Etwas anders gelagert ist die Sache in der ebenfalls von Steffen Mohr vorgelegten Kriminalerzählung „Ich morde heute zehn nach zwölf“, in dem ein junger Kaplan in große Bedrängnis kommt, weil er etwas erfährt, was er aber nicht verraten darf. Denn der Kirchenmann ist an das Beichtgeheimnis gebunden. Was soll er tun?
„Ein Schmetterling aus Surinam. Die Kindheit der Maria Sibylla Merian“ von Ingrid Möller ist ein im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichnetes Buch – und zwar mit dem Peter-Härtling-Preis der Stadt Weinheim.
In „Fast ein Jahrhundert. Das lange Leben der Alma M., geborene S. Eine Erzählung“ spürt ebenfalls Ingrid Möller den Umständen einer menschlichen Existenz im 20. Jahrhundert nach. Was war das für ein Leben? Nichts Besonderes, oder?
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Obwohl das heute präsentierte Buch bereits vor nunmehr knapp sechs Jahrzehnten erschienen war, ist zumindest eines der darin verhandelten Themen (leider) erstaunlich aktuell. Es geht um Nuklearwaffen, gemeinhin auch als Atombombe bekannt. Nicht auszudenken, wenn tatsächlich eine Militärmacht deren Einsatz ernsthaft in Erwägung zöge. Zudem erinnert die Handlung an die langfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Stichwort Munition. Ein drittes Thema dieses Buches ist die Ernährung der Weltbevölkerung. Laut Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) leiden aktuell rund 50 Millionen an Hungersnöten und noch immer sterben täglich 24 000 Menschen dieser Erde an Hunger.
Erstmals 1965 erschien im Verlag Das Neue Berlin der Zukunftsroman „Im Schatten der Tiefsee“ von Carlos Rasch: Professor Hardt leitet auf einem Forschungsschiff in der Ostsee eine Gruppe von Wissenschaftlern, die den Aufbau einer großen Algenfarm im Atlantik vor der afrikanischen Küste vorbereitet. Mit der Zucht von Algen soll das Welternährungsproblem in Afrika und Asien gelöst werden. Der angehende Meeresagronom Jochen Märzbach wendet sich gemeinsam mit der neuen Mitarbeiterin Anja gegen die einseitige Orientierung auf die warmen Meere in Afrika und schreibt seine Diplomarbeit über die meereswirtschaftliche Nutzung der Ostsee. Wie recht die beiden haben, wird sich bald erweisen. Der Standort der künftigen afrikanischen Meeresfarm ist als Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges stark radioaktiv verseucht und durch einen Seevulkan und ein dort versunkenes Atom-U-Boot extrem gefährdet.
Eine internationale Gruppe junger Wissenschaftler versucht mit großem Elan das nahezu Unmögliche: Höhere Ergebnisse in der Algenproduktion in einer Ostseefarm als im Atlantik. Aber auch hier holt sie die Vergangenheit ein.
Carlos Rasch verlegte seinen 1965 erschienenen Roman in die nahe Zukunft. In seinem noch bekannteren Science-Fiction-Buch „Magma am Himmel“ von 1975 weiten sich die Probleme in Afrika im 24. Jahrhundert so weit aus, dass die Existenz der Erde gefährdet ist. Als letzte Möglichkeit soll Jochen Märzbach mittels Zeitreise sein Wissen an die Menschen in der Zukunft weitergeben. Aber zurück an die Ostsee, wo es zumindest zu Beginn dieses spannenden Buches für einen Frühsommertag ungewöhnlich neblig ist:
„Der Bodden am Strelasund
- Kapitel
Die Tage zogen vorüber, voller Entdeckungen und dennoch ruhig. Hier war alles neu für Anja, noch unbekannt, und erst allmählich ergriff sie davon Besitz. Sie ließ sich Zeit, ging umher, zur Seebrücke, zum Strand, wanderte über die hohe Düne, die Straßen entlang, an denen Ferienheime und Sanatorien standen, und über die Wege hin zu den Wiesen hinter dem Wald.
Dabei feierte sie Wiedersehen mit Bildern aus der Kindheit, mit dem Auf und Ab der Wellen, mit dem schrillen Ruf der Möwen, die über Wasser und Strand strichen, mit dem fernen, brummenden Tuuut der großen Schiffe am Horizont – und mit dem bunten, lärmenden Strom der Menschen, die zufrieden und unbeschwert in ihrem Ferienglück über die Promenade am Strand und über die Parkwege fluteten.
Es waren für Anja die ersten freien Tage nach einer langen Zeit des Lernens und der Ausbildung. Endlich begann das Leben.
Jetzt stand sie am breiten Fenster ihres Zimmers, neun Stockwerke hoch über Meer und Land. Folgte sie mit den Augen dem weit geschwungenen Bogen der Strandlinie, dann sah sie mehrere solcher hohen Häuser aus dem breiten Saum des Küstenwaldes herausragen, einzeln und auch in Gruppen zu zweit oder zu dritt. Sie verrieten die Kurorte, die in letzter Zeit hier am großen Ostbodden gebaut worden waren und die den alten Seebädern die schlichte Modernität alles Neuen voraushatten.
Hohendünen war einer dieser neuen Badeorte an der Boddenküste.
Das Mädchen stand lange und schaute.
Von der See zogen Nebelschwaden, ungewöhnlich für diese frühsommerliche Zeit, auf das Land zu. Bald hatten sie Strand und Wald eingehüllt. Nur das Hochhaus ragte einem Eiland gleich aus dem grauweißen Brodem.
Aber auch die große Wanderdüne, der dieser Ort seinen Namen verdankte, und die am Tage weit von See aus zu sehen war, krümmte ihren Rücken grätig verweht aus der Nebeldecke.
Die Klimaanlage blies mit kaum hörbarem Summen frische, duftende Luft in den Raum. Anja öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. Ein nasskalter Hauch streifte ihr Gesicht.
Vergebens hatte Anja in diesen Tagen und besonders heute auf das Forschungsschiff des Algeninstituts gewartet, das hier zu Untersuchungen vor der Küste ankern und sie an Bord nehmen sollte. Sie versuchte, den Nebel mit den Blicken zu durchdringen. Vielleicht war das Schiff mit den grauen Schwaden gekommen und lag schon draußen auf der Reede. Querab schob sich das Brückendeck eines Küstenfrachters durch die Nebelbänke, und irgendwo huschte unsichtbar ein schnelles Fährboot mit scharfem Rauschen dahin, aber das Forschungsschiff war nirgends zu entdecken.
Wie mochte es aussehen?
