Das höchst schwierige Schicksal eines Jungen, der nach seinem Vater auch noch seine Mutter verliert, steht im Mittelpunkt von „Bert, der Einzelgänger“ von Brigitte Birnbaum. Gibt es dennoch wenigstens etwas Hoffnung für Bert?
Unter dem Titel „Tamba und seine Tiere. Nach alten Quellen neu erzählt“ bringt uns Dietmar Beetz bezaubernde afrikanische Märchen näher.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal greift ein Stück Literatur weit zurück in die Geschichte, mitten hinein in den Zweiten Weltkrieg und in die Kämpfe zwischen Deutschland und der Sowjetunion, die weit in die ganz persönlichen Lebensumstände vieler Menschen eingriffen. Und doch gab es selbst in diesen schwierigen, hasserfüllten Zeiten Liebe, in diesem Fall eine Liebe zwischen einer sowjetischen Fliegerin und einem früheren faschistischen deutschen Soldaten – ein ebenso ungewöhnlicher wie aufschlussreicher Blick auf ein kompliziertes Stück deutsch-sowjetischer Geschichte.
Erstmals 1981 veröffentlichte Max Walter Schulz im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig seine Novelle „Die Fliegerin oder Aufhebung einer stummen Legende“: Ljuba ist tot. Dass Hellriegel es durch Gitta, seine geschiedene Frau, erfährt, hat Ljuba selbst so gewollt. Und auch, dass er nach Moskau zu ihrem Begräbnis kommt, wo er Andrej, ihrem und seinem Sohn, begegnen wird. Drei Jahrzehnte sind vergangen. Doch was im Jahr 1944 an der bjelorussischen Front mit Hellriegel und Ljuba geschah, rückt plötzlich wieder sehr nah. Ein Tag, fast schon Legende, kettete sie auf Tod und Leben aneinander, zwang sie gemeinsam zum Widerstand, erzwang ihre Kraft, Trennendes zu überwinden. „Mich interessiert die Möglichkeit des Menschseins mitten im Hass“, sagt Max Walter Schulz. In seiner neuen Novelle gestaltet er die ungewöhnliche Liebe zwischen einer sowjetischen Fliegerin und einem einstigen faschistischen Soldaten, der sein Vaterland verliert und sich selber gewinnt. Welcher Anstrengung bedarf es für Gitta, die Bedeutung jenes einzigen fernen Tages im Leben Hellriegels zu verstehen, und welch langen Weges bedarf es für ihn, sich ganz zu befreien? Hier der Beginn der Novelle, als Hellriegel eine sehr traurige Nachricht erfährt:
„I. Der Esel schrie zur Sonne in der Nacht
Heute nun, in der Nacht zum 20. Januar, im zehnten Jahr nach seiner unglückseligen Erzählung, hat das Schicksal einen wirklichen, endgültigen Schlusspunkt gesetzt hinter die alte, wirre, reichlich unpassende Geschichte. Hellriegel wird heute davon erfahren wie aus dem Jenseits. Er wird das Frühstücken vergessen und schmerzhafter unberaten sein denn je zuvor.
Die Fahrt geht zu Tal. Von den Baggern auf den Terrassen des Tagebaus über weite Schleifen hinunter zur Sohle. Er hat vierzehn Waggons Abraum, vierzehn mal fünfundzwanzig Tonnen Last hinter der E-Lok. Was ist das schon. Für ihn ist es das Alltägliche, seit zehn Jahren das Alltägliche. Auf der Sohle wird gekippt, der Graben verfüllt. Das machen andere. Für ihn geht’s nach dem Kippen im Schub wieder hoch, dann vorspännig wieder runter. Nichts Langweiliges. Auf der Maschine ist man sein eigner Herr. Fahrer, Abschmierer, Streckenfuchs. Freie Findigkeit schafft kurze Weile. Mal fährst du Abraum, mal fährst du Kohle. Abraum zur Sohle oder zur Kippe. Kohle zum Kraftwerk oder zur Brikettfabrik. Wie die Dispatcherzentrale will. Du bist dem Hauptdispatcher unterstellt, und der Hauptdispatcher ist dir unterstellt. In der Kampfgruppe ist der Hauptdispatcher mir unterstellt. Ausgewogene Verhältnisse. Darauf kommt schließlich alles an. Hellriegel sagt, seine Arbeit mache ihm Spaß. Selten, dass ihm ein Waggon ausgleist. Schon Kunst, wie er abgesacktes oder schlingerndes Gleis befährt. An Medaillen fehlt’s dem Manne nicht.
