"Der aktuelle Ärger über knappe Impfstoffe, überlastete Terminportale und kurzfristig nicht verimpfte Dosen ist nachvollziehbar und Fehler müssen natürlich aufgearbeitet werden. Aber das sollte den Blick nach vorne nicht verstellen", sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK. "Die Lieferungen nehmen Fahrt auf. Die Verfügbarkeit der Vakzine ist in wenigen Wochen kein Engpass mehr. Das zentrale Ziel, alle zu einer Impfung bereiten Erwachsenen möglichst schnell zu immunisieren, ist daher erreichbar. Dazu müssen Politik und Behörden jetzt alle Kräfte auf eine Beschleunigung des Impfprogramms konzentrieren, Haus- und Betriebsärzte möglichst rasch eingebunden und lokale Erfahrungen mit erfolgreichen Organisationskonzepten, von denen es etliche gibt, breit genutzt werden."
Dullien und sein IMK-Forscherkollege Dr. Andrew Watt stützen ihre Berechnungen auf die aktuellen Statistiken der Bundesregierung, die angeben, wann wie viele der bestellten Impfdosen gegen das Coronavirus zur Verfügung stehen sollen, auf Umfragen zur Impfbereitschaft, die Angaben von Ärzteverbänden zu den Kapazitäten in niedergelassenen Praxen sowie Erfahrungen mit den jährlichen Grippeschutzimpfungen.
Auf dieser Basis ergibt sich folgende Projektion: Angekündigt sind bis Ende Juli knapp 137 Millionen Dosen der Vakzine von Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca sowie Johnson & Johnson, das soeben in der EU zugelassen wurde und nur einmal injiziert werden muss. Damit könnten rein rechnerisch 77,6 Millionen Erwachsene vollständig immunisiert werden. Jüngsten Umfragen zufolge liegt die Impfbereitschaft bei etwa 75 Prozent der Erwachsenen, was 52,5 Millionen Personen entspricht. Legt man diese Zahl über den Regierungs-Fahrplan zu den Vakzin-Lieferungen, könnten theoretisch sogar bis Ende Juni alle Impfwilligen vollständig immunisiert werden.
Diese Daten machen nach Analyse von Dullien und Watt deutlich, dass ab Anfang des zweiten Quartals nicht mehr die Verfügbarkeit der Impfstoffe, sondern die Kapazitäten der Impfeinrichtungen das Immunisierungstempo primär bestimmen werden. Um den Bedarf abzuschätzen, berechnen die Wissenschaftler einen "Impfpfad", der verfolgt werden muss, um das Ziel 31. Juli zu erreichen (siehe auch die Abbildung in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Aktuell werden an starken Tagen bundesweit rund 200.000 Menschen geimpft – eine Verdopplung innerhalb der vergangenen Wochen. Bis Anfang April müsste die Zahl der täglichen Impfungen auf durchschnittlich 275.000 steigen. Das ginge wahrscheinlich mit den bestehenden Impfzentren, die beim bisherigen Impftempo nur zum Teil ausgelastet sind. Ab April wäre dann ein großer Sprung nötig, um mit den verfügbaren Vakzinmengen Schritt zu halten und auf dem Impfpfad zu bleiben: Die Zahl der täglichen Impfungen müsste auf durchschnittlich gut 670.000 steigen und sogar Höchstwerte von 800.000 erreichen, um den normalerweise geringeren Betrieb am Wochenende auszugleichen.
Diese Beschleunigung sei zwar ambitioniert, aber nicht illusorisch, konstatieren Dullien und Watt. Zentrale Voraussetzung dafür sei, dass die Hausärzte bis dahin flächendeckend gegen Corona impfen können und große Unternehmen ihre Betriebsärzte in die Impfkampagne einbeziehen. Damit kämen ausreichend große Kapazitäten ins Spiel, um die Aufgabe zu meistern, rechnen die Ökonomen vor: So könnten nach Einschätzung des Hausärzteverbandes allein in den niedergelassenen Praxen im Wochendurchschnitt relativ problemlos 2,5 Millionen Patienten immunisiert werden. Und in der relativ kurzen Saison der Grippeschutzimpfungen erhalten jedes Jahr 15 bis 20 Millionen Menschen eine schützende Spritze. In Israel wurde über Wochen ein noch deutlich höherer Anteil der Bevölkerung täglich vakziniert als in Deutschland zum Erreichen des Ziels nötig ist.
Natürlich müsste das System der Anmeldung zur Impfung deutlich verbessert werden, analysieren die Forscher. Aber auch das sei machbar, zumal die Terminvergabe flexibler gehandhabt werden könne, nachdem die höheren Risikogruppen in der Bevölkerung bis Ende April durchgeimpft seien. Sehr wichtig sei dabei, dass bei Impfangeboten in Unternehmen kein Druck entstehe, das Angebot auch anzunehmen. Sich impfen zu lassen oder nicht, müsse immer eine freiwillige Entscheidung sein. "Jeder Impfzwang erhöht die Gefahr, dass die öffentliche Akzeptanz der so wichtigen Impfkampagne beschädigt wird", schreiben Dullien und Watt.
Die beiden Ökonomen betonen aber auch, dass "erst nach einer breiten Immunisierung der Bevölkerung die Bürger und Bürgerinnen Deutschlands und der EU ihre gewohnten Freiheiten wieder erlangen und auch die Wirtschaftsaktivität ihr Vorkrisenniveau wieder erreichen kann." Um weitere Wellen der Pandemie zu verhindern, liege es außerdem im ureigensten Interesse der Europäer, auch die rasche Immunisierung in anderen Weltgegenden zu unterstützen.
Sebastian Dullien, Andrew Watt: Yes, we can! Covid19-Durchimpfung der Bevölkerung in Deutschland bis Juli 2021 möglich. Eine Projektion. IMK-Policy-Brief Nr. 102, März 2021. Download: https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_pb_102_2021.pdf
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