Früher, als sie noch ein Kind war, hatte sie der Vater öfter zum Hafen mitgenommen, und sie hatte zuweilen ein Forschungsschiff am Kai vertäut liegen sehen. Es war kleiner als die Frachter gewesen, aber sauberer und weißer. Kaum einen Matrosen hatte man auf ihm gesehen, dafür aber Leute in Straßenkleidung.
Vom Wasser her drang in regelmäßigen Abständen ein lang gezogenes dumpfes Muuuuh herauf. Die Seekuh muhte. Schaurig klang dieser Warnruf der Heulboje. Fröstelnd zog Anja die Schultern hoch und schloss das Fenster.
Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie einmal auf dem Fischkutter mit hinausgenommen hatte. Es war ein ruhiger Sommertag mit blauem Himmel. Die See wurde von einer leichten Dünung bewegt.
Anja war froh. Nun brauchte sie nicht mehr nur sehnsüchtig über das krause Wellenfeld der See zu schauen und zu rätseln, ob fern im Dunst des Horizontes, wo Himmel und Wasser zusammenstießen, Land schwamm oder nur eine schmale Wolkenbank stand.
Das Kielwasser mit den schaumig-blasigen Rändern zog sich wie eine breite, glatte Straße weit hinter dem Kutter her. Sie hörte die Fahne im Wind knattern, sah zänkisch kreischende Möwenscharen über der Stelle des Wassers, wo Fische schwammen, und zählte den ruhigen Pulsschlag des Wasserstrahls, den die Lenzpumpe seitwärts aus dem Speigatt in das Meer spuckte. Anja sog tief die würzige Luft ein. Sie stand, als träume sie und lausche dem Meer.
Da kam der Vater aus dem Maschinenraum.
„Was machst du heute man bloß für ein seltsames Gesicht.“ Er sah sie lange von der Seite an, erstaunt und zugleich belustigt. „Ick möcht fast glöwen, dat du woll hüt Gebortstag häst“, sagte er wie zu sich selbst, unversehens platt sprechend. „Du strahlst ja duller als de Sunn un de Mond tosamen.“
Anja schien der Tag unendlich lang zu sein.
Der Kutter glitt langsam über die ruhige, glatte See.
Im Westen brannte ein Wolkenstreifen.
Hoch über dem Schiff färbten sich dünne Schleier rosa.
Dann war es dunkel.
Anja hüllte sich in die Jacke des Vaters, hockte sich auf eine Rolle Tau nieder und schlief ein …
Ein schaurig-dumpfes Heulen schreckte sie aus ihren Träumen. Entsetzt sprang das Mädchen auf. Das Boot strebte der Hafeneinfahrt zu. Eine Heulboje hatte es genarrt. Seitdem hatte Anja eine Abneigung gegen diese „Seekühe“.
Das war vor langer, langer Zeit …
Die Sommer, so stellte sie fest, waren seitdem heißer, trockener und länger geworden. Die See, an der sie aufgewachsen war, fehlte ihr während ihrer Studienjahre an der Hochschule im Binnenland sehr. Nun war sie ans Meer zurückgekehrt. Die Abschlussprüfungen lagen hinter ihr. Eine Periode praktischer Arbeit stand ihr bevor, in der sie Erfahrungen sammeln und sich auf einem wissenschaftlichen Spezialgebiet einarbeiten konnte. Sie hatte sich für die Algenzucht entschieden.
Das Institut schickte sie nach Hohendünen. Hier wurde nahe am Strand eine kleine Forschungsstation gebaut. Zunächst werde sie ein paar Wochen auf der „Katma 4“, dann einige Zeit in der neuen Forschungsstation arbeiten, und später, so hatte man ihr angedeutet, könne sie, wenn ihr eine solche Aufgabe zusage, vielleicht auch einmal auf der im Entstehen begriffenen Luandafarm vor der afrikanischen Küste eingesetzt werden.
O ja, das entsprach genau ihren Wünschen. Einmal auf eine Atlantikfarm oder sogar auf eine der weltberühmten Pazifikfarmen geschickt zu werden, davon träumte sie schon seit Langem. Einige asiatische Staaten hatten in den letzten Jahren zusammen mit europäischen Wissenschaftlern Algenfarmen eingerichtet, um in der Ernährung ihrer rasch anwachsenden Bevölkerung den immer empfindlicher werdenden Mangel an eiweißhaltigen Nahrungsmitteln zu beheben. Die Landwirtschaft allein vermochte diese Aufgabe nicht mehr zu lösen.
Und nun arbeiteten auch deutsche und afrikanische Wissenschaftler an dem gemeinsamen Projekt einer Meeresfarm vor der Westküste des schwarzen Kontinents. Anja war mit dem Farmprojekt schon sehr vertraut und hatte alles Verfügbare darüber gelesen. Sie hatte sich deshalb vorgenommen, auf der „Katma 4“ und auf der Dünenstation gut zu arbeiten, um vielleicht bald nach Luanda versetzt zu werden.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1980 erschien als Heft 206 der Blaulicht-Reihe des Verlages Das Neue Berlin die Kriminalerzählung „Ich morde heute zehn nach zwölf“ von Steffen Mohr: Der junge, fortschrittliche Kaplan Berger erfährt im Beichtstuhl von einem geplanten Mord und kann den gerade aus der Haft Entlassenen nicht von seinem Vorsatz abbringen. Was soll er tun? Er kann doch das Beichtgeheimnis nicht brechen. Da er Zeitpunkt und Ort kennt, begibt er sich an den künftigen Tatort. Aber es ist schon zu spät. Bei der Vernehmung durch die Kriminalpolizei schweigt er natürlich. Wie kann er nur den Täter seiner gerechten Strafe zuführen, ohne das Beichtgeheimnis zu verletzen? Gehen wir doch einfach in die Kirche, wo wir Herrn Berger treffen:
„Ich morde heute zehn nach zwölf
O Herr, lass mich durchhalten, dachte der für einen Kaplan vielleicht zu gut gewachsene und mit einem zu schönen Gesicht begabte junge Mann. Natürlich kam ihm sein Aussehen, die braunen Augen zum Beispiel und das, rotblonde an Tippy Honnigans Wuschelkrause erinnernde Haar, gerade in einer Großstadtgemeinde zugute. Wusste man doch, dass die Jugend von Popstars wie Honnigan und Konsorten schwärmte. O Herr, barmte er innerlich, aber auf seinen Gesichtszügen malte sich nichts weiter als unbeschwerte Freundlichkeit. Im Miniradio lief mit angemessener Lautstarke das Pokalspiel Erfurt gegen Jena, das Kaplan Berger langweilte.