Heute fährt er also Abraum in der Frühschicht. Es ist gleich halb neun. Nach dem Kippen wird er frühstücken. Der Januarmorgen, grau und träge, befällt die aufgerissene Erde wie Mehltau. Im harschen Schnee höhlen rußige Lunker. feuchtkalte Luft und die Abgase von der Schwelerei schlieren gegen die Frontscheiben. Die Scheibenwischer laufen. Es riecht nach Schwefel und Mühsal. Benno Hellriegel wird heute nicht zum Frühstücken kommen. Heute nicht. Das kann er jetzt, kurz vor halb neun, noch nicht wissen. Jetzt fährt er mit dreihundertfünfzig Tonnen Achslast zu Tal und denkt sich etwas aus gegen die Mühsal des trüben Tages. Himbeergesträuch wird wieder rascheln, Eidechsen werden wieder besonnte Kiesel umtanzen. Denken hilft, wenn einem der Spaß vergehen will. Denken und sich gut stehen mit der Natur.
Am unteren Stellwerk steht das Lichtsignal auf Halt. Hellriegel flucht. Tränt der Stellwerker? Der Zug, der vor ihm kippte, hat ihn schon aufwärts passiert. Signal ist Signal. Den Bremsdruck erhöhen. Gefühlvoll. Nicht alle Bremsbacken fassen gleichmäßig. Eisen schleift nun schrill auf Eisen. Die Klangringe auf den Achsen schlagen hell und hart dazwischen. Der Zug puffert, stottert. Nicht ganz zu vermeiden. Ein Mann verlässt das Stellwerk, geht ans Gleis, verharrt dort. Ein Mann im dunklen Mantel, Koppel übergeschnallt, Pelzkappe, Stiefel. Wird einer vom Betriebsschutz sein, der mitgenommen werden will. Der Zug kommt zum Stehen. Der Einstieg zur Maschine befindet sich genau auf der Höhe des wartenden Betriebsschutzmannes. Hellriegel schiebt das Rollfenster hoch: „Was ist? Hast du Erbsen im Schuh?“ – „Ein dringendes Telegramm von weither“, antwortet der Mann. Die Poststelle in Großgähren, beziehungsweise eine Frau Hebelaut, habe es telefonisch sofort nach Empfang ans Kombinat weitergeleitet. Sie meine, der Inhalt pressiere. Auch betrieblicherseits meine man, dass der Inhalt pressiere. Die Kombinatsleitung böte Unterstützung an. In Form von sofortigem Urlaub, bezahltem oder unbezahltem, sowie bei der Erledigung der Formalitäten. Hellriegel hat sich aus der Fahrerlaube gebeugt und nimmt einen verschlossenen Umschlag mit Werk-Aufdruck entgegen. Es verschließt ihm vollendes den Mund, als er sieht, wie der außerordentlich bevollmächtigte Bote zwei Finger an die Kappe legt, militärisch kehrtmacht und ins Stellwerk zurückstapft. Im Aufrichten sieht er Max, den Stellwerker, oben am Stellwerksfenster stehen, die Szene betrachtend mit gelassener Anteilnahme. Wie der Stellwerker Hellriegels verwirrtem Blick begegnet, zieht er sich sofort vom Fenster zurück. Dem Boten wird er seinen Leib- und Magenspruch verpassen: So ist das Leben! Ein Unglück aufs andere. Kauf dir ein Reitschwein… Hellriegel ist bewusst, dass er eine Unglücksbotschaft in den Händen hält. Die Kollegen bezeigten deutlich scheuen Respekt. Allgemein nur noch bei tödlichen Unfällen zu bemerken. Es kann nur Gitta betreffen. Es kommt von weither. Gitta, seine geschiedene Gitta, ist der einzige Mensch in weiter Ferne… Gitta ist tödlich verunglückt… Vor vier Jahren ging sie in die SU, nach Moskau, als Auslandskorrespondentin beim Rundfunk. Ihr Traum… Im März wären die vier Jahre umgewesen. Da wäre sie zurückgekommen. Sie hatte schon die neue Stellung in Berlin… Vorigen Sommer war sie plötzlich in Großgähren aufgetaucht, einfach mal zu Besuch, zu einem Kaffeeklatsch. Das einzige Mal seit der Scheidung. Einen andern hätte sie immer noch nicht gefunden. Freunde halt. Dann und wann auch mal einen zum Schlafen. Aber alles