Glück und Unglück liegen in der Wildnis eines Nationalparks oft eng beieinander. Am 20. September 2020 fand ein Parkwächter im Schweizer Nationalpark einen toten Uhu am Rand eines Wanderwegs neben dem Flüsschen Spöl. Der Vogel hatte mit Sicherheit ein unglückliches Ende: Ein Flügel war gebrochen, und der Uhu war auf 1,3 Kilogramm abgemagert, weniger als die Hälfte des Normalgewichts, wie sich bei der späteren Untersuchung zeigte. Dass der Vogel überhaupt gefunden wurde, war dagegen Glück. Normalerweise werden tote Tiere in der Wildnis innerhalb von Stunden von Füchsen oder Raubvögeln abtransportiert und verspeist.
Nun kam die Sache ins Rollen. Der Kadaver wurde am Zentrum für Fisch- und Wildtiermedizin der Universität Bern untersucht. Um allfällige Giftrückstände im Körper des Vogels zu erkennen, sandten die Spezialisten die Eingeweide des Uhus an die Empa. «Das Probematerial war schon nicht mehr ganz so frisch», erinnert sich Markus Zennegg, Chemiker in der Abteilung «Advanced Analytical Technologies». Doch als er die ersten Proben im Massenspektrometer untersuchte, wunderte er sich. «Das Gerät zeigte Konzentrationen, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Belastung an besonders toxischen polychlorierten Biphenylen (PCB) in diesem Vogel lag bei 20 Mikrogramm pro Kilogramm Fett – das ist tausendfach über den normalen Werten für Wildtiere.» Zennegg musste die Proben nochmals verdünnen und ein weiteres Mal durch seine Maschine schicken, um die Konzentration überhaupt korrekt bestimmen zu können.
Schadstoffe aus einem Wasserkraftwerk
Das PCB im Uhu aus dem Nationalpark kam indes nicht ganz unterwartet. Das Flüsschen Spöl, an dem der Vogel gefunden wurde, bezieht sein Wasser aus dem Lago di Livigno. Der See wird durch die Staumauer Punt da Gall aufgestaut, die der Engadiner Kraftwerke AG (EKW) gehört. Und genau da liegt das Problem: Beim Bau der Staumauer in den späten 1960er-Jahren wurde PCB-haltige Korrosionsschutzfarbe eingesetzt, die seitdem langsam abgetragen wird und das Wasser am Spöl verunreinigt.
Auch hier liegen Glück und Unglück wieder nah beieinander: 1970 wurde die Staumauer samt Kraftwerk in Betrieb genommen. Nur zwei Jahre später, 1972, wurden in der Schweiz PCB-haltige Stoffe «in offenen Systemen» verboten. Doch da war die Staumauer bereits fertig – und gewissermassen nagelneu. 50 Jahre lang trug das Stauwasser den Schadstoff ganz langsam flussabwärts und lagerte ihn in Sandbänken und Überflutungsflächen ab. Teilweise reicht die Belastung bis zu einem halben Meter tief ins Sediment.
Möglicherweise wurde bereits 2013 bei einer Schlammflut im Spöl eine erste, grössere Welle PCB in den Sedimenten verteilt. Ein zweiter Vorfall ereignete sich 2016: Eine Sanierungsfirma lagerte die Abfälle von Sandstrahl-Arbeiten in der Staumauer, die wurden durch einen Sturm weggeblasen und in den Spöl getragen. Die Kraftwerksgesellschaft meldete diesen Unfall der Umweltbehörde. Seither begleitet die Empa den Fall. Markus Zennegg analysiert Fische und hat spezielle, hochempfindliche Passivsammler entwickelt, die den PCB-Gehalt im Wasser des Stausees messen können. Seit 2017 ist der Verzehr von Fischen aus dem Spöl verboten: Die Fische im Nationalpark Schweiz überschreiten den für Lebensmittel zulässigen PCB-Wert um das Vierfache.
An der Spitze der Nahrungskette
Das konnte der Uhu natürlich nicht ahnen. Ähnlich wie andere Raubtiere, etwa Fischotter, Füchse und Bären, steht er am oberen Ende der Nahrungskette. PCB sind fettlösliche Schadstoffe, die sich im Fettgewebe von Fischen anreichern. Ernährt sich der Uhu hauptsächlich von Fisch aus dem Spöl, dann wird er zum Kandidaten für eine chronische Vergiftung.
Es gibt in der Gruppe der PCB verschiedene Substanzen. Die Empa wies in dem toten Uhu aus dem Spöltal vor allem PCB 126 nach, einen Stoff, der nur rund zehnfach weniger giftig ist als berüchtigte Seveso-Dioxin TCDD. Der Stoff schwächt das Immunsystem und den Hormonstoffwechsel, schädigt Fortpflanzungsorgane und kann Krebs verursachen.
