Die Überlast der Schwerpunktschulen

Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, ist Ziel eines inklusiven Schulsystems. Statt auf inklusive Angebote in der Breite setzt Rheinland-Pfalz fast ausschließlich auf Schwerpunktschulen. Dieses Konzept geht jedoch zulasten des sozialen Miteinanders, wie Analysen von Marcel Helbig und Sebastian Steinmetz, Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg, zeigen. So ist der Anteil von Kindern aus einkommensschwachen Familien an den inklusiven Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz seit 2012 überdurchschnittlich gewachsen. Vor allem in den Städten hat sich damit das Problem der sozialen Segregation im Grundschulwesen verschärft. Schwerpunktschulen müssen eine doppelte Integrationsleistung schultern.

Rheinland-Pfalz setzt als einziges Bundesland bei der Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf fast ausschließlich auf Schwerpunktschulen. Die Mehrheit der Bundesländer hat sich dagegen für eine flächendeckende Inklusion entschieden. In einigen Ländern wie zum Beispiel Berlin, Hamburg oder Brandenburg gibt es Mischsysteme aus flächendeckender Inklusion und Schwerpunktschulen.  

Die Studie weist nun mit Daten der amtlichen Schulstatistik nach, dass das Konzept der inklusiven Schwerpunktschule auf Kosten der sozialen Integration geht. Das liegt zum einen in der Entstehung dieser Schulen begründet. So wurden in Rheinland-Pfalz die sozial schwächeren Grundschulen als Standorte für Schwerpunktschulen ausgewählt, also Schulen, die bereits vor ihrer Umwandlung einen hohen Anteil von Kindern aus einkommensschwachen Familien hatten. So lag der Anteil von Kindern mit Lernmittelbefreiung an Schwerpunktschulen sechs Prozentpunkte höher als an Nicht-Schwerpunktschulen. Seit 2012 hat sich die Armutsquote an den Schwerpunktschulen zum Teil überdurchschnittlich erhöht. Dies gilt vor allem für die städtischen Räume, wo sich der Unterschied beim Anteil armer Kinder zwischen Schwerpunktschulen und Nicht-Schwerpunktschulen auf 12 Prozentpunkte verdoppelt hat. Dies trifft in besonderem Maße in Nachbarschaften zu, wo es weitere Grundschulen gibt. „Wir vermuten, dass vor allem Eltern aus der Mittelschicht die Schwerpunktschulen meiden und ihre Kinder auf andere Grundschulen in Wohnortnähe schicken“, sagt Marcel Helbig.

Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz müssen daher doppelte Integrationsarbeit leisten, eine pädagogische und eine soziale. „Das geht zulasten der Chancengerechtigkeit, verstärkt soziale Segregation und zeigt, dass halbherzige Inklusion nicht intendierte soziale Folgen haben kann“, ergänzt Helbig. Beide Autoren plädieren für die Überwindung der Schwerpunktschulen zugunsten eines inklusiven Unterrichts an allen Schulen.

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 ist Deutschland verpflichtet, Kinder und Jugendliche mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam zu unterrichten. Die Konvention sieht vor, dass inklusiver Unterricht in möglichst wohnortnahen Schulen angeboten wird. Schwerpunktschulen konterkarieren dieses Recht und verhindern zudem einen systematischen Wandel hin zu einem inklusiven Schulsystem, da nur bestimmte Standorte diesen pädagogischen Auftrag übernehmen. Rheinland-Pfalz ist neben Bayern und Baden-Württemberg Schlusslicht bei der Umsetzung schulischer Inklusion, wie eine im September 2021 erschienene WZB-Studie gezeigt hat.

Zur Studie
Marcel Helbig, Sebastian Steinmetz: Gemeinsamer Unterricht auf Kosten der sozialen Inklusion? Analyse der sozialen Lage in inklusiven Schulen am Beispiel der Schwerpunktschulen in Rheinland Pfalz, erschienen in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (November 2021)

Über die Autoren
Prof. Dr. Marcel Helbig ist Senior Researcher in der Projektgruppe der Präsidentin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Arbeitsbereichsleiter "Strukturen und Systeme" am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBI). 

Sebastian Steinmetz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi).

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