Der große Zeiger der Sakristeiuhr klickte und zog langsam auf fünf. Flüchtig sah der junge Priester auf die Uhr, die über dem kleinen römischen Kreuz hing. Dann schaltete er das Radio aus, versteckte es in der untersten Lade des Paramentenschranks und streifte sich den glänzend schwarzen Talar über Pulli und Jeans.
Nun ähnelte Kaplan Berger doch einer geistlichen Person. Von der Krause abgesehen, glich er fast aufs Haar einer der milden Heiligengestalten auf den großen bunten Bildern des Fräulein Klepzig. Zu ihrem Ärger waren diese bonbonsüßen Darstellungen heiliger Männer und Frauen vor einem Dutzend Jahren aus der Kirche entfernt und durch, wie sie unentwegt mäkelte, „hässliche moderne Fratzen“ ersetzt worden. Seitdem lehnten sie nebeneinander an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand des Wäschebodens. Die gute Pfarrhaushälterin vergaß bei keiner großen Wäsche, auf ihrer Ausstellung Staub zu wischen.
Das alles wusste der Kaplan. Es interessierte ihn ebenso stark, wie ihn weibliche Wesen überhaupt interessierten. Lutz Berger hatte sich, eigentlich bereits ab seinem fünfzehnten Lebensjahr, den Idealen seines Berufes verschrieben. Dazu passte nun einmal keine Frau, war sie nun reizvoll und attraktiv oder eine alte Jungfer. O Herr, seufzte er noch einmal und schritt, als der große Zeiger auf eine Minute vor die Zwölf rückte, durch die niedrige Sakristeitür hinaus in die Kirche. Punkt fünf Uhr begann an jedem Sonnabend die Beichte.
Erwartungsgemäß fand Kaplan Berger das Gotteshaus leer. Durch die Scheiben des Seitenschiffs drang gedämpftes Licht. Das reichte im Sommer voll aus, um den Gläubigen, die bis sieben beichten kamen, das Lesen im Gebetbuch zu erleichtern. Den Kindern half es, die Krakelschrift auf ihren Sündenzetteln zu erkennen. Tiefere Dämmerung herrschte dagegen im Beichtstuhl.
In dessen mittleren Teil nahm Berger Platz und zog sogleich den violetten Vorhang hinter sich zu. Er schaltete ein schwaches Lämpchen ein. Das wollte er beim Eintreten eines Beichtkindes in den Seitenteil selbstverständlich wieder ausknipsen.
Der Kaplan mochte die Beichte nicht, weil er der Auffassung war, es sei richtiger, sich mit seinen Mitmenschen an einen Tisch zu setzen, um normal und bequem über alle Probleme zu reden. Freilich bestand diese Möglichkeit. Und wie oft hatte er junge Leute in seinem Zimmer unter dem Dach empfangen, damit er ihnen eine Last abnehmen oder gar einen Weg weisen konnte, Schwierigkeiten in der Lehre, zu Hause oder in der Schule zu klären! Leider gab es diese mittelalterliche, die sogenannte Ohrenbeichte noch, zu der man sich in eine „Holzkiste“ zwängen musste und das Beichtkind in die „Kiste“ nebenan kroch. Da kniete es nieder, während er, der Priester, saß, und wisperte einem das Register seiner Sünden durch ein Gitter in der Trennwand ins Ohr. Unnatürlich. Unnormal.
Was wollte man machen? Die Gläubigen selbst verlangten nach solcher Geheimniskrämerei. Lutz Berger verstand sie nicht.
Er hatte ein in braunes Leder gebundenes Buch vorgenommen, das hier immer lag, und sann über die Worte nach: „Wahrlich, Petrus, ich sage dir: Ehe der Hahn heute Nacht kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Es war reiner Zufall, dass der Kaplan gerade über diesen Text meditierte. Das rote Leseband hatte an der Stelle gelegen. Irgendwo oben, vielleicht im Himmel, verhallte der letzte Schlag der Kirchturmuhr.
Der junge Geistliche hörte trippelnde Schritte, die sich dem Beichtstuhl näherten. An der Art, wie diese Schritte mit Andacht auf dem steinernen Boden auftraten und doch jenen Krach veranstalteten, den mit Eisen benagelte Schuhe in einer leeren Halle hervorrufen, erkannte er die Haushälterin, Fräulein Klepzig.
„Heiliger Nepomuk“, schimpfte Berger leise. „Macht die Neugierde der alten Gans nicht mal vor der Beichte halt?“ Als er, den bloß der dünne, etwas durchsichtige Vorhang von der übrigen Kirche trennte, ihre Geschäftigkeit merkte, wie sie, keine fünf Meter von ihm entfernt, auf den Heiligen Staub zu wischen begann, riss er das violette Fähnchen zur Seite.
Die Klepzig stand auf einer niedrigen Leiter und sah mit einer Mischung von Furcht und Angriffslust sofort zu ihm hinüber. Das Staubtuch hielt sie wie einen Wurfgegenstand in der knochigen Hand. Dazu lächelte sie Berger mit der Verlegenheit eines Menschen an, der sich im Klaren darüber ist, das sein Äußeres einem im Dienst ergrauten Ackerpferd zum Verwechseln ähnlich sieht. Ihre großen weißen Zähne — sie besaß seit vierzehn Tagen ein neues, schlecht sitzendes Gebiss – blitzten gefährlich.
„Was wollen Sie hier?“, herrschte der Kaplan sie an, und seine Wut hatte, mit der sanften Schönheit seiner Gesichtszüge gepaart, etwas rührend Überirdisches.
„Sehen Sie doch, Hochwürden“, kam es knapp und nicht weniger energisch zurück.
„Haben Sie noch nie etwas vom Beichtgeheimnis gehört? Da, wo Sie herumfummeln, können Sie ja jedes Wort verstehen!“
„Ich fummele nicht, Hochwürden“, sagte das Fräulein sichtlich beleidigt. Und wie ein Maler rückte sie, ohne von der Leiter herabzusteigen, diese mit einer heftigen Bewegung ihres ausladenden Unterbaus etwa einen Meter fort. Dann wischte sie an den Bildern, den „Fratzen“ also, unbekümmert weiter. Mit einem Seufzer setzte sich der Kaplan auf sein Bänkchen zurück. Vorher schob er das Tuch zwischen sich und die Bosheit der Welt. Sein Erstaunen über das unglaubliche Benehmen mancher Leute sollte sich jedoch noch steigern.
