Ist unser Gesundheitswesen im Notstand?

Die deutsche Notfallmedizin schlägt Alarm, ob Rettungsdienst oder Krankenhaus. Überdurchschnittlich viele Patienten mit Atemwegserkrankungen werden derzeit eingewiesen.

Viele Ärzte, Pflegekräfte und das Rettungsdienstpersonal sind selbst von massiven Infektionskrankheiten betroffen, fallen aus. Die Personaldecke ist ohnehin dünn.
Zudem kommt erschwerend hinzu, dass es Lieferengpässe bei Medikamenten gibt.

Drei Fragen an Dr. med. Bernd Müllejans, M.Sc.
DRK-Landesarzt Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e.V. und Arzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin an der Asklepios Klinik Pasewalk

Herr Dr. Müllejans, Sie sind DRK-Landesarzt und Klinik-Chefarzt. Ist die Lage angespannt oder bedeutet es tatsächlich Alarm? Wie beurteilen Sie das für Mecklenburg-Vorpommern? Und wie sieht es konkret beim DRK-Rettungsdienst und in den DRK-Krankenhäusern aus?

Tatsächlich trifft die Beschreibung „alarmierend“ ins Schwarze. Während meiner fast 35-jährigen Tätigkeit als Anästhesist und Intensivmediziner, davon die letzten 25 Jahre in Mecklenburg-Vorpommern, habe ich eine derart angespannte Personalsituation in der stationären Patientenversorgung noch nicht erlebt. Sie betrifft alle Kliniken im Bundesland, völlig unabhängig davon, welcher Träger sie betreibt.

Wir reden hier von Krankenständen im pflegerischen und ärztlichen Bereich von bis zu 40%. Das kann keiner kompensieren. Im Gegenteil, die Bemühungen auf allen Ebenen, das System einigermaßen funktionsfähig zu halten, beanspruchen das verbliebene Personal bis weit über die Belastungsgrenze. In hochspezialisierten Krankenhausbereichen, wie z.B. der Intensivmedizin, führt die Erwähnung der eigentlich vorgeschriebenen Pflegepersonaluntergrenzen nur noch zu müdem Lächeln. Die Patienten sind halt da und müssen versorgt werden; die Einhaltung von vom Gesetzgeber und von den

Kostenträgern geforderter personeller Ausstattung ist aktuell kaum bis gar nicht umzusetzen.

Wie kritisch die Lage wirklich ist, sehen wir u.a. daran, dass in den letzten Tagen mehrfach alle Kliniken der Maximalversorgung im Bundesland gleichzeitig ihre Intensivstationen aus Kapazitätsgründen abmelden mussten. Heute beispielsweise sind in ganz MV nur 36 von insgesamt 550 Intensivbetten frei. Diese Zahl spricht für sich.

In der Intensivmedizin im Land sind die Kliniken in MV sehr gut miteinander vernetzt und helfen sich gegenseitig, teilweise allerdings unter Inkaufnahme langer Verlegungswege für die Patienten. In meiner Wahrnehmung ist die Situation vergleichbar mit der in der Hochzeit der ersten Corona Welle, nur dass es jetzt nicht mehr in gleicher Häufigkeit um Covid-19 geht. Es ist in der Pandemie aus dem Fokus geraten, dass es noch andere

Atemwegserkrankungen mit schweren Verläufen gibt. Und wieder sind es vor allem die betagten oder vorerkrankten Menschen, die durch z.B. eine Influenza-Infektion wirklich gefährdet sein können. Da haben wir alle jetzt auch in der Weihnachtszeit, wo sich die Familien begegnen und eng beisammen sind, eine große Verantwortung füreinander.

Besonders spannend dürfte es auch zum Jahreswechsel werden, wenn die Menschen nach langer Zeit wieder ausgelassen Silvester feiern dürfen. Wenn da noch schwere Verletzungen durch Feuerwerkskörper in den Notaufnahmen zu versorgen sein werden, wird es richtig eng.

