Der Held – das Phänomen

Als mir der Begriff „Held“ im Crew-Resource-Management (CRM) das erste Mal begegnete, dachte ich zuerst: oh je, jetzt kommt wieder eine der üblichen ideologischen Machodiskussionen.
Ich habe mich geirrt!

Hätte sich die Forschung nicht ausführlich mit dem Phänomen des Helden beschäftigt, wären erfolgreiche Ergebnisse im CRM kaum möglich gewesen.

Heute lese ich oft, dass der Held ausgedient hat. Das stimmt aber nur in Grenzen. Helden wird es immer geben. Der Mensch will und braucht Helden. Es gibt kaum einen Bericht, in dem nicht versucht wird, bestimmte Leistungen – oder auch Fehler – einzelnen Personen zuzuordnen. Wir erleben das gerade im Bundestagswahlkampf.

Auch in Zeiten des CRM gibt es immer wieder „heldenhafte“ Taten. Chesley B. Sullenberger, der im Jahr 2009 einen Airbus A320 auf dem Hudson River in New York notwasserte, ohne dass ein einziger Mensch verletzt wurde, war sofort der „Held vom Hudson“. Im Jahr 1989 gelang es Flugkapitän Al Haynes mit spektakulären Manövern fast 200 Menschenleben zu retten. Ihr Tod galt als sicher. Er schaffte es, die DC 10 trotz Ausfall der kompletten Steuerhydraulik mit einer bewundernswerten Crewleistung bis zum Aufsetzen in einer stabilen Fluglage zu halten. Erst dann kam das Flugzeug außer Kontrolle, brach auseinander und geriet in Brand. Von den knapp 300 Personen an Bord überlebten zwei Drittel diese Katastrophe, auch dank des hervorragenden Einsatzes der Flughafenfeuerwehr. Bis heute ist es niemandem gelungen, dieses 30 Minuten dauernde Drama im Simulator so erfolgreich zu fliegen, wie die Crew um Flugkapitän Haynes. Spätestens 10 Meilen vor der Landebahn scheiterten selbst die besten Crews im Simulator. Auch in diesem Fall wurde in den Medien nur der Flugkapitän als Held herausgestellt.

Die beiden eben geschilderten Unfälle waren ein Musterbeispiel für sehr gut funktionierendes Crew-Resource-Management. Beide Male sind es aber keine Einzelleistungen der Flugkapitäne gewesen.
Die Käptens waren nur deshalb zu dieser außergewöhnlichen Führungsleistung fähig, weil das Team um sie herum perfekt funktionierte. Ihre eigentliche „Heldentat“ bestand darin, dieses Team von Anfang an ideal zu führen, sodass es seine volle Leistungsfähigkeit entfalten konnte. Im Falle der Hudson-Landung arbeiteten der erste Offizier Jeffrey B. Skiles und die Kabinenbesatzung in erstklassiger Weise mit dem Flugkapitän zusammen, denn die Notwasserung musste mit den Passagieren vorbereitet werden und die schnelle Evakuierung war lebensnotwendig.

So konnte jeder seine Aufgabe in den dafür festgelegten Verfahren erfolgreich meistern. Obwohl Copilot Skiles vergaß, ein Ventil an der Hilfsturbine zu schließen (die Checkliste war zu lang für die zur Verfügung stehende Zeit) und das Flugzeug deshalb sehr schnell voll Wasser lief, gelang es der Crew, alle Passagiere aus den hereinströmenden eisigen Fluten zu evakuieren.

Kapitän Sullenberger alleine wäre unmöglich in der Lage gewesen eine solche „Heldentat“ zu vollbringen. Trotzdem feierten die Medien und die meisten Menschen wieder nur ihn als den „Helden vom Hudson“.
Wesentlich dramatischer war die Situation im Cockpit bei Flugkapitän Haynes. Nur mit Hilfe des zufällig an Bord mitfliegenden DC-10-Fluglehrers Dennis E. Fitch gelang es der nun vierköpfigen Cockpit-Besatzung unter Leitung von Al Haynes, dieses 30-minütige Drama zu einem vergleichsweise glücklichen Ende zu führen. Weder vor diesem Unfall noch danach ist es bei einer derartigen technischen Fehlfunktion gelungen, auch nur einen einzigen Menschen lebend aus einer solchen Maschine herauszubekommen.

