OTWorld 2022: Zeit für Werte

Mut, Verantwortung, Werte – unter diesen Schlagworten lassen sich vier Tage Branchenpolitisches Forum auf der OTWorld 2022 zusammenfassen. Vor dem Hintergrund einer Welt im Krisenmodus und vor allem des Krieges in der Ukraine wurde vom 10. bis 13. Mai auf Internationaler Fachmesse und Weltkongress über die globale Verantwortung für eine qualitätsgesicherte Versorgung mit Hilfsmitteln wie Prothesen und Orthesen, den Wert der Gesundheit in Zeiten verschärfter Finanzierungsdebatten sowie die Chancen der Digitalisierung für die Behandlung von Menschen mit Behinderungen und Mobilitätseinschränkungen debattiert. Auf Einladung des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und des Leistungserbringer-Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“ (WvD) kamen in acht Talkrunden Fachleute aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Krankenkassen, Sozial- und Branchenverbänden sowie von Organisationen wie der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO) zu Wort.

„Unter dem übergreifenden Motto ‚Verantwortung’ ist uns an den vier Tagen ein internationaler Austausch über gemeinsame Werte bei der Versorgung von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und Behinderungen gelungen. Denn unser aller Pflicht, gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen und Leiden zu verhindern, endet nicht an Ländergrenzen“, unterstreicht Alf Reuter, BIV-OT-Präsident, WvD-Vorstandsmitglied und Gastgeber des Branchenpolitischen Forums. „Die Hilfsmittelbranche hat auf dem Weltevent OTWorld wieder bewiesen, zu welchen Höchstleistungen sie in der Lage ist. Die Fachleute, die auf dem Podium des Branchenpolitischen Forums zusammengetroffen sind, waren sich einig: Im interdisziplinären, interprofessionellen und internationalen Team, mit Mut zur Vernetzung und zur Digitalisierung, können wir die Möglichkeiten unseres wunderbaren Handwerks an der Schnittstelle von Mensch und Technik noch viel intensiver und globaler ausschöpfen.“

Werte- statt Preisdiskussion

Mehr Mitbestimmung der Patientinnen und Patienten bei gesundheitspolitischen Richtungsentscheidungen, mehr interdisziplinäre Kooperation, weniger Bürokratie und mehr Transparenz durch digitale Prozesse: Das Branchenpolitische Forum legte den Finger in die wunden Stellen der aktuellen Gesundheitspolitik. „Wir geben derzeit mehr Geld aus, als wir einnehmen“, erläuterte Rainer Sbrzesny, Referent im Arbeitsstab der Patientenbeauftragten der Bundesregierung, der aus Berlin zum Podium „Qualitätsgesicherte und fachgerechte Hilfsmittelversorgung in Deutschland: Wer steht in der Verantwortung?“ am ersten Tag der OTWorld zugeschaltet war. Man gehe an die Reserven – und die seien auch bald verbraucht. Deshalb müsse sich die Versorgung von der Mengen- hin zur Patientenzentrierung bewegen. Es gebe viele Stellen, wo die Patientensicht eine Rolle spielen könnte. Zudem sei das Gesundheitssystem sehr intransparent. Ziel müsse sein, „unnötige Suchbewegungen“ zu verringern, so Sbrzesny. „Wir brauchen eine value based medicine“, forderte Prof. Dr. Joachim Kugler, Professor für Gesundheitswissenschaften/Public Health an der Technischen Universität (TU) Dresden. Statt über Werte zu sprechen wie den Zusatznutzen, den die Versorgungen jeweils für die Patientinnen und Patienten bringen, werde nur über Preise diskutiert. Er kritisierte ein in Einzelabrechnungen aufgesplittertes Versorgungssystem, das selten fragt, wie es den Patienten eigentlich geht und welcher Wert an Gesundheit bzw. Zufriedenheit mithilfe des ausgegebenen Geldes eigentlich geschaffen wurde.

