Einsamkeit: nicht nur für Ältere ein Thema, im Gegenteil

Die Weihnachtszeit gilt als Zeit der Liebe und der Freude. Doch freuen sich bei weitem nicht alle auf die anstehenden Feiertage. Viele, gerade auch junge und jüngere Menschen, fürchten vielmehr die Einsamkeit, die sich dann verstärkt zeigt. „Einsamkeit zieht sich über alle Altersgruppen hinweg, breitet sich immer weiter aus – man könnte sagen: wie eine Pandemie“, stellt Dr. Georg Gappmayer, Ergotherapeut und Sozialwissenschaftler fest. Einsamkeit ist nicht das Problem Einzelner, es ist vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Thema. Zum einen fehlt es dadurch zunehmend an gesellschaftlichem Miteinander, Zusammenhalt und gegenseitigem Vertrauen, der Basis einer jeden Gemeinschaft. Zum anderen sind die wirtschaftlichen Auswirkungen nicht zu unterschätzen: Mittlerweile werden die Zusammenhänge zwischen anhaltender Einsamkeit und Erkrankungen mit kognitiven, kardiologischen und weiteren Problemen immer deutlicher. Der so bedingte Arbeits- und Leistungsausfall wirkt sich also ebenfalls auf alle aus. Gappmayer, der an der Fachhochschule Campus Wien lehrt, zeigt Lösungen und Wege auf, wie sich mit Einsamkeit umgehen lässt.

Das Thema „Einsamkeit“ ist derart brisant, dass zunächst Länder wie Großbritannien und später Japan ein sogenanntes Einsamkeitsministerium geschaffen haben. Auch Deutschland hat eine Strategie entwickelt: das Kompetenznetz Einsamkeit. „An erster Stelle geht es um die gesamtgesellschaftliche Gesundheit“, betont der Ergotherapeut und Sozialwissenschaftler Georg Gappmayer die Notwendigkeit solcher Initiativen. Was den wenigsten Betroffenen im Kontext von Einsamkeit bekannt ist: Statistisch sinkt die Lebenserwartung durch chronische Einsamkeit. Und: Einsamkeit bedeutet Stress mit den bekannten Auswirkungen auf das Immunsystem und die Gesundheit. Doch was sind die Ursachen für die sich ausbreitende Einsamkeit? Der Ergotherapeut Gappmayer führt Einsamkeit auf die Individualisierung und das damit verknüpfte Ideal zurück, jede und jeder könne grundsätzlich alles schaffen. Diese Art der Persönlichkeitsentfaltung ist jedoch meist auf das Ego fokussiert, entkoppelt von den Bedürfnissen der Gemeinschaft. Die eigene „Ich-AG“ geht auf Kosten der Gesellschaft und wird somit über die Entwicklung der Gemeinschaft gestellt. Der Ergotherapeut meint: „Es ist Zeit, dieses Phänomen aktiv anzugehen und wieder in eine in jeder Hinsicht gesunde Richtung zu bringen“.

Die Einsamkeit hinter sich lassen, Verbundenheit mit anderen finden

„Glücklicherweise“, so der Experte „bricht das Bedürfnis nach Gemeinschaft doch immer wieder durch, was aus anthropologischer Sicht verständlich ist: Das Ideal des Menschseins bedeutet, in einer Gruppe zu sein“. Wer es schafft, ehrlich mit sich selbst zu sein, erkennt, dass er sich einsam fühlt und sich mit seinem Erleben der Einsamkeit auseinandersetzt, hat schon viel gewonnen. Einsamkeit ist eine Wahrnehmung, die durch die Diskrepanz zwischen den erwünschten oder erwarteten und den tatsächlichen sozialen Kontakten entsteht. Das ist nicht zwangsläufig an die Menge sozialer Kontakte geknüpft, sondern hängt von der erlebten Qualität ab. Einsamkeit kann sich selbst bei Menschen, die in einer Partnerschaft oder einer Familie leben, einstellen, wenn die Verbundenheit fehlt, wenn ein Familienmitglied nicht richtig eingebettet ist und sich wie ein Außerirdischer, wie eine nicht zugehörige Person vorkommt. Dasselbe gilt für Gemeinschaften wie sie auf Social Media zu finden sind. Social Media ist inszeniert, lebt vom Schein des Perfektseins, obwohl es hinter den Kulissen meist völlig anders aussieht. Die Zahl der Follower und likes erzeugt zwar viele, aber qualitativ eher wertlose Kontakte – die wahre Verbundenheit fehlt. Was früher Religions- oder Glaubensgemeinschaften für die Verbundenheit einer Gesellschaft geleistet haben, bieten mittlerweile auch andere an. Gleichgesinnte Menschen mit ähnlichen Werten und Interessen, die nach Sinnhaftigkeit suchen, treffen sich heute zum Beispiel beim Yoga- oder in anderen Gruppen. Besonders populär sind solche, die sich mit fernöstlichen oder buddhistischen Philosophien beschäftigen, wo es darum geht, in sich hinein zu spüren, Vertrauen zu sich selbst und auch zu den anderen Teilnehmenden aufzubauen. Ähnliche Ziele haben Schweigeseminare oder Veranstaltungen wie zum Beispiel Waldbaden: zu sich selbst finden, sich mit sich selbst verbinden und die Chance, eine Verbundenheit mit anderen Teilnehmenden und der Welt an sich zu schaffen.

