Obwohl bereits 1810 eine bayerische Kommission zur „zweckmäßigen Einrichtung der Wohltätigkeits-Anstalten“ eingerichtet wird, hinkt das Königreich Bayern der allgemeinen Entwicklung hinterher. Dabei ist die Vorgeschichte der „Kreis-Irren-Anstalt“ in Irsee durchaus mit modernen Großbauvorhaben zu vergleichen: das Projekt umstritten, das Kloster baufällig, die Pläne kostenintensiv. Über Jahrzehnte rangeln die bayerische Regierung und der „Kreis Schwaben-Neuburg“ – in etwa identisch mit dem heutigen Bezirk Schwaben – um Zuständigkeiten, Finanzierung und Möglichkeiten für die Versorgung von „Irren“, „Narren“, „Blöden“, „Tobsüchtigen“, „Schwermütigen“, „Geisteskranken“, „Epileptikern“ und Anderen.
Zentral ist u.a. die Frage, ob getrennte Heilanstalten für Akutkranke und Pflegeanstalten für chronisch Kranke oder verbundene Heil- und Pflegeanstalten für beide Gruppen geschaffen werden sollen. Letztlich fällt 1840 die Entscheidung zugunsten der verbundenen Form einer Heil- und Pflegeanstalt.
Nach Erlangen für Mittelfranken (1846) öffnet am 1. September 1849 die „Kreis-Irren-Anstalt“ in Irsee ihre Tore. Sie ist für ganz Schwaben zuständig. Wie aus der Satzung hervorgeht, ist „Der Zweck der Anstalt … Heilung und Verpflegung heilbarer und unheilbarer Geisteskranker beiderlei Geschlechts“. Und weiter heißt es: „Jede körperliche oder geistliche Mißhandlung der Kranken ist auf’s Strengste untersagt“. Zeitgleich mit der Eröffnung kommt man überein, den Namen des Dörfchens Irsee fortan nur noch mit einem R zu schreiben.
Dr. Friedrich Wilhelm Hagen (1814-1888) ist 35 Jahre alt, als er 1849 der erste Direktor der Irseer Anstalt wird. Aus einer evangelischen Pastorenfamilie stammend, ist er politisch interessiert und engagiert sich für die deutsche Einheit. Hagen bekommt ein Reisestipendium zum Besuch auswärtiger Irrenanstalten. Danach kann er ein halbes Jahr in der neuen Musteranstalt Illenau im Badischen arbeiten. 1846 erhält er eine Assistenzarztstelle in der neuen Anstalt in Erlangen. Als Gründungsdirektor Hagen die Kreis-Irrenanstalt in Irsee im September 1849 mit einem (!) Kranken eröffnet, ist vieles noch nicht fertiggestellt. Jetzt und in den nächsten Jahren gleicht das Kloster in Teilen einer Großbaustelle. Die aktuelle Kapazität der Anstalt liegt bei 80 Plätzen, die Belegung mit Patientinnen und Patienten erfolgt nach und nach. Durch Um- und Erweiterungsbauten steigert sich die Aufnahmefähigkeit der Anstalt auf maximal ca. 200 Patienten.
Die Unterbringung der Kranken erfolgt in unterschiedlichen Abteilungen des Gebäudes, die möglichst strikt voneinander getrennt sein sollen. Dies gilt nicht nur durchgehend für Frauen und Männer, sondern ebenso selbstverständlich für die drei Verpflegungsklassen: Patientinnen und Patienten der 1. Klasse beziehen ein separates Zimmer oder eine kleine Wohnung, während die aus der 3. Klasse mit Schlafsälen vorliebnehmen müssen. Aus therapeutischer Sicht – man möchte bei neu ankommenden, heilbaren Kranken einen negativen Eindruck vermeiden – wird darüber hinaus räumlich differenziert nach „ruhig“, „halbruhig“ und „unruhig“, „rein“ und „unrein“. Für Erregungszustände gibt es in einem externen Gebäude zusätzlich „Tobzellen“.
Der Theorie nach sollen für alle diese Gruppen getrennte Aufenthaltsräume und Bereiche im Klosterhof zur Verfügung stehen. Ein Anspruch, dem man nicht gerecht werden kann: Die baulichen Voraussetzungen sind trotz aller Verbesserungen ungünstig und die Einrichtung ist seit 1853 – wie die meisten Anstalten zu dieser Zeit – chronisch überbelegt. Immer wieder schimmert die Idee durch, ob Irsee nicht besser eine reine Pflegeanstalt werden solle.
Übertreibt der zweite Anstaltsdirektor in Irsee, Johann Michael Kiderle (1821-1890), wenn er 1868 die zugespitzte Lage eindrücklich schildert? „Die Anstalt hat nur überfüllte Säle. Sie leidet Mangel an Lokalen u. Vorkehrungen zur Beschäftigung der Kranken; sie hat weder einen allgemeinen Unterhaltungssaal, noch eine die nöthige Anzahl von Kranken fassende Kapelle; sie besitzt nicht die hinreichende Zahl von Einzelzimmern, noch die genügenden Abtheilungen von Gärten zur Erholung der Kranken. Die Anstalt hat kein Sprech-Zimmer, in welchem die Angehörigen der Patienten mit diesen zusammenkommen u. längere Zeit bei ihnen verweilen können. Sie kann weder dem I. Assistenz-Arzte die so dringend nöthige Familienwohnung bieten, noch dem II. Assist.-Arzte ein wohnliches Zimmer zur Disposition stellen. Kurz, es fehlen die Grundbedingungen einer auf der Höhe der Zeit stehenden Anstalt.“
Der Bedarf ist offensichtlich groß und so trifft der Kreis – entsprechend dem heutigen Bezirk Schwaben – noch 1868 die Entscheidung, in Kaufbeuren eine ganz neue Einrichtung zu bauen: die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Die Anstalt Irsee wird nun Nebenstelle von Kaufbeuren und soll zukünftig überwiegend Pflegefälle betreuen. Als das heutige Bezirkskrankenhaus in Kaufbeuren am 1. August 1876 eröffnet wird, werden von den 299 (!) Irseer Patientinnen und Patienten 151 nach Kaufbeuren verlegt.
In den folgenden Jahren verbessern sich die Irseer Gegebenheiten durch Anbauten, Renovierungen und Zukäufe von Außengelände erheblich. Technische Neuerungen sind ein Telefonanschlusses 1889, elektrische Beleuchtung 1910 und die Kanalisation 1916. In Ergänzung zur Anstaltsgärtnerei wird für die Selbstversorgung und die Arbeitstherapie 1924 das benachbarte Gut Bickenried angekauft. Danach beginnt 1933 die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft – und mit ihr ein ganz neues Kapitel der Anstalt Irsee, die 1972 aus Gründen der Baufälligkeit endgültig geschlossen wird. Doch das ist eine andere Geschichte …
Text: Dr. Magdalene Heuvelmann, Tradition hat Zukunft, Warendorf
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