Neue Studie des WSI

Beschäftigte, die nicht nach Tarif bezahlt werden, verdienen deutlich weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen mit Tariflöhnen. Im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) beträgt der Abstand beispielsweise knapp 8 Prozent in Betrieben, die bei anderen für die Bezahlung zentralen Merkmalen wie Branche, Größe oder Qualifikationsniveau der Belegschaft sehr ähnlich sind. Ohne die statistische Berücksichtigung solcher Faktoren liegt der Rückstand ohne Tarif sogar bei knapp 18 Prozent. Zudem ist mit Tarifvertrag die durchschnittliche Arbeitszeit spürbar kürzer: um eine Stunde in der Woche. In Nordrhein-Westfalen werden aktuell 57 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Damit weist das industriell geprägte NRW zwar die höchste Quote unter allen Bundesländern auf, sie ist aber seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gesunken und weitaus geringer als in Nachbarländern wie den Niederlanden und Belgien, in Frankreich oder Österreich (detaillierte Daten unten und in Abbildung 1, 2 und 3 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Zudem liegt der Anteil der tarifgebundenen Betriebe zwischen Rhein und Weser niedriger als in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz (Abbildung 4). Bei gesetzlichen Initiativen zur Sicherung und Stärkung der Tarifbindung ist NRW in den vergangenen Jahren hinter andere Bundesländer zurückgefallen. Das sind Ergebnisse einer neuen Studie über „Tarifverträge und Tarifflucht in Nordrhein-Westfalen“, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung erstellt hat.* Die Untersuchung wird heute auf der Landespressekonferenz in Düsseldorf vorgestellt (weitere Infos und Zitate zur PK sind am Ende dieser PM verlinkt).

„Die Politik hat sich in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren deutlich zu einer Stärkung der Tarifbindung bekannt. Allerdings wurde der landespolitische Gestaltungsspielraum bei weiten nicht ausgeschöpft. Während Nordrhein-Westfalen einmal über das entwickeltste und fortschrittlichste Landestariftreuegesetz verfügte, ist es mittlerweile bundesweit vom Vorreiter zum Nachzügler geworden“, konstatieren die Studienautoren Prof. Dr. Thorsten Schulten, Dr. Reinhard Bispinck und Dr. Malte Lübker. Denn während immer mehr andere Bundesländer umfassende Regelungen zur Tariftreue einführten, habe NRW sein Vergabegesetz in den vergangenen Jahren stark eingeschränkt. Dabei verfüge gerade das Bundesland mit den meisten Einwohnern und dem größten Bruttoinlandsprodukt in der öffentlichen Auftragsvergabe und der regionalen Wirtschaftsförderung über ein erhebliches ökonomisches Steuerungspotenzial, das mit einem verbindlichen und wirkungsvollen Tariftreuegesetz zur Förderung des Tarifvertragssystems eingesetzt werden könnte und sollte, analysieren die Forscher. Auch bundespolitisch hätte es Gewicht, wenn die Landesregierung in Düsseldorf sich künftig effektiv für eine Stärkung des Tarifsystems engagieren würde. So „könnte sich Nordrhein-Westfalen zusammen mit anderen Bundesländern für eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen einsetzen, die ein wesentlicher Hebel zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems ist“, schreiben die Wissenschaftler.

Für ihre Studie haben die WSI-Experten unter anderem die neuesten verfügbaren Daten des IAB-Betriebspanels sowie die Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes ausgewertet und zahlreiche Tarifauseinandersetzungen analysiert, die verschiedene DGB-Gewerkschaften in NRW geführt haben. Neben vielfältigen Daten für das Land bietet die Untersuchung damit auch aktuelle Fallbeispiele.

Wesentliche Ergebnisse der Studie:

Tarifverträge in Nordrhein-Westfalen: Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sind knapp 9.000 Tarifverträge registriert, die aktuell in Nordrhein-Westfalen Gültigkeit haben. Den Kern des nordrhein-westfälischen Tarifvertragssystems bilden mehr als 900 branchenbezogene Flächentarifverträge. Hinzu kommen zahlreiche Firmentarifverträge, deren Bedeutung nach Analyse der WSI-Forscher stetig zunimmt.

Tarifbindung insgesamt: Nordrhein-Westfalen hat nach den aktuellsten verfügbaren Daten (Stand: 2020) mit einer Tarifbindung von 57 Prozent der Beschäftigten die höchste Tarifbindung von allen Bundesländern. In Deutschland ist mit einer Tarifbindung von 51 Prozent durchschnittlich nur noch jeder zweite Beschäftigte durch einen Tarifvertrag geschützt. Während in den westdeutschen Bundesländern zwischen 48 und 57 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, liegt die Spannbreite in Ostdeutschland mit Werten zwischen 37 und 48 Prozent noch einmal deutlich niedriger. Schaut man auf den Anteil der tarifgebundenen Betriebe, liegt Nordrhein-Westfalen mit 31 Prozent hinter Niedersachsen (36 Prozent) und Rheinland-Pfalz (34 Prozent) auf dem dritten Platz.

Trend: Wie in Deutschland insgesamt ist auch in Nordrhein-Westfalen der Anteil der Beschäftigten, die nach Tarif bezahlt werden, seit Mitte der 1990er Jahre stark gesunken. 1996 lag sie noch bei 82 Prozent, ging seither jedoch erheblich zurück und erreichte Mitte der 2000er Jahre nur noch 65 Prozent. Nachdem die Tarifbindung einige Jahre in etwa auf diesem Niveau verharrte, weist sie seit Mitte der 2010er Jahre wieder einen deutlich negativen Trend auf und erreichte in den Jahren 2019 und 2020 mit 57 Prozent ihren bisherigen Tiefpunkt.