Das wird in besonderer Weise auch der Rettungsdienst zu spüren bekommen, wo die Situation natürlich nicht besser als in den Kliniken ist. Hoher Krankenstand, viele Alarmierungen wegen Bagatellerkrankungen oder lange Einsatzzeiten bei Verlegungsfahrten führen auch hier zu maximal belasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Bisher ist – Gott sei Dank – noch nicht mit flächendeckenden Ausfällen der Notfallstruktur zu rechnen, aber viel braucht es nicht mehr bis das System dekompensiert.

Wie wird in dieser akuten Situation dennoch eine gute Versorgung der Patienten sichergestellt?

Im Bereich der sog. Normalstationen müssen in fast allen Kliniken des Landes Pflegebereiche wegen der Personalknappheit geschlossen oder zusammengelegt werden. Was die Pflegenden hier im Moment und unter diesen Umständen leisten, ist absolut bewundernswert.

Etliche Kliniken verschieben auch elektive Eingriffe, also solche, die nicht dringlich sind, um mehr Kapazitäten für die Notfallversorgung zu haben. Das ist in der aktuellen Lage absolut legitim, erzeugt aber nicht selten Unmut bei den betroffenen Patienten. Wenn dieser dann am überlasteten Krankenhauspersonal „ausgelassen“ wird, führt das nicht unbedingt zur Deeskalation der Situation.

Auch in der außenklinischen Notfallversorgung, bei Krankentransport und Rettungsdienst, ist aktuell viel Flexibilität, Kreativität und Improvisationsgabe gefragt, um mit dem verbliebenen Personal dafür zu sorgen, dass jederzeit die Notfallrettung gesichert werden kann. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass auch einzelne Wachen einmal abgemeldet werden müssen, wenn die Besetzung der Fahrzeuge nicht möglich ist. Das kann im Einzelfall z.B. zu verlängerten Ausrückzeiten zum Notfallort führen. Aber die Personalverantwortlichen im Rettungsdienst und die Leitstellendisponenten bemühen sich wirklich nach Kräften, alles so zu organisieren, dass alle Patienten best- und schnellstmöglich versorgt werden können.

Wie kann eine gesunde langfristige Lösung Ihrer Meinung nach aussehen, um in solch akuten Situationen zukünftig besser aufgestellt zu sein?

Die letzten drei Jahre haben das Gesundheitssystem und alle, die darin und daran mitwirken, wirklich bis zum Letzten gefordert. In Europa sind wir sehr lange von Situationen verschont geblieben, die katastrophale

Ausmaße annahmen. Und auf einmal haben wir schwere Krankheitswellen weltweit und Krieg in Europa. Das hätte noch vor Kurzem niemand für möglich gehalten.

Diese neue Lage traf auf ein Gesundheitssystem, das u.a. von Ökonomisierungs-zwängen, Abwanderung von Fachpersonal oder ausufernder Bürokratisierung regelrecht ausgepresst war.

Den Ist-Zustand zurückzudrehen, wird extrem schwer. Und aktuelle Überlegungen politischer Entscheidungsträger, das bürokratisierte System zu „entschlacken“, sind löblich, greifen aber frühestens in ein paar Jahren.

Alles, was hilft, die Motivation des teilweise demoralisierten Krankenhauspersonals wieder zu stärken, muss schnell und effektiv getan werden. Sie glauben nicht, wie oft sie von Pflegekräften hören: „Ich möchte mich endlich wieder richtig und intensiv um meine Patienten kümmern können und nicht die Hälfte meiner Arbeitszeit ausufernde Dokumentationsaufgaben am Computer machen müssen.“ Beim ärztlichen Personal ist es ähnlich. Die Arbeit am Patienten, die Ausbildung des jungen ärztlichen Nachwuchses, die Angehörigengespräche, all das kommt durch den wachsenden Ballast von Schreibtisch- und Computerarbeit oft zu kurz.

Das darf so nicht sein.

Auch das sind nur mittel- und langfristig verbesserbare Dinge. Kurzfristig, also in der aktuellen Situation, hilft leider nur Zähne zusammenbeißen, weitermachen und die Freude am Beruf behalten.

Herr Dr. Müllejans, Dankeschön für das Gespräch.

Das Gespräch führte:
Antje Habermann
Koordinatorin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
DRK-Landesverband Mecklenburg-Vorpommern e.V.

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