Denn als erstes Beichtkind betrat etwa Viertel nach fünf ein siebzehnjähriges Mädchen, Heike Postlein, das dunkle Gehäuse. Er erkannte sie nicht nur an der Stimme; gleich zu Anfang gab sie offen zu verstehen, wer sie war.
Eine Liebesgeschichte, mein Gott. Und das Problem bestand darin, dass sie sich keinen Rat wusste gegenüber einem Jungen, in dem sie jetzt, nach dreijähriger unschuldiger Bekanntschaft als Mitschüler, den Mann entdeckt hatte. Sie fragte Berger, ob die Kirche inzwischen die Pille gestatte oder nicht.
Geduldig klärte Lutz Berger das Mädchen auf, dass der Papst alle Antibabymittel noch immer als Sünde betrachte. Anschließend informierte er sie, dass sie in den ersten Wochen, in denen sie die Babypille schlucken würde, keinen Verkehr haben sollte. Was ihn an der völlig normalen Geschichte aber beunruhigte, war, dass das Mädchen nicht zu ihm ins Pfarrhaus kam, wie es andere Jugendliche taten, sondern den anonymen Beichtstuhl bevorzugte. Gegen alle Regeln der Beichtform fragte der Kaplan sie danach.
„Hier“, flüsterte Heike Postlein (sicher errötete sie in diesem Moment), „ist es mir angenehmer, solche Sachen zu bereden. – Ich glaub’ dann“, sagte sie nach einem Schlucken, „nicht Sie sind es, mit dem ich rede, sondern Gott selbst, der über alles, was ich sonst niemandem eingestehen würde, schweigt wie – wie ein Grab!“
„Deine Sorgen“, sagte der Kaplan nach einigem Zögern, „erzählst du nach alter Kirchenauffassung ja auch nicht mir persönlich, sondern tatsächlich Gott. Ich bin nur Gottes Ohr. Schweigen, das weißt du, muss ich über alles,.was in der Beichte geredet wird. Selbst wenn mich jemand dafür umbringen wollte. Der Ort jedoch, Heike, an dem du mir beichtest, könnte auch – na, zum Beispiel die Plattform des Fernsehturms sein!“
„Ich weiß!“ Das Mädchen kicherte aus irgendeinem unverständlichem Grund. „Nur finde ich so einen Beichtstuhl wahnsinnig romantisch!“
Während er ihr die Lossprechung gab, überlegte der Kaplan, ob für manche jungen Leute der Sinn der Kirche nur noch in dieser seltsamen Romantik bestand.“
Ebenfalls Steffen Mohr ist der Autor von „Im Auftrag des Herrn. Spannende Rätselkrimis für aufgeweckte Christenmenschen“. Das E-Book erschien erstmals 2013: Wer hat die wertvolle historische Bibel gestohlen? Wer steckt hinter dem Einbruch im Pfarrhaus? Und wie kann die Explosion auf dem Weihnachtsmarkt in letzter Minute verhindert werden? 45 knifflige Kirchenkrimis gilt es aufzuklären. Der sympathische Kriminalkommissar Gustav Merks findet dank seiner guten Spürnase jeden Täter. Doch die Lösung wird nicht sofort verraten. Rätseln und kombinieren Sie mit! Der entscheidende Hinweis zur Lösung ist in jedem Fall versteckt. Bei genauem Lesen und mit etwas Logik finden Sie die Antwort. Falls es doch einmal zu schwierig wird, schauen Sie einfach im Lösungsteil nach. Dort wird jeder Täter enttarnt und der Lösungsweg kurz beschrieben. Ein herrlicher Rätselspaß für kleine und große Detektive. Doch bevor es ans Krimi-Rätseln geht, erwartet die Leserin und den Leser eine kleine Einführung in diese spezielle Form der Unterhaltung und ein hübscher Hinweis auf einen Gedanken eines der wichtigsten Kirchenväter, der zumindest ein wenig an die berühmten parteilosen Kommunisten erinnert. Und wir lernen noch eine ganz andere Seite von Kommissar Merks kennen:
„KLEINER VORSPRUCH
Nein, um Himmels willen nein! Kriminalkommissar Gustav Merks ist kein Father Brown. Wenn er (was keiner genau weiß) einer Kirche angehört, dann eher im Sinne des heiligen Augustinus. Der nämlich sagte einmal, es gäbe viele, die außerhalb der Kirche sind, aber doch in ihr.
Der Rätselkrimi (oder das Krimirätsel) ist ein uraltes Genre der Unterhaltung. Die alten Chinesen kannten es und die arabischen Beduinen in vorchristlicher Zeit. Solche Denkaufgaben, in hübsche Geschichten verpackt, animieren nämlich nicht nur unsere grauen Zellen. Sie bewegen, wenn sie gut erzählt sind, auch Zwerchfell und Herz. Das ist dann besonders der Fall, wenn der Held – Richter, Detektiv oder eben Kommissar – über die Ermittlungsmechanik hinaus ein bisschen Philosoph ist. Um so einen handelt es sich bei Gustav Merks.
In diesem Band finden sich Kurzkrimis, die etwas mit dem Lauf des christlichen Kirchenjahrs zu tun haben. Mögen die rätselhaften Fälle sowohl die Familie am Frühstückstisch, als auch alle erzähllaunigen Väter, Großväter, Mütter, Großmütter und Kinder zu fröhlichem Denkwettstreit verführen!
Halt mal! Wer sieht denn da gleich nach den Lösungen? Bitte erst gemeinsam (oder auch einsam) nachdenken. So macht’s mehr Spaß, liebe Löser.
PASSIONS- UND OSTERMYSTERIEN
Gefährlich ist der Frühling, denn im Garten schießt der Salat und die Bäume schlagen aus.
Volksmund
- LEICHE IM ABRISSHAUS
Das Zimmer, in dem der Ermordete zur Miete und später schwarz gewohnt hatte, befand sich in einem dem Abriss preisgegebenen Haus. Die Straße entlang und rundum in der Gegend waren die Häuser bereits renoviert. Nur diese Ruine stand noch da wie ein Mahnmal für die vergangene Zeit, in der die Leute anspruchsloser lebten. Übrigens war Edmund Holz, ein Penner, der letzte Bewohner des Hauses gewesen. Mit Edmunds Tod schien auch das Schicksal des Hauses endgültig beschlossen.
Februar war es, die Luft schneidend kalt. Trotzdem geriet der rundliche Kommissar mit der Knollennase beim Aufstieg zu Edmunds Dachbude ins Schwitzen. Sport müsste ich treiben, um abzunehmen, dachte er. Aber bitteschön – wann?