Branchen, Betriebsgrößen und Betriebsalter: Die Tarifbindung der Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen reicht von 34 Prozent im Einzelhandel bis zu 97 Prozent in der öffentlichen Verwaltung (siehe auch Abbildung 5 in der pdf-Version). Die Wahrscheinlichkeit, nach Tarif bezahlt zu werden, steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während noch 46 Prozent der vor 1990 gegründete Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten Betrieben lediglich 25 Prozent.

Beschäftigtengruppen: Zwischen Frauen und Männern zeigen sich bei der Tarifbindung in Nordrhein-Westfalen kaum Unterschiede: So arbeiten 47 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen in tarifgebundenen Betrieben. Deutlich größer fallen die Unterschiede aus zwischen Vollzeitbeschäftigten (59 Prozent), Teilzeitbeschäftigten (52 Prozent) und geringfügig Beschäftigten (41 Prozent). Auszubildende arbeiten mit 60 Prozent überdurchschnittlich häufig in tarifgebundenen Unternehmen.

Tarifbindung und Betriebsrat: Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In Nordrhein-Westfalen arbeiten allerdings nur 45 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat. Lediglich 38 Prozent sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie bei der Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.

Europäischer Vergleich: Nordrhein-Westfalen weist wie auch Deutschland insgesamt im europäischen Vergleich keine besonders hohe Tarifbindung auf. In vielen westeuropäischen Ländern sind nach wie vor mehr als drei Viertel aller Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen tätig. In Ländern wie z. B. Frankreich, Italien oder Österreich sind es sogar mehr als 90 Prozent. Dies zeigt nach der WSI-Analyse, dass die Erosion des Tarifvertragssystems keineswegs alternativlos ist, insbesondere, wenn die Politik wirksam gegensteuert. Mit einer Tarifbindung von 57 Prozent liegt Nordrhein-Westfalen derzeit auf dem Niveau Luxemburgs und deutlich unter dem Niveau der Nachbarländer Belgien und Niederlande.

Tarifbindung und Arbeitszeit: In Nordrhein-Westfalen wie bundesweit haben Beschäftigte in tarifgebundenen Unternehmen geringere Arbeitszeiten. 2019 arbeiteten sie in NRW im Durchschnitt 38,4 Stunden pro Woche und damit eine Stunde weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Betrieben ohne Tarifvertrag.

Tarifbindung und Entgelt: Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist: Auch das ist in ganz Deutschland so. In Nordrhein-Westfalen beträgt der unbereinigte Rückstand beim Entgelt knapp 18 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie z. B. der Branche, der Betriebsgröße und der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten. Aber selbst wenn diese Unterschiede statistisch berücksichtigt werden, beträgt der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel noch immer knapp 8 Prozent gegenüber Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen – bei längerer Arbeitszeit.

Tariforientierung: Von den Beschäftigten ohne Tarifvertrag arbeiten in Nordrhein-Westfalen etwa 40 Prozent in Betrieben, die angeben, sich an einem Tarifvertrag zu orientieren. Aus Sicht der Beschäftigten ist eine unverbindliche Tariforientierung jedoch kein Ersatz für eine vollwertige Tarifbindung, betonen Schulten, Lübker und Bispinck. Dies gilt vor allem für die Entgelte, die auch in Betrieben mit Tariforientierung deutlich niedriger sind als in ähnlichen Betrieben mit einem verbindlichen Tarifvertrag.

Löhne in Nordrhein-Westfalen im innerdeutschen Vergleich: Das Lohniveau in Nordrhein-Westfalen liegt nur geringfügig über dem bundesweiten Durchschnitt. 2020 lag der Medianlohn für Vollzeitbeschäftigte in Nordrhein-Westfalen bei 3.487 Euro gegenüber 3.427 Euro in Deutschland insgesamt.

Niedriglohnsektor: Im Jahr 2020 verdienten in NRW gut 770.000 Vollzeitbeschäftigte weniger als zwei Drittel des gesamtdeutschen Medianlohns (d. h. weniger als 2.284 Euro) und arbeiteten damit im Niedriglohnsektor. Das entspricht 17,1 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten. Nordrhein-Westfalen liegt damit leicht unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt von 18,7 Prozent.

Stärkung des Tarifsystems: Für eine Stärkung der Tarifbindung gibt es nicht das eine zentrale Instrument, heben Schulten, Bispinck und Lübker hervor. Es sei vielmehr ein Bündel von Maßnahmen notwendig. Dabei müssten alle relevanten Akteure, d. h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Wichtig ist nach der WSI-Studie etwa eine Stärkung der Tarifverbände. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssen, seien die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und die Legitimation von Tarifflucht über so genannte „OT-Mitgliedschaften“ (ohne Tarifbindung) zu beenden. Der Staat sollte unterstützen mit Instrumenten wie Tariftreugesetzen bei öffentlichen Ausschreibungen oder besseren Möglichkeiten, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären.

* Thorsten Schulten, Reinhard Bispinck, Malte Lübker: Tarifverträge und Tarifflucht in Nordrhein-Westfalen, WSI-Study Nr. 30, Düsseldorf, Mai 2022. Download: https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008336/p_wsi_studies_30_2022.pdf

Die neue Studie wird heute auf der Landespressekonferenz NRW vorgestellt. An der PK nehmen auch Anja Weber, Vorsitzende des DGB NRW, und Mohamed Boudih, Landesbezirksvorsitzender der NGG, teil. Zitate zur PK finden Sie in der PM des DGB NRW: https://nrw.dgb.de/-/ljS

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