Die meisten klinisch eingesetzten zielgerichteten Krebsmedikamente sind kleine Moleküle, die die Aktivität von wachstumsfördernden Proteinen hemmen. In den letzten Jahren wurden zahlreiche solcher krebstreibenden Proteine identifiziert. Von allen bekannten Krebstreibern bieten aber nur wenige geeignete Angriffspunkte für diese Wirkstoffe. Eine zentrale Herausforderung für die Krebsforschung ist daher die Suche nach neuen Wirkstoffgruppen. Eine ganz neue Klasse dieser Medikamente sind die sogenannten "molekularen Kleber". Sie induzieren Wechselwirkungen zwischen einem Protein und Komponenten des zellulären Systems, das nicht benötigte oder krebstreibende Zellbestandteile entsorgt. Das bekannteste Medikament dieser Art ist Lenalidomid, das in Deutschland für die Behandlung bestimmter Blutkrebsarten, darunter das multiple Myelom und das myelodysplastische Syndrom, zugelassen ist.
Forscher des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, des Broad Institute vom MIT und der Harvard Universität in Cambridge sowie dem Dana-Farber Cancer Institute in Boston haben nun einen weiteren Mechanismus eines Wirkstoffmoleküls aus der Gruppe der "molekularen Kleber" aufgedeckt. Das Protein, das hierbei mit dem Entsorgungsystem der Zelle verbunden wird, trägt den Namen BCL6. Das vermehrte Auftreten von BCL6 in einer Zelle begünstigt die Entwicklung einer bestimmten Form von Lymphdrüsenkrebs. Das macht BCL6 zu einem geeigneten Kandidaten für zielgerichtete Medikamente. Auf der Suche nach einem BCL6-Hemmer hat das pharmazeutische Unternehmen Boehringer Ingelheim ein kleines Molekül identifiziert, das an einen spezifischen Teil von BCL6 bindet und den Abbau von BCL6 induziert, sodass Lymphomzellen in Laborexperimenten absterben.
"Um herauszufinden, was mit BCL6 nach der Behandlung mit dem kleinen Wirkstoffmolekül geschieht, haben wir BCL6 durch eine Markierung sichtbar gemacht und beobachtet, wie das Protein unter dem Mikroskop innerhalb weniger Minuten abgebaut wurde und verschwand," erklärt Jonas Koeppel, einer der Erstautoren der Studie. "Diese Beobachtungen deuteten auf einen Arzneimittelmechanismus hin, der Wechselwirkungen mit BCL6 in der Zelle auslöst," ergänzt Mitautorin Lena Nitsch.
Eine entscheidende Entdeckung bei der Aufklärung des Mechanismus war die Tatsache, dass BCL6 bei der Behandlung mit der neuen Substanz lange Fasern bildete. Forschungsarbeiten unter der Leitung von Hojong Yoon, Doktorand an der Harvard Medical School und am Dana-Farber Cancer Institute, konnten die molekulare Struktur dieser Fasern mit einer elektronenmikroskopischen Technik entschlüsseln. Sie erkannten, dass der Wirkstoff an eine Art Rille auf dem BCL6-Molekül bindet und anschließend eine Wechselwirkung mit einem zweiten, benachbarten BCL6-Protein auslöst. Auf diese Weise "klebt" das neuartige Wirkstoffmolekül einzelne BCL6-Moleküle zusammen. Man spricht hierbei von einer Polymerisation.
"Dies ist die erste Studie, die zeigt, wie ein kleines Molekül krebsauslösende Proteine inaktivieren kann, indem es eine Polymerisation und die anschließende Entsorgung durch die Zelle induziert," sagt Mikołaj Słabicki, Erstautor der Studie. "Unser Ziel ist es, noch mehr solcher kleinen Moleküle zu identifizieren, die über einen ähnlichen Mechanismus arbeiten und krebstreibende Proteine unterschiedlicher Krebsarten vernichten können."
"Ich bin sehr stolz darauf, dass es jungen Wissenschaftlern unserer Abteilung – Mikołaj Słabicki, Jonas Koeppel und Lena Nitsch – gelungen ist, eine solch fundamentale Entdeckung zu machen, und ich freue mich, Teil dieser transatlantischen Zusammenarbeit zu sein," sagt Stefan Fröhling, Leiter der Abteilung Translationale Medizinische Onkologie am DKFZ, Geschäftsführender Direktor des NCT Heidelberg und Mitautor der Studie.
Die Studie wurde von Benjamin Ebert, Leiter der Abteilung für Medizinische Onkologie am Dana-Farber Cancer Institute und Träger des Meyenburg-Krebsforschungspreises 2019, sowie von Eric Fischer, Associate Professor für Biologische Chemie und Molekulare Pharmakologie an der Harvard Medical School, betreut.
Originalpublikation
Słabicki M*, Yoon H, Koeppel J*, Nitsch L, Burman SSR, Di Genua C, Donovan KA, Sperling AS, Hunkeler M, Tsai JM, Sharma R, Guirguis A, Zou C, Chudasama P, Gasser JA, Miller PG, Scholl C, Fröhling S, Nowak RP, Fischer ES, Ebert BL. (2020) Small molecule-induced polymerization triggers. degradation of BCL6. Nature, https://www.nature.com/…
*Gleichberechtigte Erstautorenschaft
Animation des Wirkmechanismus: https://youtu.be/bF87oA4RWZ4
Konzept und Copyright: Mikolaj Slabicki, Hojong Yoon, Jonas Koeppel, Animation: JumpStartVideo.net
Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.
Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD)
Das Universitätsklinikum Heidelberg ist eines der bedeutendsten medizinischen Zentren in Deutschland; die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg zählt zu den international renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen in Europa. Gemeinsames Ziel ist die Entwicklung innovativer Diagnostik und Therapien sowie ihre rasche Umsetzung für den Patienten. Klinikum und Fakultät beschäftigen rund 13.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und engagieren sich in Ausbildung und Qualifizierung. In mehr als 50 klinischen Fachabteilungen mit fast 2.000 Betten werden jährlich rund 80.000 Patienten voll- und teilstationär und mehr als 1.000.000-mal Patienten ambulant behandelt. Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Deutschen Krebshilfe hat das Universitätsklinikum Heidelberg das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg etabliert, das führende onkologische Spitzenzentrum in Deutschland. Das Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed) steht an der Spitze der medizinischen Ausbildungsgänge in Deutschland. Derzeit studieren ca. 3.700 angehende Ärztinnen und Ärzte in Heidelberg.
Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD), der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Deutschen Krebshilfe. Ziel des NCT ist es, vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung möglichst schnell in die Klinik zu übertragen und damit den Patienten zugutekommen zu lassen. Dies gilt sowohl für die Diagnose als auch die Behandlung, in der Nachsorge oder der Prävention. Die Tumorambulanz ist das Herzstück des NCT. Hier profitieren die Patienten von einem individuellen Therapieplan, den fachübergreifende Expertenrunden, die sogenannten Tumorboards, erstellen. Die Teilnahme an klinischen Studien eröffnet den Zugang zu innovativen Therapien. Das NCT ist somit eine richtungsweisende Plattform zur Übertragung neuer Forschungsergebnisse aus dem Labor in die Klinik. Das NCT kooperiert mit Selbsthilfegruppen und unterstützt diese in ihrer Arbeit. Seit 2015 hat das NCT Heidelberg in Dresden einen Partnerstandort. In Heidelberg wurde 2017 das Hopp-Kindertumorzentrum (KiTZ) gegründet. Die Kinderonkologen am KiTZ arbeiten in gemeinsamen Strukturen mit dem NCT Heidelberg zusammen.
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