Der Mann war erstochen im Bett am Fenster aufgefunden worden, eben schafften die Träger die Leiche hinaus. Als die geläufigen Rituale der Spurensicherung absolviert waren, schickte Kommissar Merks die Techniker und den Fotografen weg. Der Leichenschauarzt war schon früher zum Mittagessen gegangen. Nun stand Merks allein in dem nach abgestandenem Zigarrenrauch und Bier riechenden Raum. Nachdenklich zupfte er sich an seiner prächtigen Knollennase.
Schwaches Sonnenlicht fiel durch die eine Ewigkeit lang ungeputzten Scheiben. Die Tatwaffe – der Stichwunde nach zu urteilen offenbar ein langes Küchenmesser – war nicht gefunden worden. Wahrscheinlich hatte der Täter sie mitgenommen und danach verschwinden lassen. Auch das Motiv der Tat musste zunächst im Dunkel bleiben, da beim Opfer weder Geld zu vermuten war, noch irgendwelche Details über seine Freunde oder Feinde bekannt waren.
Eine Affekthandlung im Suff vielleicht?, fragte sich Merks. Oder ein Verwandtschaftskonflikt, bei dem ein Erbe beseitigt wurde? Doch über Edmunds Verwandte wusste er bis jetzt so wenig wie über alle anderen Dinge.
Sicher war der Täter einer der Stadtstreicher gewesen, mit denen der Tote zu Lebzeiten ständig am Kiosk zu sehen war. Die waren es auch, die sein Verschwinden der Polizei gemeldet hatten. Merks hatte sie alle vernommen. Ohne Ergebnis. Der Kommissar sah sich im Zimmer um. Es handelte sich um eine Art Wohn- und Schlafküche. Außer dem ramponierten Küchenbuffet, Marke Eschenbach, der Spüle, dem dann und wann wild ratternden Kühlschrank, einem wackligen Tisch, zwei Stühlen und der Matratzengruft bot die Einrichtung keine Auffälligkeiten.
Doch! Im rosa Plastikrahmen stand ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto auf dem Büffet. Unpassend klein wirkte das auf dem rosa Karton. Es zeigte einen kniestrümpfigen Knaben mit der Erstkommunionkerze in der Hand. Auf eine Kartonecke hatte jemand – offenbar Edmund selbst – gekrakelt: „O seelik, o seelik, ein Kind noch zu sein …“
Lieber Gott, dachte Merks, jetzt hast du dein Kommunionkind ja wieder. Aber gleich schüttelte er den dicken Schädel mit der Halbglatze. Nicht zum Nachdenken über die Ewigkeit war er hier. Auf der Fensterbank standen zwei Töpfe mit Alpenveilchen aus Plastik.
Merks fuhr herum. Hinter ihm war plötzlich eine Person in die offen stehende Wohnung getreten. Ältere, robuste Frau, Trinkerin, wie man roch. Mit dumpfem Gesichtsausdruck blieb sie im Türrahmen stehen.
„Wer sind Sie und was suchen Sie hier?“
„Genau dasselbe könnte ich Sie fragen“, krächzte die Matrone.
„Wo ist Eddie?“
„Sie wollten Edmund Holz besuchen?“
„Wen sonst? Ich bin seine einzige Schwester und komme jeden Monat hier vorbei, die Bude sauber zu machen.“ Sie brannte sich eine Zigarette an, verschluckte sich gleich und hustete eine ungewöhnlich lange Zeit so kräftig, dass das Kommunionkind vom Büffet zu fallen drohte.
Vier Minuten später. Merks sagte: „Ihr Bruder ist tot. Ermordet.“
Sie war nicht sonderlich beeindruckt. „Das habe ich Eddie immer prophezeit. Einer deiner sauberen Kumpels bringt dich mal um.“
Auf einmal gab sich die Frau einen Ruck. Sie zog unter der Spüle Eimer und Lappen hervor. „Und jetzt will ich mal hier wieder Ordnung schaffen!“, entschied sie. „Sie verschwinden aus der Bude!“, befahl sie Merks, den sie offenbar für eine besser gekleidete Ausgabe der Kioskkumpels hielt.
Bevor sie jedoch zum Scheuerhader griff, entnahm sie dem Küchenbuffet eine kleine Gießkanne, füllte diese an der Spüle mit Leitungswasser und schritt auf die Blumen am Fenster zu.
„Halt!“, rief Merks mit fester Stimme. „Ich verhafte Sie wegen Mordverdachts!“ Warum verdächtigte der Kommissar die Frau?
Erstmals 1995 veröffentlichte Ingrid Möller bei Beltz & Gelberg Weinheim „Ein Schmetterling aus Surinam. Die Kindheit der Maria Sibylla Merian“. Dieses Buch wurde 1994 mit dem Peter-Härtling-Preis für Kinder- und Jugendliteratur der Stadt Weinheim ausgezeichnet und ist den drei Enkelinnen der Autorin gewidmet – Kerstin, Dörte und Anne Mareike. Und damit setzen wir zu einem größeren Zeitsprung von immerhin fast vier Jahrhunderten oder exakt 372 Jahren an: Frankfurt am Main 1651. Der dreißigjährige Krieg ist vorbei, die Menschen streben nach Zerstreuung und Wissen. So auch die kleine Maria Sibylla, Tochter des berühmten Kupferstechers Matthäus Merian. Ständig schaut sie dem Stiefvater beim Malen über die Schulter. Später richtet sie sich auf dem Dachboden eine heimliche Malerwerkstatt ein und beginnt, Raupen und Schmetterlinge zu sammeln, sie zu beobachten und abzuzeichnen. Von dem abfälligen Geraune der Leute über das „Teufelsgeziefer“ lässt sich das Mädchen nicht abschrecken. Maria Sibylla Merian wird die erste deutsche Insektenforscherin und eine bedeutende Künstlerin. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg und Maria Sibylla ein kleines Mädchen;
„Das Familienbild
Februar 1651
„So halt doch endlich den Kopf still!“
Ungehalten klingt es, fast frostig.
Maria Sibylla zuckt zusammen und starrt wieder hoch zur mittleren Kerze auf dem Messingleuchter, wie ihr großer Bruder Matthäus es ihr befohlen hat. Nicht mucksen darf sie sich, kein Wort sagen, sich nicht rühren. Denn Matthäus malt sie. Schon eine Woche geht das so. Tag für Tag.