Nitschewo mit Liebe und so. Ganz aufgeräumt, ganz lustig und heiter war sie gewesen. Fast schon unmenschlich lustig und heiter… Einen kupfernen Topf hatte sie ihm mitgebracht, einen alten, bäurischen, vom offenen Feuer gezeichneten… Hatte Tee gemacht, in der Küche, auf Gas, der musste draußen im Garten getrunken werden. Auf dem Gartentisch der kupferne Topf mit den Feuermalen. Und der Gartentisch musste dorthin, wo der Fingerhut steht. Der stand noch vergangenen Sommer. Der ging ihr bis zur Brust… Dann hat sie fotografieren wollen. Unbedingt. Stillleben: Tisch mit Geschiedenem, mit Topf und blauem, blauem Fingerhut… Wenn nichts Unmenschliches an ihr war, etwas Unheimliches ist an ihr gewesen… Sie versprach Abzüge zu schicken. Nichts ist gekommen. Das ist gekommen. Das. Als letztes. Von ihrer Dienststelle wahrscheinlich… Sie hatte weiter keine Angehörigen… Angehörigen… Angehörigen…
Der Streckenwärter sieht, dass der Kollege in der Fahrerkabine nicht die Kraft hat, den Briefumschlag zu öffnen. Da muss man etwas tun. Da schaltet der Streckenwärter die Strecke frei. Das Leben geht weiter. Der Dreck muss weg. Reiß dich zusammen, Kumpel! Fahr los! Der Kumpel fährt nicht los. Der Kumpel bricht den Briefumschlag auf und liest das Telegramm. Da schaltet man eben noch mal auf Halt. Noch mal kurz. Man wird sehen, wie er’s aufnimmt.
Hellriegel nimmt folgenden Text nun in sein Bewusstsein auf: Heute Nacht verstarb Ljuba. Nach Lungenoperation. Ihr Bruder, General Kondratjew, bittet dich, an der Beerdigung teilzunehmen. Freitag, 24. Januar, 14.50 Ortszeit. Friedhof Nowo Alexandrowskoje. Bitte zur Teilnahme ergeht auf ausdrücklichen Wunsch der Verstorbenen. Ljuba stand auch mir nahe.
Erwarte dich Donnerstag, 25., mit Interflug, Flug Nr. 600 am Flughafen Scheremetjewo. Hotelzimmer für dich bestellt. Gitta.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1997 erschien in der Ravensburger Junge Reihe im Ravensburger Druckverlag „Ich bin der King“ von Günter Saalmann: Rex, hochbegabter Spross eines nun arbeitslosen DDR-Ingenieurs und einer Spitzensportlerin, gerät in den Strudel der Nach-Wendezeit. Er nutzt seine überlegene Intelligenz dazu, für die zu erwartende räuberische Gesellschaft zu „trainieren“, indem er eine Gruppe jüngerer „Loser“ um sich schart und ihr Räuberhauptmann wird. Was harmlos beginnt, wird bald lebensgefährlich. Das Ganze erzählt in einer Rahmenhandlung, die vom Leser nicht so schnell durchschaut wird.
Im folgenden Ausschnitt erfahren wir etwas mehr von Rex, dem „King“:
„Das Garagendach
war der Lieblingsplatz meiner Kinderzeit. Ich stieg einfach aufs Aschehaus, das später den Kompost enthielt, und zog mich weiter hinauf. Besonders im Sommer war es dort oben herrlich, denn die schwer herabhängenden Äste unseres alten Klarapfelbaums bildeten ein schattiges Versteck. Ich lag bäuchlings auf der warmen Teerpappe, sog den strengen Chemiegeruch tief in die Nase und übte mich im Schießen. Meine Waffe war ein gläsernes Blasrohr, in das ich gekaute Papierkügelchen lud, ich zielte nach den gutmütigen metallicblauen Brummern, die es bei uns reichlich gab, und flüsterte hingerissen „Volltreffer!“, wenn ich einen erwischte.
Einmal traf ich versehentlich einen Schmetterling, einen prächtigen, goldbraun schimmernden Großen Fuchs, der mit hochgestellten, wie atmend zuckenden Flügeln auf einem Blatt gesessen hatten. Ich starrte gebannt auf das unförmige Loch in den zart geäderten Schwingen, sah dann das todgeweihte Tier verzweifelt umhertaumeln und begann zu schniefen.
