Der Mythos von einer einheitlichen und frommen Reformation

Reinhard Bodenmann, Reformationshistoriker am Institut für Reformationsgeschichte der Universität Zürich, hat am 30. September im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Siebenten-Tags-Adventisten in Zürich zum Jubiläum „500 JAHRE REFORMATION“ gesprochen. Das Referat stand unter dem Titel „Der Mythos von einer einheitlichen und frommen Reformation“. Bodenmann wies auf die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Faktoren hin, die maßgeblich neben den religiösen Aspekten das Reformationsphänomen mit ausgelöst hätten und die Vorstellung einer vorwiegend „frommen“ Reformation erweiterten. Zudem sei die Reformation in ihrer religiösen als auch in ihrer politischen Komponente längst nicht einheitlich gewesen, sodass man besser von „Reformationen“ sprechen sollte.

Faktoren, welche die sogenannte „Reformation“ auslösten

Luthers 95 Thesen seien nicht so genial und neu gewesen, dass die Reformation und die Kirchenspaltung allein durch sie ausgelöst worden sei. Es wäre vielmehr die Kritik und das verbreitete Unbehagen, einschließlich eines Antiklerikalismus, an einer bereits bestehenden Religion gewesen, die den Menschen und seine Bedürfnisse zugunsten bestimmter religiöser Auffassungen vernachlässigt habe. So sei damals in der christlichen Welt alles käuflich gewesen: Die Taufzeremonie, die dem Kind die Möglichkeit zu einem ewigen Leben eröffnete; Gebete und Bitten für ein gutes Leben, die man von gottgeweihten Menschen, wie Mönchen und Priestern, vorbringen ließ; Messen, die nach dem Tod von Geistlichen gegen Bezahlung gelesen wurden; Ablassbriefe, die gekauft wurden um die Aufenthaltsdauer im Fegefeuern zu verkürzen.

Weitere Faktoren, die zur Auslösung der Reformation führten, waren laut Bodenmann gesellschaftliche Schichten, die durch die Kritik an der damaligen Religion eine Möglichkeit sahen, Macht, Einfluss und Reichtum zu mehren. Weltliche Behörden hatten genug vom Staat im Staat und wie das Geld der Untertanen die Kirche immer reicher machte, wobei das Geld der Kirche oft nach Rom übermittelt wurde. Fürsten und Landesherren sahen die Möglichkeit, sich die Kirchengüter anzueignen und damit ihre Kassen zu füllen. Die religiöse Komponente der Reformation sei nicht ohne die politische Rückendeckung möglich gewesen.

Keine einheitliche Reformation

Die reformatorischen Prinzipien wie „sola scriptura“ (allein die Heilige Schrift) oder „sola fide“ (Erlösung allein durch den Glauben) seien von den Reformatoren unterschiedlich verstanden und interpretiert worden. „Allein die Schrift“ hätten Zwingli und Calvin wortwörtlich verstanden, sodass die Kirche auf jede religiöse Praktik und Lehre, die nicht in der Schrift bezeugt ist, zu verzichten hätten. Deshalb mussten die Bilder, Skulpturen, Fenster mit Glasmalereien und manchmal auch die Orgeln aus den Kirchgebäuden weichen. Luther sei aber nicht bereit gewesen religiöse Lehrsätze oder Praktiken nur deshalb abzuschaffen, weil sie nicht in der Bibel aufzufinden waren. Zwingli und Calvin seien aber in ihrem wortwörtlichen Verständnis der Heiligen Schrift inkonsequent geblieben, so der Reformationshistoriker. Sie hätten anhand der Bibel allein weder die Dreieinigkeit beweisen können noch die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe oder des sonntäglichen Ruhetages. Es sei demnach falsch, zu behaupten, dass der größte Lehrunterschied in den Reformationsbewegungen im Abendmahlsverständnis bestehe, sagte Reinhard Bodenmann.

Die Reformation sei im 16. Jahrhundert entstanden, weil die Diskrepanzen zwischen der ausgeübten Religion mit deren Diskurs einerseits und den gesellschaftlichen Bedürfnissen, Ansprüchen und den neuerworbenen Erkenntnissen anderseits, zu groß und unerträglich wurden. Das Gleiche treffe auch heute zu.

„Die menschlichen Gesellschaften arbeiten eine zu ihnen passende Religion aus und nicht umgekehrt“, betonte der der Reformationshistoriker. Er fügte hinzu, dass es an der Zeit wäre mit Hilfe der im Christentum gesammelten Erfahrungen und der neu gewonnenen Erkenntnisse der Wissenschaft eine erneuerte Religion und Religiosität auszuarbeiten, „wenn wir nicht gedankenlos unser eigenes Ende heraufbeschwören wollen“.

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