … können leicht als psychologisch unmöglich bewiesen werden.“
Soweit der Wissenschaftler Prince. Ewige Ehre aber noch dem Menschen Prince, der sich nicht fürchtete, seinem Gutachten den Satz anzufügen: „Und was sollen wir von dem guten Willen und der Ehrlichkeit eines Staates halten, der derartige Aussagen zu einer Verurteilung benutzt …?“
Der Zuschneider Louis Pelzer beschwor Saccos Teilnahme an der Schießerei. Er wollte sogar die Nadel auf dessen Krawatte erkannt haben. „Wie ein Ei dem anderen“ ähnele Sacco dem Mörder, wusste er im Prozess, 14 Monate nach der Tat, auszusagen. Am Tage nach unserer Verhaftung, also 13 Monate früher und 3 Wochen nach der Tat, hatte Pelzer Sacco nicht identifizieren können. Das war auch verständlich, denn seine Kollegen erklärten, er habe sich sofort nach dem ersten Schuss angstvoll unter dem Tisch versteckt und überhaupt nicht zum Fenster hinausgesehen. Über ein Jahr später hatte er sich dann „auf alles besonnen“. Nach dem Prozess erklärte Pelzer, die Formulierung „wie ein Ei dem anderen“ habe ihm der Distriktsstaatsanwalt Williams eingeübt. Noch später widerrief er dieses Geständnis und kehrte zu seiner belastenden Aussage zurück.
Der Herr Katzmann hatte noch andere „Eisen“ im Feuer. Er bearbeitete eine Betrugssache Whitney. Dieser Mann war den Gerichten gut bekannt. Wegen Betruges, Diebstahls und dreifacher Bigamie waren Akten mit seinem Namen vollgeschrieben worden. Eigenartigerweise ließ ihn Katzmann straffrei laufen. Dafür trat jener unter dem Namen Carlos E. Goodridge als Zeuge auf und beschwor, ein Mann hätte aus dem Verbrecherauto heraus auf ihn gezielt, und dieser Mann wäre Sacco gewesen. Die Verteidigung entdeckte erst nach dem Prozess die merkwürdigen Qualitäten des Whitney alias Goodridge.
Am Morgen des Tages der Tat wollte eine Frau Lola Andrews Sacco in einem Auto in der Nähe von Slater and Morill gesehen und mit ihm gesprochen haben. Damen von der Art dieser Lola Andrews wird von der honorigen Gesellschaft gemeinhin ein zweifelhafter Ruf nachgesagt. Katzmann jedoch war nicht dieser Ansicht, obwohl ihre Behauptung auch, unabhängig von ihrer Person, aus vielen Gründen unwahrscheinlich war.
Wo stellt sich einer, der einen Raubmord beabsichtigt, stundenlang vorher an den Tatort, damit ihn die Leute sehen können? Das wäre die erste Frage, die wenigstens den Geschworenen hätte zu denken geben müssen. Dazu kam noch folgendes:
Mrs. Andrews wurde an jenem Morgen von einer Freundin begleitet. Diese Frau Campbell erklärte, man habe wohl dort ein Auto stehen sehen, aber Mrs. Andrews hätte mit keinem seiner Insassen ein Wort gewechselt.
Zwei Zeugen, ein Polizist und ein Sekretär der Handelskammer, bezeugten, Lola Andrews habe ihnen vor Monaten erklärt, sie könne keinen der Täter identifizieren.“
Es schockiert auch heute noch, mit welcher Arroganz und Brutalität in diesem unfairen Prozess gegen die beiden italienischen Arbeiter die Tatsachen verdreht oder bewusst ignoriert wurden, um am Ende ein offenbar schon lange zuvor feststehendes Urteil zu sprechen – Klassenjustiz eben. Insofern ist das Buch von Hasso Grabner ein noch immer eindrucksvolles historisches Zeugnis, das ebenso wie die damaligen weltweiten Solidaritätsaktionen für Sacco und Vanzetti nicht in Vergessenheit geraten sollte – auch wenn die Proteste den Tod der beiden Unschuldigen nicht verhindern konnten.
Und auch die anderen Bücher von Hasso Grabner, dem antifaschistischen Widerstandskämpfer, Wirtschaftsfunktionär der frühen DDR und Schriftsteller sind inzwischen längst eigene historische Zeugnisse der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung in ersten Jahrzehnten der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Literatur. Sicher wird man heute nicht weniges anders sehen und bewerten, aber einen authentischen Blick auf die frühen Zeiten erlauben die Bücher von Grabner allemal. Und sie regen vielleicht auch zum teils schmerzhaften Nachdenken darüber an, was an dem damaligen Experiment schiefgegangen ist und wo Ursachen für sein Scheitern liegen könnten …
Einen schönen Übergang in den Monat Mai, möglichst gutes Wetter und bleiben auch Sie in diesen noch immer unsicheren Zeiten vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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