Matthäus hat gute Gründe, ungehalten zu sein, denn eigentlich war dieses Familienbild der Merians längst fertig. Vor acht oder neun Jahren schon. Aber dann merkte der Vater, wie seine Kräfte nachließen, und äußerte den Wunsch, dass seine zweite Frau und vor allem sein Nesthäkchen Maria Sibylla einen Platz im Bild haben sollten. Matthäus hat es dem sterbenden Vater versprechen müssen. Und dieses Versprechen löst er jetzt ein, wenn auch widerwillig, denn es bedeutet, dass er den fertigen Bildaufbau zerstören muss. Wegen eines Kindes! Dabei findet er seine kleine Schwester noch nicht einmal hübsch.
Matthäus stöhnt. Heute will ihm die Arbeit überhaupt nicht von der Hand gehen. Seine Gedanken sind nicht bei der Sache. Und Kinder mag er überhaupt am wenigsten malen. Er ist ganz andere Modelle gewöhnt. Hohe Herrschaften. Grafen, Fürsten, sogar Könige. Sie schicken ihm ihre Staatskarossen – aus allen Teilen Europas. Von ihm, Matthäus Merian dem Jüngeren, wollen sie gemalt werden. So wie er sie darstellt, wollen sie der Nachwelt überliefert werden. Ja, er hat einen Namen in der vornehmen Welt, schon jetzt, mit knapp dreißig. Und seitdem der Vater nicht mehr lebt, ist er als ältester Sohn auch verantwortlich für das berühmte Verlagshaus, von dem Einzeldrucke und Bücher in alle Welt gehen. Besonders die vielen, vielen Stadtansichten haben den Namen Merian berühmt gemacht. Und nun diese Pflichtarbeit!
Er tritt einen Schritt zurück von der Staffelei und überblickt noch einmal die Figurenanordnung. Dabei kneift er die Augen zusammen, um das Bild nur im Groben zu sehen. Doch, so müsste es gehen: In der Mitte sitzt der Vater, gewichtig, mit weit ausholender Handbewegung. Er wendet sich ihm zu, seinem Ältesten. Neben ihm die Mutter, auch gewichtig, und dann Caspar, sein jüngerer Bruder. Er reicht einen Druckbogen herüber, womit gesagt wird, dass er vor allem als Kupferstecher wirkt. Dass die Schwestern Susanna Barbara und Margarethe im Hintergrund bleiben, ist in jeder Hinsicht richtig. Vaters zweite Frau wird er an den Bildrand setzen wie eine Magd, das entspricht ganz ihrer Rolle in der Familie. Rechts unten im Bild hat nun Maria Sibylla ihren Platz, aber sie verschwindet fast hinter dem großen Gipskopf des Laokoon.
Matthäus amüsiert sich im Stillen. Das mit dem Gipskopf war eine glänzende Idee. Der allbekannte Kopf aus der Antike zieht die Aufmerksamkeit auf sich und flößt dem Betrachter Respekt ein vor einer Familie, die so auf klassische Bildung hält. Andererseits ist links der Totenschädel nicht zu übersehen, so dass man ihm keinen Hochmut nachsagen kann. Denn jeder weiß, dass der Schädel an die Sterblichkeit aller gemahnen soll.
Maria Sibylla wird der Nacken steif. Wenn sie doch wenigstens das Kinn ein bisschen aufstützen dürfte auf eine Locke dieses kalten Riesenkopfes, den sie so gar nicht leiden mag. Sie kann nicht verstehen, warum sie ihre Arme darum legen muss wie um eine Lieblingspuppe.
„Billa, dein Ohr sitzt schon wieder einen Fingerbreit zu tief!“ Matthäus legt den spitzen Pinsel ab, geht zu ihr und dreht ihren Kopf unsanft zurecht. „So. Aber auch so lassen!“
Ob das noch lange dauert? Maria Sibylla wagt nicht zu fragen. Wie still es ist! Fast unheimlich. Und wie schwierig es doch ist, sich überhaupt nicht zu rühren. Caspar, der andere große Bruder, würde ihr das bestimmt nicht antun. Der würde ihr Pausen gönnen und etwas erzählen, damit die Zeit nicht so lang wird.
„Nicht“, tadelt Matthäus schon wieder. „Du darfst doch den Gips nicht zerkratzen!“
Der Arm ist an der Reihe. Wirkt er nicht zu kurz, das Ellbogengelenk nicht zu dick? Wieder blinzelt Matthäus, vergleicht, sieht hin und her zwischen Bild und Modell. Er seufzt. So bald wird er sich nicht wieder darauf einlassen, ein Kind zu malen! Alle Maßverhältnisse sind anders als bei Erwachsenen.
Eingeschüchtert sitzt Maria Sibylla da, den Blick starr auf den Deckenleuchter gerichtet. Nur die Angst vor Matthäus lässt sie noch ausharren.
„Herrje noch mal! Jetzt schielst du!“
Sie schluchzt leise und reißt die Augen weiter auf, den Tränen nahe.
Plötzlich hört sie etwas. Da! Rührt sich nicht etwas in der Ecke, wo der große Schrank steht? Sie horcht. Ja, es ist wie leises Flattern von Schmetterlingsflügeln. Immer deutlicher ist es zu hören. Da vergisst sie alle Furcht vor dem strengen großen Bruder und dreht sich um. Wirklich, auf dem Schubfach sitzt ein leuchtend gelber Falter.
Matthäus verliert die Beherrschung. „Billa! Was ist denn nun in dich gefahren?“
„Schaut doch – ein Sommervöglein!“, sagt sie aufgeregt. Matthäus wendet keinen Blick in die Richtung. „Unsinn!“ Er schüttelt den Kopf.
„Doch, es war eben da“, beharrt sie.
Matthäus holt tief Luft und schlägt einen herablassend belehrenden Ton an: „Das sagt doch schon der Name ‚Sommervöglein‘, dass es das im Winter gar nicht geben kann.“
Und doch war es da. Erwachsene sind manchmal seltsam. Immer wollen sie Recht behalten. Maria Sibylla sagt nichts mehr.
„Woher hast du überhaupt dieses Wort: ‚Sommervöglein‘?“, fängt nun Matthäus wieder an.
„Von Vater.“
Natürlich, von wem auch sonst! Der Vater hatte einen Narren an der Kleinen gefressen. Er sprach mit ihr, als ob sie groß und verständig wäre. Er setzte völlig übertriebene Hoffnungen in sie. Es war manchmal nicht mit anzuhören! Einmal ging er so weit zu sagen: „Ganz wird mein Name nicht untergehen, denn es gibt ja Maria Sibylla!“ Eine Beleidigung geradezu für die beiden Söhne! Noch jetzt kommt Matthäus bei diesem Gedanken die Galle hoch. Aber man hört ja manchmal, dass alte Leute so kindisch werden, dass sie sich zu Kindern mehr hingezogen fühlen als zu Erwachsenen.
