Die Auswirkungen nach einem Schlaganfall sind unterschiedlich und hängen unter anderem davon ab, in welchem Teil des Gehirns sich der Vorfall ereignet. Eine für alle – Betroffene, Angehörige und Behandelnde – besonders herausfordernde mögliche Folge eines Schlaganfalls ist der Neglect. Trotz funktionierender Sinnesorgane und Nervenbahnen ist das Gehirn nicht in der Lage, die Signale, die von der betroffenen Körperseite kommen, zu verarbeiten. Menschen mit durch Schlaganfall ausgelöstem Neglect nehmen diese Hälfte ihres Körpers nicht mehr wahr. „Die Orientierung am eigenen Körper ist einfach weg; ebenso die Orientierung im Raum“, schildert die Ergotherapeutin Tanja Benecke einen Zustand, den sich Außenstehende kaum vorstellen können. Die Krux: Menschen mit Neglect realisieren dies in den wenigsten Fällen selbst. Sie verstehen nicht, was die Außenwelt von ihnen will, warum Angehörige oder Behandelnde sie ständig korrigieren. Gleichzeitig wundern sie sich, warum sie beispielsweise immer wieder einseitig Gegenstände und Möbel rempeln oder beim Sitzen auf eine Seite kippen.
Neglect: Empathisches Vorgehen wichtig
Die mit dem Neglect einhergehende fehlende Krankheitseinsicht macht für Ergotherapeuten wie Tanja Benecke eine besonders einfühlsame Herangehensweise nötig. Als erstes ist es ihr wichtig, das Vertrauen dieser verunsicherten Patienten zu gewinnen. „Es ist nachvollziehbar, dass ihnen ihre Situation Angst macht. Das erzeugt oft Widerstand“, weiß die Ergotherapeutin und betont im selben Atemzug, dass sie und ihre Berufskollegen gerade bei Patienten mit Neglect besonders empathisch sind – auch, um solche inneren Widerstände zu lösen. Sie spüren, wenn Menschen mit Schlaganfall bei ihnen ‚angedockt‘ haben, achten dazu auf deren Körpersprache und Körperspannung. Sie merken, wenn sich diejenigen mit einem Neglect zu öffnen beginnen. Und gehen dann Schritt für Schritt behutsam in ihrer Intervention voran. Um die Wahrnehmung der betroffenen Körperhälfte quasi wieder in Gang zu setzen, wenden Ergotherapeuten Methoden wie beispielsweise Affolter, Bobath oder Perfetti an. Durch sensorischen Input wie festes Berühren oder Drücken der betroffenen Extremitäten bahnen sie etwa mithilfe der von Dr. Affolter entwickelten Systematik im Gehirn der Patienten mit Schlaganfall wieder die Fähigkeit an, Signale dieser Körperhälfte zu verarbeiten.
Ergotherapeutisches Vorgehen: Umwelt und Umfeld berücksichtigen
Um parallel das Geschehen immer mehr in die betroffene Raumhälfte zu lenken, gestalten Ergotherapeuten ab einem bestimmten Punkt des Prozesses die Umgebung entsprechend um. Dazu rücken sie Gegenstände, von denen ein Patient mit einem Neglect weiß, dass sie da sind wie beispielsweise das Trinkglas, auf die Seite, die derjenige im Moment nicht wahrnimmt. Und leiten ihn zum Erforschen dieser Seite an. Oder besprechen mit den Angehörigen, wie sie sich behutsam von der betroffenen Seite nähern. Was macht das mit dem Menschen mit Neglect? „Es ist ein Lernprozess“, erklärt Tanja Benecke. „Die Betroffenen stellen in diesem Zusammenhang etwa fest: Oh, da taucht ja meine Frau auf. Oder: Wenn ich mich umdrehe, ist plötzlich der Nachttisch da.“ Diese sukzessiv herbeigeführten Erkenntnisse stoßen das Lernen im Gehirn an. Man spricht hier von Neuroplastizität: Das Gehirn ist imstande, neue Strukturen zu bilden, neu zu lernen, sich zu reorganisieren und aufzubauen. Mit dem Wissen um solche hirnorganischen Prozesse erweitern und fördern Ergotherapeuten durch ihre speziellen Vorgehensweisen bei ihren Patienten mit Neglect die Möglichkeiten auf der physischen und in der Folge auf der psychischen Ebene.
Ergotherapeuten sorgen für Aha-Effekte, nutzen Hintertürchen
Gerade beim Neglect ist es wichtig, die Patienten konsequent in für sie zunehmend sicheres Terrain zu führen, ihnen immer wieder zu vermitteln, dass ihre Fähigkeiten trotz des Schlaganfalls vorhanden sind, jedoch wiederbelebt werden möchten. „Das funktioniert manchmal auch über Hintertürchen“, schmunzelt die Ergotherapeutin Benecke und erklärt anhand eines Beispiels wie sie das angeht. Sie berichtet von einem jüngeren Mann, von dem sie durch die Zusammenarbeit mit den Angehörigen wusste, dass er für sein Leben gerne Tischfußball spielt. Bislang hatte er im Krankenhausalltag seit dem Schlaganfall etwa beim Essen ausschließlich die gesunde Hand eingesetzt. Dass er am Kicker stehend plötzlich mit beiden Händen die Griffstangen umfasste, ist kein Wunder, sondern ebenfalls den Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu verdanken. Dazu die Expertin: „Wenn ich einem Menschen mit Neglect ein Angebot mache, das ihn reizt und lockt, kann er das nötige Können sozusagen aus einer anderen Region des Gehirns abrufen.“. Erlebt ein Schlaganfallpatient einen solchen Erfolg, spornt ihn das an, sich auch andere Dinge wieder zu erobern. Auch das für den Alltag nötige Können wie Zähne putzen, Brötchen schmieren und so weiter.
Gefühle und Angehörige beeinflussen Heilungsprozess bei Schlaganfall
Ein weiterer, für den Genesungsprozess bei Neglect wichtiger Aspekt, sind die Gefühle der Betroffenen. Und die werden nicht selten unbewusst von den Angehörigen, oftmals dem Partner, ausgelöst. In bester Absicht zu helfen, nehmen sie dem Ehemann wegen seines Schlaganfalls zu viel ab, schmieren das Brot, weil es ja schneller geht und das Resultat ästhetischer aussieht. Oder setzen die Ehefrau mit Neglect lieber in den Rollstuhl, damit der Einkauf unkomplizierter zu erledigen ist als an Gehhilfen. Manchmal wollen die Versorger auch die Versorgerrolle nicht mehr abgeben oder die Betroffenen wollen nach dem Schlaganfall lieber versorgt werden, als sich selbst anzustrengen. Die Ausprägungen sind vielfältig und individuell so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Ergotherapeuten fragen daher immer wieder wie es läuft – auch innerhalb der Familie und mit dem Partner. Gesprächsführung ist Bestandteil ihrer Ausbildung und so finden sie meist recht schnell heraus, wenn nicht verarbeitete Gefühle wie Wut oder Trauer den Genesungsprozess blockieren. Sie arbeiten mit demjenigen, der durch einen Schlaganfall lernen muss, mit seiner neuen Situation zurechtzukommen auch daran, wie er seine Gefühle zu- und loslassen kann.
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