Da die Morgenpost keine Quellen angibt, können Leser*innen die Aussage nicht überprüfen. Eine kurze Recherche ergibt allerdings, dass die „Statistik“ quasi hausgemacht ist. Im Oktober 2020 zitiert die Zeitung Polizeipräsidentin Slowik folgendermaßen: „Wir beobachten eine zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr – auch bei Fahrradfahrern – über 50 Prozent der Verkehrsunfälle mit Radfahrern werden im Übrigen von Radfahrern selbst verursacht.“
Nicht nur die Berliner Morgenpost verbreitet diese Zahlen, auch die Polizei rechnet offenbar anders.
„Für uns stellt sich nun die Frage: Woher kommen diese Zahlen? Statistik ist komplex und Zahlen haben große Macht. Wer am Mobilitätsdiskurs teilnimmt, übernimmt Verantwortung – einfach daherreden ist bei über 3.000 Verkehrstoten im Jahr nicht akzeptabel. Wir freuen uns deswegen über eine Antwort“, kommentiert Yvonne Hagenbach von Changing Cities.
Bei der statistischen Erfassung des Radverkehrs gibt es eine Besonderheit: die sogenannten Alleinunfälle. Hiermit sind Radfahrende gemeint, die wegen schlechter oder fehlender Infrastruktur stürzen und sich dabei verletzen – sie sind dann Verursacher eines Unfalls mit Personenschaden. Auch wenn es nicht „ihre Schuld“ ist. Auf dem polizeilichen Unfallerfassungsbogen gibt es keine Möglichkeit, die Infrastruktur als Ursache für einen Unfall anzugeben. Und so geht auch in die Statistik ein, dass ein Mensch etwas verursacht hat, woran die Infrastruktur Schuld ist. Diese Alleinunfälle aufgrund schlechter Infrastruktur geschehen Radfahrenden viel häufiger als z. B. Autofahrenden – und wären auf breiten Radwegen ohne Hindernisse zu einem Großteil nie passiert. Dieser Fakt verzerrt die Statistik erheblich und so wird die Unfallstatistik quasi aus der Windschutzscheibenperspektive geführt.
Weiterführende Links:
Statistisches Bundesamt, Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/hauptverursacher-fahrzeugart.html
Bericht der Berliner Morgenpost vom 2. Juni 2021:
https://www.morgenpost.de/berlin/article232436805/Radfahren-Hoehere-Temperaturen-mehr-Unfaelle.html
Bericht der Berliner Morgenpost vom 19. Oktober 2020:
https://www.morgenpost.de/berlin/article230700648/Polizei-fordert-Fahrrad-Kennzeichen-in-Berlin.html
Abgeordnetenhaus Berlin, schriftliche Anfrage zum Thema Verkehrsunfälle in Berlin 2020: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/S18-27015.pdf
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Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.
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