Ein anderes Mal beobachtete ich von hier oben aus meine Eltern. (Das muss lange vor dem Gespräch über Dessous gewesen sein.) Ich hörte unbekannte Geräusche aus dem weitgeöffneten Fenster vom Papas Zimmer. Film-Clip: Das Bett. Mama wippt rittlings auf Papa, stößt leise Schreie aus. Ich sehe ihren schmalen Hinterkopf mit der schwarzen Kurzfrisur, den muskulösen Rücken, schweißglänzend, die Rinne ihrer Wirbelsäule. Papas roter Bart ragt in die Luft, in seinen braunkarierten Socken krampfen sich die Zehen, als wollten sie etwas greifen. Halb bin ich da schon aufgeklärt, oder viertel. Ich will Spaß machen und rufe: „Mama, was machst du mit dem Papa für Sport? Ich seh alles!“
Sie hört auf zu wippen, dreht den Kopf zum Fenster und sagt mit normaler Stimme: „Mach dich runter vom Dach! Kannst dir ein Eis aus der Truhe holen, ich komme gleich.“
Ich nahm mir zwei Eis, und am Abend gab es Holundereierkuchen, die in Teig getauchten und goldbraun gebratenen Blütenteller, und hinterher spielten wir zu dritt Monopoly, knöpften einander Häuser, Grundstücke und ganze Straßenzüge ab. Von Zeit zu Zeit schielte ich unter den Tisch nach den braunkarierten Socken von Papa und musste kichern.
So lernte ich, wie das geht. Später las ich mal, dass der Anblick von Elternsex manche Kinder fürs Leben schockt, sie später impotent bzw. frigide macht.
Impotent bin ich nicht geworden. Jedenfalls nicht total. Fühlte mich nicht geschockt: Ich nahm zur Kenntnis, dass es eben so aussieht, wenn Mann und Frau „das“ miteinander tun: Die Mama reitet auf dem Papa und schreit, und beide recken das Kinn zur Lampe, und davon kommen dann die Babys.
Patricia war in ihrer Jugend Sportlerin, Tennis, ihre Vorhand war berühmt, Pokale und Wimpel aus ganz Europa schmückten ihr Zimmer. Das war aber, bevor Herbert bei der Waffia anfing, danach durfte sie nicht mehr gen Westen reisen. Alles top secret eben.
Sie hatte da aber schon diese und jene inoffiziell überreichte DM- oder Dollarprämie (die sie „Köder“ nannte, aber natürlich nicht zurückwies) auf ihr geheimes Göttinger „Tenniskonto“ überwiesen, ohne dass unsere Ost-Behörden davon Wind bekamen. Das Geld lag lange Zeit eisern fest.
Von ihr, von der Mutter, habe ich den dreieckigen Sportlerrücken, die schmalen Hüften, meine Bizepse, überhaupt meine Rambofigur.
Nicht wie bei Goethe: Vom Vater die Statur, vom Mütterlein die Frohnatur. Sondern von ihr gottseidank die Statur, von ihm aber leider nicht mal eine irgendwie erkennbare Frohnatur, sondern die Verbissenheit, die Erfolgswut, den so oft unkontrollierbaren Jähzorn. Und dieses elende Frustgefühl bei jeder Schlappe.“
1994 veröffentlichte Günter Saalmann im Erika Klopp Verlag München das Buch „Fernes Land Pa-isch“, das parallel zu dem Drehbuch für den Kinofilm „Fernes Land Pa-isch“ entstand, welches der Autor zusammen mit Regisseur Rainer Simon schrieb. „Manchen Einfall, manche Wendung der Dinge verdanke ich unserer gemeinsamen Arbeit“, so Günter Saalmann: Dies ist eigentlich der dritte Band zu „Umberto“. Den zweiten hat der Autor aber weggelassen: „Im Kinderheim“, die Wendezeit, welche die junge Leserschaft wohl selten noch interessiert. In „Pa-isch“ ist Umberto schon ein handfester Bursche – mit dem Gemüt eines Vierzehnjährigen. Die neue Einheit Deutschlands macht’s möglich: Er zieht mit seiner Mutter gen Westen – nun steht ihm ja die Welt offen. Aber auch unter den neuen Bedingungen kriegt er sein Leben nicht in den Griff – oder erst recht nicht. Und er beschließt erneut die Flucht – diesmal soll es aber wirklich nach Afrika gehen. Und er nimmt wiederum seine kleine Schwester mit. Auf einem geklauten Motorrad. Wo sie schließlich landen? Und so geht es los:
„Liebe Leute!