Ergotherapeut:innen unterstützen einsame Menschen, verschüttete Wünsche zu beleben

„In Großbritannien existiert social prescribing“, weiß der Ergotherapeut Gappmayer und wünscht sich diesen fortschrittlichen Ansatz auch für andere Länder: bei Einsamkeit soziale Aktivitäten auf Rezept. Erhalten Menschen, die etwas gegen ihre Einsamkeit unternehmen wollen, Vorschläge, welche passenden Projekte oder Ehrenämter oder sonstige Möglichkeiten der Nachbarschaftshilfe es gibt, fällt ihnen der erste Schritt zurück in eine Gemeinschaft meist leichter. Ähnliches gibt es in Deutschland bislang nur für Menschen, die bereits wegen ihrer psychischen Probleme, einer Störung oder Erkrankung in ergotherapeutischer Behandlung sind. Ergotherapeut:innen können dann Ansätze wie das von Georg Gappmayer und Kolleginnen entwickelte ZEPS Konzept: Zugehörigkeit erleben – Perspektiven schaffen anwenden. ZEPS betrachtet das Motivationslevel der betroffenen Personen als Maß der Dinge. Gappmayer erklärt: „Menschen mit einer psychischen Belastung empfinden es trotz ihrer Einsamkeit als herausfordernd, eine Änderung einzuleiten, wenn der Wunsch zur Veränderung, also die Motivation, noch nicht stabil ist“. Daher gilt es, ihnen mithilfe von ZEPS oder anderen ergotherapeutischen Interventionen als ersten Schritt Sicherheit zu vermitteln, ihnen ein „sich wohlfühlen“ bei einer gemeinsamen sozialen Aktivität zu ermöglichen und so im jeweils eigenen Tempo verschüttete Wünsche – etwa den zur Alltagsveränderung – an die Oberfläche zu holen. Eine Herangehensweise, die sich im übrigen generell bei Einsamkeit anwenden lässt.

Tipps vom Ergotherapeuten: Wege aus der Einsamkeit in die Verbundenheit

Wie jedoch die kommenden Weihnachtstage gut überstehen? Zu Weihnachten Suppe für Obdachlose auszugeben oder sich an anderen wohltätigen Aktionen zu beteiligen, ist sicher für einige, aber nicht für alle das Richtige. Der Ergotherapeut Gappmayer hat weitere Ideen: „Es ist völlig legitim, wenn Personen fragen, ob und wie Freund:innen und Bekannte Zeit und die Möglichkeit haben, sie an Weihnachten zu treffen“. Wichtig sei dabei klar zu machen, dass Wünsche verhandelbar sind oder auch, konkrete Vorschläge für einen der Festtage zu machen, vielleicht einen gemeinsamen Spaziergang anzubieten, zu Kaffee und Kuchen einzuladen oder sich abends auf ein Bier zu verabreden. Immer mit der Klarstellung, dass das eine Idee ist, und gerne der Vorschlag eben gemeinsam so verändert werden kann, sprich verhandelbar ist, dass es für alle passt. Klappt das alles nicht, gibt es immer noch die Option, der Einsamkeit aktiv zu begegnen. Am besten findet der Ergotherapeut ohnehin, sich auf seine Gefühle einzulassen. Der Grundgedanke, der aus der Psychotherapie und aus fernöstlichen Philiosophien kommt, ist, die unangenehmen Gefühle, die mit Einsamkeit einhergehen zuzulassen, zu fühlen, zu akzeptieren und wahrzunehmen, wie durch ein achtsames Wahrnehmen die belastenden Empfindungen allmählich nachlassen. „Dieses Prinzip der Transformation ist den meisten durch Trauerarbeit bekannt: zulassen, dass es weh tut und weinen, um den Schmerz zu lösen“, zieht der Ergotherapeut Gappmayer einen für viele nachvollziehbaren Vergleich. Ein weiterer Vorschlag ist, an den Weihnachtstagen entsprechende Arbeitsbücher zum Thema wie „Selbstmitgefühl“ von Kristin Neff durchzuarbeiten, sprich die Zeit damit zu verbringen, sich selbst ein Stück näher zu kommen. Wer für das neue Jahr realistische und umsetzbare Vorsätze fassen möchte, könnte seiner Einsamkeit etwas entgegensetzen und eine der vorgeschlagenen oder selbst erarbeiteten Optionen realisieren wie beispielsweise eine ehrenamtliche Aktivität. Ein Ehrenamt wird mehreren Aspekten gleichzeitig gerecht: Es findet (meist) in einer Gemeinschaft statt, lässt Austausch zu, sorgt dafür, beschäftigt zu sein, bedient das „Caring“, etwas für andere zu tun, ist erfüllend und ermöglicht bei allen eine positive Veränderung.

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