Auch hier war es die besondere Leistung des Flugkapitäns, die Cockpit-Crew zu einem perfekt funktionierenden Team zusammen zu schweißen. Und nicht nur das! Haynes integrierte während des Dramas den anderen Flugkapitän, der – wie oben erwähnt – als Passagier zufällig auf diesem Flugzeug mitflog. Das gelang ihm so perfekt, dass die Teamleistung dadurch noch einmal erheblich gesteigert werden konnte.
Auch in diesem Fall war die eigentliche „Heldentat“ des Flugkapitäns nicht die in der Öffentlichkeit gefeierte fliegerische Glanzleistung eines Einzelnen, sondern seine Fähigkeit, in einer extremen Stress-Situation eine brillante Teamarbeit herbeizuführen.

Warum klaffen Realität und öffentliche Darstellung von derartigen Ereignissen so weit auseinander? Warum gieren wir danach, nur einzelnen Menschen solche Leistungen zuzuschreiben?

In der Tat wurden große Meilensteine, auch in der Luftfahrt, von einzelnen Menschen unter höchsten Risiken „heldenhaft“ erreicht. Für das Fliegen mit Überschall-Geschwindigkeit und die Anfänge der Raumfahrt zeichnen solche Einzeltaten. Doch diese Helden sind ganz anders als die beiden Kapitäne, von denen ich eben berichtet habe. Aber auch sie entsprechen nicht immer unserem idealisierten Heldenbild vom heroischen Einzelkämpfer. Trotz ihrer leicht narzisstisch geprägten Alpha-Mensch-Eigenschaften waren sie durchaus teamfähig. Das passt eigentlich nicht in unsere Vorstellung. Doch funktionierte diese Teamfähigkeit nur unter ihresgleichen. Das passt schon besser. So konnte eine kleine Gruppe „verschworener“ Astronauten mit ihren Wünschen zur Gestaltung der Mercury-Raumkapsel, die NASA fast in den Wahnsinn treiben. Hier galt das Prinzip „Einer für alle – alle für einen“. Immer wenn die NASA anfing, Druck auf einen Astronauten auszuüben, drohten alle anderen, zusammen mit dem Betreffenden die Mission zu verlassen. So war die NASA häufig machtlos. Das hatte sicher gute Seiten, aber auch schlechte. Diese Auslegung des Teambegriffs ist im Crew-Resource-Management ausdrücklich NICHT gemeint!

Doch wie gelang es den Forschern, im CRM den „Helden der Lüfte“ zu zähmen?

Der idealisierte Held wird in der Öffentlichkeit doch immer wieder allzu gerne eingefordert. Die Umgebungsfaktoren stehen also nicht zum Besten. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb es außerhalb der Luftfahrt bis heute nicht gelungen ist, den unguten Heldentypus aus vielen Führungsetagen zu entfernen.

Alle am Crew-Resource-Management beteiligten Parteien, die wissenschaftliche Forschung, die Crews, die Luftfahrtunternehmen, die Luftfahrtbehörden und das Lehrpersonal ziehen an einem Strang. Auch das ist einer der wesentlichen Faktoren warum mit dem CRM die Wandlung des Helden gelang.

Der einsame Held wird also immer wieder gesucht. So kam die Forschung, während der Einführung des CRM Ende der 1980er-Jahre zu der Erkenntnis, dass der Held im Cockpit nicht „getötet“ werden darf. Tötet man den Helden, tötet man auch die Führungskraft. Man musste den Helden aus seiner Einsamkeit befreien und ihm eine veränderte Umgebung für seine Heldentaten schaffen. Die Forscher lenkten seinen Blick weg von den Einzelkämpfer-Leistungen, die ihn auszeichneten – auch in seinem Selbstbild – und fokussierten ihn auf das Team für seine Heldentaten. Er bekam eine neue Rolle. Seine größten Heldenleistungen bestehen im Crew-Resource-Management darin, das Team zu Höchstleistungen zu motivieren. Natürlich braucht ein Held auch Anerkennung. Die bekommt er auch: von seinem Team!

Die Crew signalisiert ihrem Kapitän sehr schnell, dass sie gerne unter seiner Leitung arbeitet. Doch nicht nur sie muss sich mit ihrem Kapitän wohlfühlen, sondern auch der Kapitän mit seiner Crew.
So dient die Kommunikation nicht nur dem rein fachlichen Austausch von Informationen, sondern hat auch großen Einfluss auf die Stimmung in der Crew. Das Element Kommunikation ist im CRM die „Mutter des Gelingens“. Sie hat eine zentrale Funktion im gesamten Crew-Resource-Management. Da alle Crew Mitglieder in diesem neuen Arbeits- und Führungsmodell geschult sind, wissen auch alle, wie wichtig nicht nur ihre eigene Aufgabe ist, sondern auch die ihres Teamführers. Umgekehrt ist es genauso. Der einzigartige Erfolg des CRM beruht also auch auf der Erkenntnis, dass es Hierarchien und Führungspersönlichkeiten braucht. Hier werden aus meiner Sicht bei vielen Veränderungsansätzen große Fehler gemacht!