Dies ist eigentlich der dritte Band zu meinem noch kürzlich berühmten Roman „Umberto“, den zweiten Band habe ich ausgelassen. Warum? Weil zur Zeit niemand etwas aus der aufregenden Wender-Zeit im schönen Lande Sachsen lesen mag. Alle rufen: Wissen wir! (Das beste Zeichen, dass niemand was weiß.)
Vielleicht ändert sich die allgemeine Stimmung mal, dann werden womöglich treue Leser erfahren wollen, wie es Umberto drei Jahre lang im Jugendheim Neuensorge erging, in den Jahren, in denen ein ostwärts erhobener Zeigefinger sich verlor im Wald westwärts gespitzter – Eselsohren.
Noch dies:
Als ich vor Jahren meinen ersten Band an die Schriftstellerin Leonie Ossowski schickte mit der Widmung: Der Verfasserin des schönen und schlimmen Buches „Die große Flatter“, da schrieb sie mir zurück, zweierlei wäre interessant zu wissen. Nämlich, was aus ihrem „Helden“ Ricci wohl unter DDR-Verhältnissen und aus meinem „Helden“ Umberto unter bundesdeutschen geworden wäre. Keiner von uns beiden ahnte, dass letzteres einmal zu erfahren sein würde. Nun, hier ist meine Antwort.
Noch das:
Im ersten Buch „Umberto“ steht, dass unser Freund am 12. Oktober 1968 das Licht der Stadt Walda erblickte. Die Jahreszahl war leider ein Rechenfehler von mir. Bei dem vermeintlichen Stillstand der Staatsgeschichte schien es gleichgültig, in welchem Jahr jemand seinen Personalausweis bekam oder zerriss. Eben in dem Punkt hatte ich mich verrechnet. Hier nun also das gültige Datum: Umberto wurde geboren am 12. Oktober 1974.
Und noch ein drittes:
Ein Jugendbuch, wie wir es lieben, ist „Fernes Land Pa-isch“ nicht geworden. Wer es liest, braucht eigentlich ein Herz aus Stein. Achtung also: keinesfalls erweichen lassen!
Pais – das ist das portugiesische Wort für Land, Staat. Umberto hat es nie geschrieben gesehen, sondern immer nur aus dem Mund seines Freundes Octaviano gehört. So ist für ihn Pa-isch herausgekommen. Denn so klingt das Wort in Portugal und in einigen Ländern Lateinamerikas und Afrikas.
- Kapitel
Umbertos derzeitiger Aufenthalt, woher er kommt und wohin er soll. Seine Vorliebe für ein bestimmtes Gemüse verschafft ihm eine böse Stunde in schwindelnder Höhe, aber ein Signalfeuer erlöst ihn
Medock, Umberto, zum Heimleiter!
Die Stimme der alten Sprechanlage schnarrt durch das langgestreckte Gewölbe des Schlosses. Der Fuß im dreckigen Lederschuh zögert eine Sekunde. „Mal wieder kein Wort zu verstehen“, murmelt Umberto und setzt sich in gemächlichen Trab.
Vorüber an der Tür mit der Aufschrift Heimleitung. Am Ende des Ganges überzeugt er sich, dass ihn niemand beobachtet, und verschwindet im Schuhputzraum.
Dieser war früher einmal der Vorraum zu einem Scheinbalkon an der Ostseite des alten Gemäuers. Das Geländer davor ist weggerostet, der „Balkon“ selbst kaum mehr als ein verwitterter Porphyrsims. Die Tür, die an die frische Luft führt, ist aus Sicherheitsgründen zugeschraubt und von außen zusätzlich mit Brettern vernagelt.
Umberto reckt den Arm hinauf in ein Lattenregal: Hinter den Lieferkartons mit Schuhcreme ist eine Wandhöhlung. Die Hand ertastet einen Stoffbeutel, seine „Mauke“, seine ganz privaten Schätze. Er zieht den Beutel auf und kontrolliert den Inhalt: Ein Kinderpassbild von Aleksandra Krautwein, eine Packung Zigaretten, Streichhölzer, ein Päckchen Präser, falls es hier im Heim mit der stämmigen Evi mal „dazu“ kommt, ein Taschenmesser mit sieben Werkzeugen, eine halbe Knoblauchknolle.
