Hervorragende Bedingungen
Wenn von Ende Mai bis Mitte Juli die Seehunde ihren Nachwuchs bekommen, herrscht Hochkonjunktur an Niedersachsens Stränden. Allein 2020 kamen 2.621 Jungtiere im Wattenmeergebiet zur Welt, Tendenz steigend. Denn die natürlichen Bedingungen im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer sind hervorragend. Gezeigt hat dies der Geburtenrekord Anfang des Jahres bei den Kegelrobben. Bei Zählflügen ließen sich 372 Neugeborene Tiere zählen. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es lediglich 40. Und bei der Vielzahl an Geburten kann es schon mal dazu kommen, dass eines der Seehund- oder Kegelrobbenbabys mit Urlaubern schwimmen geht oder am Badestrand landet.
„Nur gucken, nicht anfassen“
Beheimatet im UNESCO-Weltnaturerbe vor Borkums Nordstrand, auf der „Seehundsbank“, und bei Hooge Hörn am östlichen Ende der Insel, können Borkumer und Gäste bis zu 200 dieser Tiere und Kegelrobben beobachten. Getreu dem Motto „Nur gucken, nicht anfassen“ ist das Betreten der schutzbedürftigen Sandbank aber strengstens verboten. Da diese in den letzten Jahren jedoch so nah an die bewohnte Insel herangespült wurde, sind die Säugetiere auch weiterhin vom Strand aus beliebte Fotomotive – und die Jungen neigen dazu sich an eben diese zu verirren. Besorgte Gäste entdecken die kleinen Tiere, die schon bei der Geburt zwischen sieben und zehn Kilogramm schwer sind, und schlagen in Norddeich oder der Polizei Alarm.
Nicht jeder kleine Seehund ist ein Heuler
Dann kommen die ehrenamtlichen Wattenjagdaufseher Jonny Böhm und Christian Fink ins Spiel, die Meldung von den Institutionen erhalten. „Die Borkumer melden sich meistens direkt bei uns. Man kennt sich ja hier“, schmunzelt Jonny Böhm. Mal allein, ab und zu gemeinsam, fahren Fink und Böhm mit ihren Offroad-Fahrzeugen den Strand ab und machen sich auf die Suche nach dem gemeldeten Seehundbaby – so auch an diesem Nachmittag. Das Ziel ist der Umkreis der Notrufsäule Nummer 132. Die speziell geschulten und ausgebildeten Borkumer Jäger, kümmern sich um kranke, verletzte oder in Not geratene Seehunde oder verlassene Kegelrobbenbabys. So wie in diesem Fall. Der Heuler liegt vereinsamt an den unendlichen Weiten des Borkumer Strandes, in der Nähe von Hooge Hörn, seiner möglichen Heimat. Urlauber haben ihn gesichtet und die lauten Rufe vernommen, durch die die Jungtiere zu ihrem Namen gekommen sind. Da es bei Notfällen, zu denen auch tierische zählen, aufgrund des 26 Kilometer langen und mehrere hundert Meter breiten Sandstrandes nahezu unmöglich ist die genau Stelle zu verorten, sind durch private Initiative ungefähr alle 500 Meter Notfall-Orientierungs-System-Säulen (NOS) aufgestellt. „Das macht das Auffinden der kleineren Tiere weitaus einfacher“, ergänzt Christian Fink. Auf diesen Säulen haben die beiden Hinweise zum Verhalten bei Fund eines Tieres sowie wichtige Telefonnummern, wie zum Beispiel der Seehundstation in Norddeich vermerkt. Was gilt es beim Fund eines Tieres zu beachten? „Nicht alle kleinen Seehunde sind auch gleich Heuler. Normalerweise legt die Mutter das Jungtier am Strand ab und geht auf Futtersuche – das kann bis zu sechs Stunden dauern. Fälschlicherweise wird ein einsames Jungtier dann als verlassen erachtet oder als Heuler gesehen. Beim Fund eines Seehundes ist es aber immer wichtig so viel Abstand wie möglich zu halten, empfohlen werden 300 Meter. Das Tier bitte nicht anfassen oder bewachen. Sollten junge Tiere Menschengeruch annehmen, werden sie v on der Mutter verstoßen“, erklärt Fink. „So wie wir es jetzt wahrscheinlich in diesem Fall haben. „Das Junge wirkt sehr erschöpft und gibt diese heulenden Laute. Es scheint zwar nicht verletzt zu sein, aber wir müssen hier auf Nummer sicher gehen,“ ergänzt Jonny Böhm. Für den Fall der Fälle haben die beiden Wattenjagdaufseher stets ein bis zwei Körbe auf der Ladefläche des Pick-Ups. In einem solchen Bastkorb werden die Tiere zur nächsten Fähre gefahren und in Emden dann von Mitarbeitern der Seehundstation Norddeich in Empfang genommen. Dort werden sie wieder aufgepäppelt, auf das Leben in der Wildnis vorbereitet und nach ungefähr sechs Wochen in die Freiheit entlassen. Auch bei der Auswilderung sind Christian Fink und Jonny Böhm häufig mit dabei. „Es ist doch schön zu sehen, was mit den einstigen Jungtieren passiert ist, die wir retten konnten. Das ist eine tolle Bestätigung für unsere Arbeit“, freut sich Böhm. „Aber erstmal müssen wir diesen Kollegen verschiffen, der 14.00 Uhr Kata maran fährt gleich.“
Seehunde gehören zu den größten Raubtieren Deutschlands und werden bis zu 1,70 Meter groß sowie je nach Geschlecht 150 Kilogramm schwer. Die Jungtiere haben nach einer elfmonatigen Tragezeit bereits bei ihrer Geburt bis zu zehn Kilogramm Gewicht und sind voll schwimmfähig. Schon nach fünf Wochen werden die Jungtiere von ihrer Mutter allein gelassen. Da sie sehr schnell an Gewicht, vor allem Fettmasse zunehmen, wachsen sie zügig, was den Transport und das Tragen für die beiden Seehundsretter oftmals mühsam macht. In Freiheit liegt ihre Lebenserwartung zwischen 20 und 35 Jahren.
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