Die Forschung setzt sich also sehr ausführlich mit dem Heldenbegriff auseinander, denn wer den „Helden der Lüfte“ verändern will, muss ihn zuerst einmal verstehen. Auch das übersieht man in vielen Unternehmen. Ich empfehle in diesem Zusammenhang das Buch „Helden der Nation“ von Tom Wolfe. Dieser Doku-Roman wird auch häufig in der CRM-Fachliteratur erwähnt. Die rasche Entwicklung der Nachkriegsluftfahrt und der Weltraumfahrt gab die perfekte Vorlage für die Typisierung eines klassischen Helden. Der Autor beschreibt hier den Helden nicht nur, sondern dringt tief in seine Gedankenwelt und Beweggründe vor. Wer dieses Buch aufmerksam liest, versteht, wie gefährlich das alte Heldenmuster in Führungspositionen werden kann. Der einsame Held, wie wir ihn gerne mögen, lebt nämlich in einer speziellen Risiko-Welt. In dieser Welt kommen eigene Fehler gar nicht vor! Anders kam der klassische Held nicht damit klar, dass seine Überlebenschance – wie seinerzeit in der Testfliegerei und der Weltraumfahrt – maximal 4:1 betrug. Es war eine Art Selbstschutzfunktion, die er in sein Gehirn einprogrammierte. Er schloss für sich einfach aus, dass er morgen sterben könnte.
Genau dieser Typ Held saß bis Ende der siebziger Jahre häufig in den Cockpits moderner Verkehrsflugzeuge. Die Wahrscheinlichkeit gemeinsam mit ihm auf einer Reise zu sterben lag um ein Vielfaches höher als heute. Auch der Niedergang ganzer Branchen und angesehener Unternehmen sowie der Tod vieler Patienten ist genau diesem alten Heldentypus geschuldet.

Es dauerte im Crew-Resource-Management etwa zehn Jahre, bis sich der neue Held in dem neuen Gerüst zurechtfand und sich so bewegen konnte, dass sein Ego nicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde.

Auch die Helden der damaligen Zeit waren nicht dumm. Sie gehörten zur gesellschaftlichen Elite: sehr gut ausgebildet und mit ausgeprägtem Durchsetzungsvermögen ausgestattet. Es war also sinnlos, sich ihnen einfach nur in den Weg zu stellen. Nicht jeder Mensch will und kann Führungskraft sein. Flugkapitän wird auch nicht jeder Pilot. Viele wollen gar nicht ungeschützt im Wind an erster Stelle stehen. Letztlich werden von Führungskräften oft Entscheidungen abverlangt, die erhebliche Tragweite haben. Das ist auch im Cockpit so. Dazu bedarf es besonderer Eigenschaften. Es ist nicht zielführend, in Veränderungsprozessen diese Eigenschaften grundsätzlich in Frage zu stellen oder zu zerstören. Die Kunst des Crew-Resource-Managements war und ist, dass der alte Held sich im neuen Helden wiederfindet und wohl fühlt. Das Ziel des neuen Helden ist der Teamerfolg und nicht die Einzelleistung. Ein guter Chef im Cockpit wird von seiner Crew geliebt, genauso wie ein guter Chef im Unternehmen von seinen Mitarbeitern geliebt wird. Dank des ständigen CRM-Trainings funktioniert eine Crew auch mit einem etwas anstrengenden Kapitän einigermaßen sicher. Doch nach dem Flug sagt sich die Crew: „Gut, dass wir den Tag erfolgreich beenden konnten. Hoffentlich fliegen wir nie wieder mit ihm.“ So etwas kommt auch in der Luftfahrt noch vor. Es wird aber immer seltener.

Das CRM bietet mit seiner über 30-jährigen Geschichte auch für Unternehmen und Kliniken die hervorragende Chance auf eine richtige und wohlwollende Veränderung der Führungs- und Arbeitskultur.
Der Chef darf darin ruhig der Held sein – ein Held, der mit seinem Team durch dick und dünn geht und umgekehrt.

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