Mehr Digitalisierung wagen

Um Wunsch und Wirklichkeit bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen im Allgemeinen und der Hilfsmittelversorgung im Besonderen ging es gleich in mehreren Debatten. „Die digitale Wirklichkeit ist bitter“, konstatierte Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) e. V. und Klinikdirektor der orthopädischen Klinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Rostock, in der Podiumsrunde „Mit Verantwortung die Zukunft gestalten: Warum tut sich Deutschland mit dem eRezept und der elektronischen Patientenakte so schwer?“ Es fehle an der Digitalisierung in der Fläche – und es seien einfache Lösungen gefragt. „Das deutsche Gesundheitswesen ist kein simples Gesundheitswesen“, stellte der aus Berlin zugeschaltete Volker Mielke, Chief Transformation Officer der gematik GmbH, fest. Aber er sei optimistisch, auch im Hinblick auf die im Koalitionsvertrag gesetzten Schwerpunkte. Er rechne damit, so Mielke, dass man im Sommer die Zielmarke von 30.000 abgerechneten eRezepten erreichen werde und dann in den weiteren Roll-out starten könne. Das deutsche Gesundheitswesen könne sich „freuen auf eine Infrastruktur, die stabiler ist, resilienter, die mehr Flexibilität hat und ein hohes Sicherheitsniveau, ohne starr zu sein.“

Weltweit helfen in Krisenzeiten

Die großen weltpolitischen Themen und wie die Branche helfen kann – dies stand im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion „Verantwortung zeigen: Kennt internationale Hilfsmittelversorgung (keine) Grenzen?“ BIV-OT-Vizepräsident Albin Mayer schilderte Gespräche mit Menschen aus der Ukraine: „Sie berichteten, wie viele Schwerstverletzte man dort hat in der Zivilbevölkerung und auch im Militär – und man kann sie nicht behandeln. Kliniken sind geschlossen, ukrainische Werkstätten nicht aktiv.“ Die Bemühungen um Hilfe aus Deutschland und international laufen, so Mayer: „Es geht um Soforthilfe, aber auch um qualifizierte Ausbildung in der Ukraine sowie Gesellen und Meister von dort bei uns fortzubilden.“ Hans Georg Näder, Eigentümer und Vorsitzender des Verwaltungsrats der Ottobock SE & Co. KGaA, erinnerte an die Situation in Afrika, das abhängig ist von Lebensmitteleinfuhren aus der Ukraine und Russland und durch den Ukraine-Krieg von Hungersnot bedroht. „Afrika ist immer wieder das Opfer – immer und immer wieder“, wie Näder mahnte. Claude Tardif, Präsident der International Society for Prosthetics and Orthotics (ISPO), unterstrich, dass mehrere Krisen zu meistern seien. So hätten während der Corona-Pandemie viele Menschen medizinisch nicht versorgt werden können – und Covid sei immer noch da. Die OTWorld habe nach Ansicht von Tardif aber eine positive Botschaft gesendet: Menschen seien bereit, zusammenzuarbeiten – und es seien „eine Menge Möglichkeiten und Innovationen zu sehen.“ Es gehe nun darum, einen Weg zu finden, um mehr Menschen den Zugang zu ermöglichen.

Prävention verhindert Leid

Prävention sei nicht nur Sache der Ärzte, „Prävention braucht alle in den Gesundheitsberufen“, betonte Dr. Alexander Risse, ehemaliger Leiter des Diabeteszentrums am Klinikum Dortmund und Mitglied der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), im Forum „Zwischen Homeoffice, Selbstoptimierung und demografischem Wandel: Gesundheit selbst verantworten?“ Die jährlich 40.000 Amputationen wegen des Diabetischen Fußsyndroms seien unnötig, so der Experte. Viel zu langsam werde reagiert. Dabei müsse gesundheitliche Aufklärung nicht dröge sein. Und Hilfsmittel müssen nicht langweilig aussehen – Stichwort und Credo für Lipödem-Model, Unternehmerin, Autorin und Bloggerin Caroline Sprott, die für mehr Empathie bei der Behandlung von Lipödem-Patientinnen plädierte: „Wenn man nicht ernst genommen wird, stellt man sich selbst infrage – und das ist nicht fair.“ Sie sprach darüber, wie sie sich durch Mode selbst therapiert habe, um ihre Erkrankung annehmen zu können: „Ich musste kreativ werden aus Überlebenswillen.“

Mehr Mut!