Auch der Mensch ist von der PCB-Belastung betroffen. Die Chemikalie wird in der Umwelt praktisch nicht abgebaut und ist jahrhundertelang unterwegs. Die «European Food Safety Agency» (EFSA) ist der Auffassung, dass ein Mensch pro Woche maximal zwei Picogramm solcher dioxin-ähnlichen PCB pro Kilogramm Körpergewicht aufnehmen sollte. Der Wert berechnet sich aus der Spermienqualität. Schweizer Bürger nehmen bereits heute 14 Picogramm PCB pro Woche auf – also siebenmal mehr als die EFSA-Empfehlung.
Sanierung erfolgreich geprobt
Was also ist zu tun? Darüber scheiden sich die Geister. Alle Beteiligten – die Kraftwerksgesellschaft EKW, das Umweltamt des Kantons Graubünden und die Verwaltung des Schweizerischen Nationalparks – sind sich einig, dass die Zeitbombe PCB am Oberlauf des Flüsschens Spöl baldmöglichst entschärft werden sollte. Immerhin läuft das Wasser von dort in den Inn, dann vorbei an Innsbruck, Kufstein, Rosenheim und Passau in die Donau – und von dort ins Schwarze Meer.
Die ersten 60 Meter hinter der Staumauer, das sogenannte Tosbecken, sind bereits 2016 probeweise saniert worden. «Man hat den feinen Sand mit Korngrössen unter 3 Millimeter herausgefiltert, in einem Kieswerk ausgebrannt und dann wieder ins Becken eingebaut», erläutert Ruedi Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks. «Mit dieser Methode lässt sich rund 90 Prozent der PCB-Belastung erfolgreich entfernen.»
Die Frage bleibt, wie viele Kilometer des Flüsschens Spöl auf diese Weise saniert werden müssen. Die Umweltbehörde des Kantons Graubünden verfügte im Februar 2021 eine Sanierung des Oberlaufs des Spöl auf einer Länge von 2,9 Kilometern. Die Nationalparkverwaltung verlangt dagegen eine Sanierung des ganzen Flusslaufs auf 5,8 Kilometern (siehe Infobox «Rechtslage unklar»). Weiter flussabwärts sei die PCB-Belastung zwar nicht mehr so gravierend wie am Oberlauf, aber trotzdem noch deutlich zu hoch für einen Nationalpark.
Nationalparkdirektor Haller denkt bei seiner Forderung nach Totalsanierung nicht nur an das Wasser in den Flüssen, sondern gerade an Wildtiere, die das Gift in ihren Körpern sammeln. «Sterben Tiere, werden ihre Reviere aus anderen Gegenden besetzt, dort verdünnt sich die Population, und das Spöltal wirkt wie eine Populationssenke. Der vergiftete Spöl kann damit weitreichende Auswirkungen haben, wenn wandernde Tiere das PCB über weite Gebiete verschleppen.» Das aber sei genau das Gegenteil von dem, was ein Nationalpark laut Gesetz sein sollte: Ein Ort, an dem seltene Tierarten einen intakten Lebensraum vorfinden und andere Populationen ausserhalb des Nationalparks positiv beeinflussen.
Rechtslage unklar
Es kommt zum Rechtsstreit zwischen der Kraftwerksgesellschaft EKW, dem Schweizerischen Nationalpark und dem Umweltamt des Kantons Graubünden. Die EKW hatte bereits angeboten, die vom Kanton angeordnete Sanierung vorab zu finanzieren und den Streit um die Kosten später zu klären. Unklar ist vieles: Muss die Sanierungsfirma für den Unfall von 2016 aufkommen? Wird der Fall als industrielle Altlast behandelt oder nach den Gesetzen des Gewässerschutzes? Michael Roth, der Direktor der EKW, sieht es so: «Der Fall Spöl ist mit anderen bekannten Umweltbelastungen kaum vergleichbar. Entsprechend können die Behörden nicht auf andere vergleichbare Fälle zurückgreifen, was sich negativ auf die Rechtssicherheit auswirkt. Es wird unumgänglich sein, dass die eine oder andere Frage durch Gerichte geklärt werden muss.»
Ein Besuch lohnt – möglichst bald
Die Empa wird die Belastung der Fische und Wildtiere im Nationalpark weiter mit chemischen Analysen begleiten. Ein Besuch am Flusslauf lohnt sich eher früher als später: Sobald die Sanierung beginnt, werde sich der Spöl für zwei bis drei Jahre in eine Baustelle verwandeln, sagt Nationalparkdirektor Haller. «Wir werden mit Baggern und Dumpern möglichst im Flussbett selbst bleiben, um möglichst wenig der Umgebung zu zerstören. Ein mobiles Kieswerk wird mit der Baustelle wandern, den Feinsand aus den belasteten Sedimenten herausfiltern und vor Ort ausbrennen, damit wir ihn direkt wieder einbauen können.»
Am Ende soll das Flussbett gezielt mehrfach mit Wasser aus dem Stausee überflutet werden, um den sauberen Sand neu zu verteilen und die Spuren der Bauarbeiten zu tilgen. «Einige Jahre später wird die Natur sich die Landschaft zurückerobert haben. Dann aber ohne PCB-Belastung», sagt Ruedi Haller. «Dann können wir den Nationalpark guten Gewissens an die nächsten Generationen weiterreichen.»
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