Matthäus versucht, an anderes zu denken. Aber es ist wie verhext: Obgleich der Vater schon ein Dreivierteljahr tot ist, scheint er noch immer der Herr im Haus zu sein.
„Da“, ruft Maria Sibylla leise, „eben müsst Ihr es doch auch gesehen haben!“
Matthäus sieht sich nicht um. Verbissen strichelt er an ihrem türkisblauen Kleid herum, als hätte er nichts gehört.
Für Maria Sibylla aber gibt es nichts Wichtigeres als dieses Sommervöglein. Bestimmt fliegt es auf den Schrank, weil es denkt, dass die Blumen echt sind, die aus bunten Steinen ins Holz gesetzt sind! Woher mag es nur kommen? Eigentlich hat Matthäus schon Recht: Es passt nicht in den Winter.
In ihrer Erinnerung sieht sie die Mainwiesen vor sich, übersät mit bunten Blumen. Und darüber ebenso bunte Schmetterlinge. Keine Frage, dass die Falter aus abgelösten Blütenblättern entstanden sind. Zu gern hätte sie – wenigstens ein einziges Mal! – diesen Umwandlungsvorgang mit angesehen. Sie stand reglos in der Wiese und wartete, aber vergebens. Vielleicht geschah es nachts, ganz heimlich? Sie grübelt angestrengt weiter. Es muss eine gelb blühende Pflanze im Haus geben, aus der dieser Falter wurde …
„Kannst aufstehen! Genug für heute!“
Fast hätte sie die Aufforderung überhört. Dann aber springt sie auf, sieht sich um, geht langsam auf den Schrank zu. Kein Falter zu sehen!
Matthäus beobachtet sie kopfschüttelnd. Doch dann traut er seinen Augen fast nicht: In einer Nische rührt sich wirklich etwas Gelbes. Schon hat Maria Sibylla es entdeckt und ganz behutsam zwischen ihre hohlen Hände genommen. Sie läuft durchs ganze Haus damit, vorbei am Papierlager, an dem Raum mit den großen Druckerpressen. So eilig hat sie es, dass sie nicht hört, was die Drucker mit den pechschwarzen Händen ihr nachrufen. Zu Caspar will sie, in die Stecherwerkstatt. „Caspar“, ruft sie schon von weitem, „ratet, was ich habe!“
Caspar hält inne, legt den Stichel beiseite und nimmt die Lupe vom Auge. „Billa, du weißt doch …“
Natürlich weiß sie, dass sie ihn nicht stören und schon gar nicht erschrecken darf, dass ein Strich ganz leicht ausrutschen kann und dass dann die ganze teure Kupferplatte verdorben ist. Sie weiß, dass sie hier nur geduldet wird, wenn sie ganz still zuguckt.“
Erstmals fast zweieinhalb Jahrzehnte später, 2012, erschien in der edition NORDWINDPRESS Dalberg-Wendelstorf „Fast ein Jahrhundert. Das lange Leben der Alma M., geborene S. Eine Erzählung“ von Ingrid Möller: Am 15. Dezember Anno Domini 1902 wurde in Straßen bei Eldena dem Büdner Heinrich Schult und seiner Ehefrau Anna geborene Bergmann ein Mädchen geboren und getauft auf den Namen Alma.
Ein langes Leben – ja, aber kein besonderes – mag mancher sagen, der die Erzählung liest. Aber den Alltag zu bewältigen in diesem 20. Jahrhundert, das zwei Weltkriege, Inflation und Mangeljahre einschließt, verlangte den Menschen viel ab. Und so prägte sich ein Verhalten, das heute mitunter Stirnrunzeln auslösen mag, aber in der Generation in dem mecklenburgischen Landstrich nicht untypisch ist. Herkunft und Erziehung prägten Wertmaßstäbe, die erhalten blieben, auch außerhalb des Dorfes und der dortigen Familie. Und damit begeben wir uns nach Straßen. Nach Straßen? Wo liegt das denn?
„Fast ein Jahrhundert
Straßen ist ein kleines Dorf. So klein, dass es kaum in einem Lexikon zu finden ist. Es liegt im Südwesten Mecklenburgs, in der sogenannten Griesen Gegend, nahe Eldena.
Für Anna Schult aber ist es die Mitte der Welt, ihrer Welt. Hier, in der Büdnerei Bergmann, wurde sie am 3. Januar 1861 geboren, hat am 27. Januar 1888 den Eldenaer Landwirt Heinrich Schult geheiratet, der den kleinen Hof übernahm. Vor ihm war sie gewarnt worden, denn sein Vater Christian stand in einem denkbar schlechten Ruf. Zwei Ehefrauen – eine geborene Graf die erste, Rose die zweite, mit der er fünf Kinder hatte – hatte er vom Hof gejagt und dennoch eine dritte – geborene Möhring – gefunden. Doch den Spitznamen „De Düwel“ hatte er weg. Anna Bergmann aber befand, dass sich die Bosheit auf den Sohn nicht vererbt hatte. Kindersegen war ihr reichlich beschieden.
Jetzt, Mitte Dezember 1902, soll sie ihr neuntes Kind gebären. Mit nahezu zweiundvierzig Jahren.
Das erste war ein Junge und kam ungebeten, als sie noch jung und unverheiratet war. Schon lange hat sie ihn nicht mehr gesehen. Früh musste er aus dem Haus.
Mit siebenundzwanzig heiratete sie. Am 1. April 1888 kam ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt, Otto. Im Abstand von zwei Jahren gebar sie die übrigen: Ida, Minna, Wilhelm, Heinrich, Emma und Richard.
Und nun? Was dies wohl wird? Eigentlich schon peinlich, in ihrem Alter. Sie schreit nach der Hebamme, denn die Wehen haben eingesetzt.
Ja, ja. Sie kommt gleich. Dann geht es schnell. Das Kind ist winzig.
„Ne lütte Diern! (Ein kleines Mädchen)“, sagt die Hebamme. Aber ihre Stimme klingt irgendwie anders als sonst, während sie das Kind wäscht und ihm den Klaps auf den Po verpasst. Sie muss kräftiger zulangen, bis das Würmchen einen zaghaften Laut von sich gibt.
„Wies mi de Lütt! (Zeig mir die Kleine)“, sagt die Wöchnerin argwöhnisch.
Die Hebamme wickelt ein Leinentuch um den kleinen Leib und reicht das Neugeborene der Mutter.
