Die bestehenden Fiskalregeln zum "Stabilitäts- und Wachstumspakt" standen lange aus verschiedenen Gründen in der Kritik: zu ambitionierte Abbaupfade, unrealistische und nicht zu beobachtende Zielgrößen, prozyklische Auswirkungen, vernachlässigte öffentliche Investitionen und unter dem Strich Erfolglosigkeit darin, Stabilität und Wachstum zu gewährleisten. Da die derzeit ausgesetzten Regeln ab 2024 wieder gelten sollen, hat die Kommission Ergebnisse aus einem zweijährigen Konsultationsprozess aufgegriffen und weitreichende Vorschläge zur Vereinfachung der Fiskalregeln gemacht. Zentrale Punkte sind:
Die Einführung einer Ausgabenregel: Künftig soll die Entwicklung der nationalen Netto-Primärausgaben (also die Staatsaugaben ohne Zinszahlungen, Zahlungen von Arbeitslosengeld und durch Steuererhöhungen gedeckte Mehrausgaben) als einziger Indikator genutzt werden, um die Einhaltung des Defizit- und Schuldenkriteriums zu bewerten.
Maastricht-Kriterien: Die Kommission rührt die Verträge zwar nicht an, daher bleiben 60 Prozent als Referenzwert für die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP offiziell bestehen. Konkrete Zeitrahmen zur Rückkehr zur 60-Prozent-Marke gibt es aber nicht. Vielmehr soll es darum gehen, auf einen sinkenden Pfad oder ein dauerhaft niedriges Niveau der Schuldenquote zu kommen. Die Defizitregel hingegen, nach der das jährliche Defizit drei Prozent des BIP nicht überschreiten darf, soll künftig wieder strikter eingehalten und Nicht-Einhaltung sanktioniert werden.
Nationale mittelfristige Haushaltsstrukturpläne: Bei einer Verschuldung oberhalb von 60 Prozent soll der Ausgabenpfad, den ein Mitgliedsland mit seinem Staatshaushalt verfolgen kann, künftig nach einer Analyse der Schuldentragfähigkeit von der Kommission vorgegeben werden. Demnach haben Staaten standardmäßig vier Jahre Zeit, um auf einen sinkenden Pfad der Schuldenquote zu kommen. Mitgliedsstaaten sollen nach der Festlegung des Pfades Pläne einreichen, in denen sie darlegen, mit welchen Maßnahmen dieser Pfad erreicht werden soll. Anschließend wird der Plan durch Kommission und Rat gebilligt und während des vorgegebenen Zeitraums jährlich die Einhaltung geprüft. Legen Mitgliedsstaaten Reform- und Investitionspläne vor, die das BIP glaubwürdig und ausreichend steigern, kann der Zeitraum des Plans um drei Jahre verlängert werden. Der Abbaupfad soll dabei vollständig die bisher geltende 1/20-Regel ersetzen, die besagt, dass Staaten jedes Jahr 1/20 des Anteils der Schuldenquote abbauen müssen, der über der 60-Prozent-Marke liegt. Diese strikte Vorgabe war stark kritisiert worden und erwies sich in der Praxis als absolut unrealistisch.
"In Summe sind die Vorschläge der Kommission ein großer Schritt in die richtige Richtung", schreiben die IMK-Experten Christoph Paetz, Dr. Andrew Watt, Hendrik Becker und PD Dr. Sebastian Watzka in ihrer Analyse. Es zeige sich eine spürbare Verlagerung, weg von einem "Fokus auf das kurzfristige Erreichen fiskalischer Zielmarken hin zu einer wachstumsfreundlicheren fiskalischen Ausrichtung". Die nationalen Pfade und Pläne erlaubten eine länderspezifische Herangehensweise sowie verschiedene Geschwindigkeiten bei der Konsolidierung. Das ist besonders wichtig, da pauschale und zu schnelle Ausgabenkürzungen negative Folgen auf das Wirtschaftswachstum haben, betonen die Forscher.
Positiv bewerten die Ökonomen auch die explizite Berücksichtigung von öffentlichen Investitionen im Kommissionsvorschlag. Die mögliche Verlängerung der Haushaltspläne auf sieben Jahre zeige, dass Mitgliedstaaten hier bald mehr Möglichkeiten haben könnten, den massiven öffentlichen Investitionsbedarf zu decken. In welchem Ausmaß Investitionen dann tatsächlich möglich sein werden, sei allerdings unklar. Denn der Vorschlag bleibe bei den weiteren Kriterien eher vage, er enthält keine "goldene Regel", die vorsieht, dass kreditfinanzierte öffentliche Netto-Investitionen grundsätzlich erlaubt sind. Unter anderem das IMK hatte eine derartige klare Regelung gefordert. Immerhin, so die Wissenschaftler, ließen Aussagen von EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hoffen, "dass über die vorgeschlagene Regel in den nationalen Plänen ähnlich viele Investitionen möglich sein werden."
Neben dem Schutz von öffentlichen Investitionen ist es für den Erfolg von Konsolidierungsprozessen zentral, dass die Ausgabenpfade keine zu rabiaten Kürzungen enthalten, die die Konjunktur im Land abwürgen. Dies unterstreichen Simulationsrechnungen mit dem weit verbreiteten makroökonomischen Modell NiGEM, in denen die Wissenschaftler untersucht haben, wie sich strengere oder weniger strenge Ausgabenpfade bis 2032 auf Wirtschaftsentwicklung und Schuldenstände im Euroraum auswirken. Die Effekte sind eindeutig: Mit allen untersuchten Pfaden lässt sich ein spürbarer und kontinuierlicher Rückgang von Schuldenquoten und Defiziten erreichen. Allerdings unterscheiden sich die genauen Wirkungszusammenhänge deutlich: Strengere Regeln führen zwar zu einer etwas schnelleren Konsolidierung, weil kurzfristig weniger ausgegeben wird. Sie wirken sich aber negativ auf die Ausgabenmöglichkeiten des Staates und das BIP aus, kosten also spürbar Wohlstand.
Der Umstieg auf eine Ausgabenregel verbessert somit laut der IMK-Analyse die Voraussetzungen für nachhaltige und erfolgreiche Konsolidierungsschritte bei gleichzeitig wachsendem Wohlstand, er ist aber kein Selbstläufer. Bei den weiteren Verhandlungen über den Vorschlag der EU-Kommission sollten alle Institutionen "im Blick behalten, dass ein Drängen auf zu schnelle Konsolidierung Wachstum und Stabilität im Euroraum wieder gefährden könnte", schreiben die Forscher. Zudem wäre es angesichts des großen Investitionsbedarfs in der EU wichtig, dass die künftig von der Kommission vorgegebenen nationalen Anpassungspfade geeignet seien, um die Weichen für öffentliche Investitionen in wichtigen Bereichen wie etwa dem Klimaschutz zu stellen.
*Hendrik Becker, Christoph Paetz, Andrew Watt, Sebastian Watzka: Reform der EU-Fiskalregeln: Kommissionsvorschlag erster Schritt in die richtige Richtung. IMK Kommentar Nr. 10, Januar 2023. Download: https://www.boeckler.de/…
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