Luxemburger Richter entscheiden

Ein heute gefälltes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stellt sicher, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Softwarekonzern SAP SE weiter uneingeschränkt gilt. Über den einzelnen Fall hinaus setzen die Luxemburger Richterinnen und Richter damit ein Signal für die Vertretung von Beschäftigteninteressen in den Aufsichtsräten Europäischer Aktiengesellschaften (SE). „Der EuGH leistet einen wichtigen Beitrag dazu, Mitbestimmung zu schützen, indem er die Bedeutung der Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat für eine starke Arbeitnehmervertretung anerkennt. Dies hat eine hohe Tragweite. Bestätigt wird, dass über das reine Besetzungsverhältnis im Aufsichtsrat hinaus alle prägenden Elemente der Mitbestimmung geschützt sind. Deren Definition bleibt eine Angelegenheit des nationalen Rechts", sagt Dr. Sebastian Sick, Unternehmensrechtler im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. „Das ist besonders bedeutsam, weil die demokratische Beteiligung im Arbeitsleben durch Rechtssetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene in den vergangenen Jahren allzu oft eher Gegenwind bekommen hat. Es ist höchste Zeit, diesen Trend auch auf politischer Ebene zu drehen.“

Der EuGH hat mit seinem heutigen Urteil die Sichtweise des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bestätigt. Das hatte sich im August 2020 gegen die Schwächung der Arbeitnehmermitbestimmung bei der Umwandlung des Softwarekonzerns SAP in eine SE ausgesprochen. Nach Ansicht des BAG dürfen Unternehmen nach deutschem SE-Recht auch bei einer Umwandlung in eine SE die gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter im Aufsichtsrat nicht ausschließen – anders als SAP argumentierte. Ein prägendes Element der Mitbestimmung bliebe demnach gewahrt. Zugleich beschloss das BAG, dem EuGH die Auslegungsfrage vorzulegen, ob das EU-Recht in diesem Punkt das deutsche SE-Recht stützt. Eine wichtige Entscheidung angesichts der hohen europarechtlichen Relevanz des Verfahrens, sagt Jurist Sick. Denn: „Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen. Die Gerichtsentscheidungen zeigen jedoch, dass Unternehmen, die die SE zur Mitbestimmungsflucht nutzen, oft große Rechtsrisiken tragen.“

Eine aktuelle Studie des I.M.U. ergibt: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch betriebliche und überbetriebliche Arbeitnehmervertreter nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen. Drei Viertel der Unternehmen mit legaler Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, allein bei mindestens gut 300.000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen. „Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Im Fall SAP ist das gelungen, weitere Schritte müssen folgen“, erklärt der Jurist Sick.

Beim Softwarekonzern kam es im Zuge der Umwandlung in eine SE zu der Regelung, das Vorschlagsrecht von Gewerkschaften in gesondertem Wahlgang für die Besetzung von mindestens zwei Aufsichtsratsmandaten abschaffen zu können. Dagegen haben die IG Metall und ver.di geklagt. Die Präsenz von „überbetrieblichen“ Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern in den Aufsichtsräten großer Unternehmen ist ein integraler Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes; diese steuern einen überbetrieblichen Blickwinkel bei und stärken damit die Kompetenz der Arbeitnehmerseite und des Aufsichtsrates insgesamt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1979 ausdrücklich bestätigt.

Dass eine starke Mitbestimmung, die auch überbetriebliche Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen. So zeigen mehrere aktuelle Studien von Forschenden der Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen sowie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch Umbruchphasen und Krisen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise kommen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache – ein Befund, der aktuell besonders bedeutsam sein dürfte. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler, betreiben seltener aggressive Steuervermeidung und gehen bei Zukäufen weniger Risiken ein (siehe auch die unten verlinkten zusätzlichen Informationen).
Ampelkoalition hat Verbesserungen angekündigt – „jetzt muss sie auch liefern“

Auch jenseits der aktuellen gerichtlichen Auseinandersetzung ist nach Analysen der Hans-Böckler-Stiftung der Bedarf groß, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen. Dabei seien der deutsche und der europäische Gesetzgeber gefragt. Beispielsweise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder von 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das hat längst drastische Folgen: Bei vier von fünf in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch DAX-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird, betont Dr. Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche Verbesserungen angekündigt. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, Mitbestimmung durch Gründung einer SE auszuhebeln. Auch die sogenannte Drittelbeteiligungslücke im Konzernrecht soll geschlossen werden. „Dass die Ampelkoalition die Unternehmensmitbestimmung als wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Wirtschaft anerkennt und schützen will, ist ein Fortschritt. Aber die Bundesregierung muss auch liefern“, sagt Jurist Hay. „Darüber hinaus gibt es weitere Lücken in den Gesetzen. Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten“, erklärt Hay. Zudem müsse sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für Mindeststandards der Unternehmensmitbestimmung einsetzen.

Aktuelle PM von IG Metall und ver.di zum EuGH-Urteil: https://www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/positive-entscheidung-des-europaeischen-gerichtshofs 

Forschungsüberblick zur Wirkung von Mitbestimmung: https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-21087.htm 

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