„Vielleicht sollten wir in Deutschland mal dem Zweifel seine Attraktivität nehmen“, sagte Univ. Prof. Dr. Thomas Druyen in der Diskussionsrunde unter dem Titel „Verantwortung übernehmen: Wie steht es um die digitale Versorgung und unser Mindset eHealth?“ Für den Direktor der Sigmund Freud PrivatUniversität, Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement, der ebenfalls im Vorstand des Opta Data Instituts sitzt, war die OTWorld ein Zukunftsort mit „mutigen Leuten“ und „Visionären“. Zum Thema Digitalisierung erklärte Kongresspräsident Dipl.-Ing. Merkur Alimusaj, Leiter der Technischen Orthopädie an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg: „Das Erste, was wir tun müssen, ist die Angst aus dem System rauszunehmen.“ Digitalisierung beginne mit der Ausbildung. Dabei dürfe das Wissen der „Alten“ nicht vergessen werden. „Wir werden es brauchen“, so Alimusaj. „Es gibt zurzeit keinen Algorithmus weltweit, der das individuelle Anpassen übernehmen kann. Das ist Grips, das ist Orthopädie-Technik.“

„Wir müssen lauter werden!“

„Wir schaffen jeden Tag Sinn, ich kann mir keinen besseren Beruf vorstellen“, so BIV-OT-Präsident Alf Reuter in der Podiumsrunde „Wem traut man im Gesundheitswesen Verantwortung zu? Über die Bedeutung der Gesundheitsfachberufe“ am letzten Tag der Veranstaltung. In der Öffentlichkeit werde die verantwortungsvolle Arbeit in der Orthopädie-Technik jedoch zu wenig wahrgenommen. „Deshalb müssen wir lauter werden, unser Handwerk bekannter machen.“

Ausgewählte Sessions des Branchenpolitischen Forums sind in den kommenden zwei Monaten in der Mediathek der OTWorld verfügbar.

Über den Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik

Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädietechnischen Handwerks bundesweit die Sanitätshäuser und orthopädietechnischen Werkstätten mit etwa 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die angeschlossenen Häuser mehr als 25 Millionen Patienten mit Hilfsmitteln.

Über das Bündnis „Wir versorgen Deutschland“

Knapp 25 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland benötigen die Versorgung mit Hilfsmitteln – elementar für Teilhabe und Lebensqualität. Mehr als 120.000 Beschäftigte und mehr als 8.000 Leistungserbringer in den Bereichen Orthopädie-Technik, Orthopädieschuhtechnik, Reha-Technik und Homecare verantworten die wohnortnahe und qualitätsgesicherte Versorgung. Die im Bündnis zusammengeschlossenen Partner zählen zu den maßgeblichen Spitzenverbänden und Zusammenschlüssen von Leistungserbringern: Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, EGROH-Service GmbH, Reha-Service-Ring GmbH, rehaVital Gesundheitsservice GmbH und Sanitätshaus Aktuell AG.

Über Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik

Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädietechnischen Handwerks etwa 2.500 Sanitätshäuser und orthopädietechnische Werkstätten mit mehr als 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die angeschlossenen Häuser mehr als 25 Millionen Patienten mit Hilfsmitteln. Der BIV-OT steht in der Verantwortung des deutschen Gesundheitswesens und engagiert sich für die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Versorgungsformen.

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