Gift gegen Exil-Journalistinnen

Als Jelena Kostjutschenko am Berliner Bahnhof Südkreuz aus dem Zug steigt, fühlt sie sich völlig orientierungslos. Den Weg zur nächsten U-Bahnstation hat die russische Exiljournalistin vergessen. Passanten und Passantinnen müssen helfen. Am Bahnsteig angekommen, kann sich die Reporterin nicht mehr erinnern, in welche Richtung sie fahren muss und bricht in Tränen aus. Nach dem Aussteigen gerät der sonst nur fünfminütige  Heimweg zur Strapaze. Immer wieder muss sie ihre Tasche abstellen, die ihr unfassbar schwer erscheint. Im Treppenhaus bekommt sie Atemnot. Die rätselhaften Beschwerden verschwinden auch nach Tagen und Wochen nicht. Ähnlich geht es zur gleichen Zeit der russischen Exiljournalistin Irina Bablojan in Georgien. Ursache der ominösen Leiden sind Giftanschläge des Kremls. Dies geht aus einer aktuellen Recherche der russischen Investigativseite The Insider hervor.

 „Die Anschläge markieren eine bisher beispiellose Eskalationsstufe: Es ist das erste Mal, dass der Kreml Gift gegen russische Exil-Medienschaffende im Ausland einsetzt“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Dies zeigt in erschütternder Drastik, wie weit der Kreml im Kampf gegen kritischen Journalismus mittlerweile zu gehen bereit ist. Deutsche Behörden, Sicherheitskräfte und Anlaufstellen für russische Journalistinnen und Journalisten im Exilsollten viel stärker für die Bedrohungslage dieser vulnerablen Gruppe sensibilisiert werden. Die Behörden müssen sich bei der Abwehr ausländischer Angriffe auf Exil-Journalisten besser koordinieren.“

Jelena Kostjutschenko arbeitete viele Jahre für die mittlerweile eingestellte Zeitung Nowaja Gaseta. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine reiste sie im Auftrag des Blattes in die Ukraine und berichtete über die ersten Wochen der Invasion. Vor einer Fahrt in das von russischen Truppen belagerte Mariupol erhielt sie Warnungen über gegen sie gerichtete Mordpläne. Auf Drängen ihres Chefredakteurs Dmitri Muratow verzichtete sie daraufhin auf die Weiterfahrt. Da die Reporterin aufgrund von Sicherheitsgründen nicht mehr nach Russland zurückkehren konnte, ging sie ins Exil nach Berlin.

Nach dem Aus für die Nowaja Gaseta wechselte Jelena Kostjutschenko im September 2022 zum unabhängigen Online-Medium Meduza. Dieses wollte sie auf eine Reportagereise in die Ukraine schicken. Um das dafür notwendige journalistische Visum zu beantragen, reiste die Journalistin im Oktober 2022 zum ukrainischen Konsulat in München. Vor der Rückfahrt nach Berlin traf sie sich mit einer Freundin zum Mittagessen im Außenbereich eines Münchner Restaurants. Währenddessen kamen zwei Mal Bekannte der Freundin – zwei Frauen und ein Mann – vorbei.  Während dieses Essens wurde sie mutmaßlich vergiftet.

Im Zug nach Berlin konnte sich Kostjutschenko, die zu diesem Zeitpunkt an einem Buch arbeitete, kaum konzentrieren. Sie fühlte sich schwach und litt unter starken Schweißausbrüchen, dessen Geruch ihrer Beschreibung nach an fauliges Obst erinnerte. Dazu kamen sich immer mehr verstärkende Kopfschmerzen.

Die Symptome verstärkten sich nach ihrer Ankunft in Berlin. Die Journalistin klagte über starke Bauchschmerzen. Gesicht, Finger und Füße schwollen stark an. Außerdem traten wiederkehrende Rötungen der Handflächen und Füße auf. Kostjutschenko vermutete zuerst Corona-Spätfolgen. Zehn Tage später suchte sie einen Arzt auf. Über einen Zeitraum von zwei Monaten folgten verschiedene Tests bei unterschiedlichen Ärzten. Am Ende stand die Vermutung einer Vergiftung.

Im Dezember 2022 wandte sie sich an die Berliner Polizei. Ermittlungen wurden aufgenommen. Nach so langer Zeit war es aber schwer, noch etwas nachzuweisen. Labortests brachten keine Ergebnisse. Das Verfahren wurden daher im Mai 2023 zunächst eingestellt. Im Juli 2023 nahm die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf. Derzeit wird geprüft, ob eine kriminologische Untersuchung von Gegenständen aus Kostjutschenskos Umfeld sinnvoll ist.

Jelena Kostjutschenko leidet noch immer unter den Folgen des Giftanschlags: Gegenwärtig kann sie nur drei Stunden am Tag konzentriert arbeiten. Für mehr fehlt die Kraft. Dienstreisen sind ausgeschlossen. Im Onlinemedium Meduza ruft sie russische Exil-Medienschaffende zu mehr Vorsicht im Ausland auf. „Wir sind und werden nicht in Sicherheit sein, solange sich in Russland nicht das politische Regime ändert.“

Der Anschlag auf Jelena Kostjutschenko ist nicht der einzige Angriff auf eine russische Exiljournalistin: In der georgischen Hauptstadt Tbilisse klagte die Moderatorin Irina Bablojan im Oktober 2022 – nur eine Woche nach der Vergiftung von Jelena Kostjutschenko – über ähnliche Beschwerden. Die Medienschaffende arbeitete beim kremlkritischen Radiosender Echo Moskwy bis zu dessen Schließung im Frühjahr 2022. Nach einer Zwischenstation in Georgien lebt sie mittlerweile im deutschen Exil.

Der Kreml schränkte die Pressefreiheit nach dem Großangriff auf die Ukraine mit einem Bündel drakonischer Zensurgesetze drastisch ein. Die verbliebenen unabhängigen Medien wurden geschlossen. Etwa Tausend Medienschaffende flohen ins Exil. In der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit belegt Russland Platz 164 von 180 Staaten. Mehr zur Situation für Journalistinnen und Journalisten vor Ort finden Sie unter https://www.reporter-ohne-grenzen.de/russland.

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