Die seufzt. Wenn das Awmarachen man nicht umsonst war! „Kümmt de dörch? (Kommt sie durch)“
Die Hebamme zuckt die Schultern. „Berrer, se ward gliek döfft (Besser, sie wird gleich getauft).“
Man läuft, den Pastor zu holen. Der ist nicht erreichbar. Dann den Lehrer. Eine Bibel ist im Haus, eine Schüssel Wasser von der Pumpe auch. Es eilt.
„Woans sall se heiten (Wie soll sie heißen)?“
„Alma“.
Na dann! Die Formalitäten werden schriftlich festgehalten: Am 15. Dezember Anno domini 1902 wurde in Straßen bei Eldena dem Büdner Heinrich Schult und seiner Ehefrau Anna geborene Bergmann ein Mädchen geboren und getauft auf den Namen Alma. Die Einzelheiten – wie die sonstigen Vornamen – kann der Pastor dann später im Kirchenbuch eintragen.
Anna Schult atmet auf. Eine Heidin ist die Lütte nun nicht mehr, falls …
Aber allen Unkenrufen zum Trotz zeigt das schwache Kind einen starken Lebenswillen.
So hat es mit der offiziellen Taufe Zeit bis zum 5. Januar 1903. Sie erhält die zusätzlichen Namen Johanna und Marie.
Sobald Alma laufen kann, wuselt sie um die Mutter herum. Die reagiert genervt: „Gah mi vor de Fäut weg! (Geh mir vor den Füßen weg)“ Aber einmal kommt sie in der Küche doch nicht schnell genug weg und wird verbrüht. Ihr Leben lang wird sie überzeugt sein, dass sie deshalb so dünne Haare hat.
Dann läuft sie hinter den Geschwistern her, was ihr auch nicht immer gut bekommt. Am sichersten ist sie noch bei der Oma, an deren Schürzenzipfel sie sich nun hängt. Die Oma ist gäuding zu ihr, warnt sie aber ein bisschen zu viel vor den Gefahren des Lebens. Möchte Alma den Jungen nach in den Wald, heißt es: Dort gibt es Räuber und andere fremde Leute. Wenn die Jungen zur Elde baden gehen, heißt es „Bliew du man bi Oma’n, lat de Jungs man versupen! (Bleib du man bei Oma, lass die Jungs man ersaufen)“ Oder wenn sie auf Bäume klettern und Krähennester ausnehmen: „Lat de man dalplumpsen und sick dat Genick bräken! (Lass die man runterplumpsen und sich das Genick brechen)“ Alleinsein und Dunkelheit geht natürlich gar nicht, da spuken ja die Gespenster rum.
Als Alma vier ist, zieht die Familie um nach Eldena auf eine Bauernstelle. Nun sind sie keine Büdner mehr, sondern was viel besseres, nämlich Bauern. Stolz dürfen sie jetzt den ,,Buernweg“ (Bauernweg) benutzen. Allerdings verschulden sie sich hoch. Die Felder liegen weit auseinder, sind nur zeitraubend zu bewirtschaften. Gespart wird an allem. „Gaud Bodder“ (Gute Butter) kommt nicht auf den Tisch. Dafür Pökelspeckschwarte in Eintopf.
Alma schmeckt das so wenig wie ihren Geschwistern. Heimlich steckt sie Schwarten in ihre Schürzentasche oder wirft sie gleich unter den Tisch zu den Hunden, wenn die nicht vorher durch den Befehl „Hunn’n rut!“ (Hunde raus) rausgejagt worden sind. Für Gäste – wenn es denn mal welche gibt – hat die Mutter einen aufmunternden Spruch parat „ Esst, leiwe Gäst, schont de Wust und langt äwer den Bodder weg!“ (Esst, liebe Gast, schont die Wurst und langt über die Butter weg)
Holzpantoffeln – hölten Tüffel – müssen möglichst lange halten. Wenn es einigermaßen warm ist, heißt es „barst“ (barfuß) lopen.
Aber es gibt auch Feste. Weihnachten zum Beispiel. Da schlägt der Vater eine Fichte im Wald, stellt sie in der Stube auf, hängt Äpfel und steckt Kerzen dran. Und wenn die Glocke ertönt, dürfen die Kinder kommen. Alle fassen sich an und wandern um den Tannenbaum, wobei sie Weihnachtslieder singen. Dann dürfen sie ihre Geschenke auswickeln. Bei den Jungen ist es immer ein Pferdegespann, das der Vater geschnitzt hat. Bei den Mädchen eine Puppe mit Lehmkopf, festgenäht in einem Schuhkarton. Immer wieder zur Vorsicht ermahnt, dürfen die Kinder die Festtage über damit spielen, dann wird alles wieder eingesammelt, bis zum nächsten Jahr, wo sich die Zeremonie wiederholt.
Als Alma zur Schule kommt, kann sie ganz sicher kein Wort Hochdeutsch (denn das konnten die Kinder der nächsten Generation noch nicht einmal), aber sie kommt gut mit.“
Auch wenn es anfangs gar nicht so interessant oder gar besonders scheint, so ist dieses lange Leben der Alma M., geborene S. aller Ehren und des Erzählens und nicht zuletzt des Lesens wert. Und genau das sei auch als abschließende Empfehlung des Newsletters ausgesprochen.
Und noch eine Empfehlung, die das zweite heute hier angebotene zweite Buch von Ingrid Möller betrifft. Während sich „Ein Schmetterling aus Surinam“ mit der Kindheit der Maria Sibylla Merian befasst, steht in „Bei den Schmetterlingen in Surinam“ die letzte Reise der großen Künstlerin, Blumen- und Insektenmalerin im Mittelpunkt. Und es ist zugleich eine Antwort auf einige der Fragen, die viele Leserinnen und Leser nach der Lektüre ihres Kinderbuchs „Ein Schmetterling aus Surinam“ an Frau Möller gestellt hatten: „Immer wieder wurde ich seitdem gefragt: Und? Kam Maria Sibylla nach Surinam? Und wie mochte wohl die beschwerliche Reise nach Surinam verlaufen sein? Dieses zweite Merian-Buch ist die Antwort darauf. Dieses Buch, entstanden nach vielen Recherchen und Reisen, schildert das Geschehen so, wie es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit gewesen sein könnte. Am besten zusammen lesen – nacheinander.
Viel Vergnügen dabei, weiter einen schönen März – nächste Woche wird es auch ganz offiziell Frühling und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst. Und vielleicht begegnen Ihnen ja auch schon die ersten Schmetterlinge dieses Jahres, auch wenn die wohl nicht aus Surinam kommen …
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