Von dieser polkt er die papierweißen Schalen ab, schmeißt sich die Halbmonde in den Mund und kaut mit Todesverachtung. Ab einer bestimmten Menge, das weiß er aus Erfahrung, kommt ihn das Kotzen an beim Kauen, sofern er auch nur im geringsten die Miene verzieht. Also heißt es: eiserne Maske! Immer dran denken: Die dicke Evi frisst Zwiebeln und hält das schon seit Jahren durch.
Nicht ohne Wohlwollen betrachtet er in der vernagelten Türscheibe seine ins Goldene schimmernden Haare, die nicht zu hohe Stirn, die breite Nasenwurzel, die Augen mit den etwas geknifften unteren Lidern. Irgendein Wichser vom Tiefbau hat mal gesagt, diesem Asphaltschnuffi Medock sieht man das Heim an. Umberto hat ihm bei Gelegenheit eins aufs Auge gedrückt, da war Ruhe.
„Medock, Umberto, bitte zum Heimleiter!“ hallt draußen die Lautsprecherstimme, jetzt betont langsam und deutlich.
„Mach ’n Kopp zu“, knurrt der Gerufene.
Obwohl erst Oktober ist, kracht die Heizung. Die Hitze verstärkt den Geruch nach Schweißfüßen und Schuhcreme. (Und vermutlich auch nach Knoblauch.) Er fragt sich manchmal, ob er nach Walda zurück möchte. Im ersten Heimjahr ist er zweimal über den Zaun gestiegen. Die wenigen Stunden zu Hause haben aber nichts gebracht.
Seine sogenannte Mutter Ilona und ihr sogenannter Verlobter Tscheschiak waren beide Male randvoll. Beim ersten Besuch hat er die beiden angeschrien wegen dem Chaos im Wohnzimmer. Beim zweiten Mal hatten sie die Tür zugenagelt. Umberto ist fluchtartig wieder abgehauen, eine Etage höher, zu seiner Schwester Karla. Karla heißt jetzt Karla Backofen und wohnt mit Mann und Kind in der Mansardenwohnung der verstorbenen Großmutter. Aber alles hatte sich verändert seit Großmutters Tod, nur das Vogelhäuschen am Fenster hat noch an sie erinnert.
Karla fand kaum Zeit für ihn. Und zum Bleiben war kein Platz. Da hat er noch bei seiner ehemaligen Lehrerin geläutet. Und als er vor der Klingel stand, hat sein Herz angefangen, schwer zu schlagen. Da wusste er, weshalb er in Wirklichkeit über den Zaun gestiegen war. Der Gedanke, dass gleich vielleicht nicht die Lehrerin, sondern ihre Tochter vor ihm stehen könnte, die magere, stets etwas blasse Aleksandra aus seiner Erinnerung hat ihm das ruhige Atmen schwergemacht. Aber bei Krautweins war niemand daheim, er hat im Park übernachtet.
Okay, ein drittes Mal ist er nicht ausgerückt. Im Heim ist es auszuhalten. Und was seine Strafsache angeht – sie haben ihn nicht verknackt damals, nachdem er versucht hatte, die Waldaer Schule abzufackeln. Die Richterin war von der milden Sorte, sie hat es so hingestellt, dass kein Vorsatz dahintersteckte. Oder fast keiner. Seine Aktion sollte eine Art Notsignal gewesen sein. Reine Psychokiste, sie haben ihn sogar einem Weißkittel vorgestellt.
Das mit dem Notsignal – da lagen sie genau richtig. Nach dem Feuer war auf einmal die Aufnahme in Neuensorge perfekt. Vorher hatte es sich monatelang hingezogen: Heim oder Nicht-Heim. Umberto pfiffelt seine Knoblauchfahne vor sich hin. In Kürze hat er die Ausbildung abgeschlossen, wird als sein eigener Herr mit seiner Kolonne ziehen, herumkommen im ganzen Land, langsam aber sicher. Auf heißen, dampfenden Chausseen, die er selber asphaltiert.
„Umberto Medock zum Direktor!!!“
„Ja doch!“
Er verstaut seine Mauke, zieht den linken Schuh vom Fuß und wienert mit den besockten Zehen über das Oberleder vom rechten, wiederholt die Prozedur andersherum. Schuhkontrolle ist ein Hobby von Mehnert.
Mehnert steht am Schreibtisch, gießt eine Topfpflanze und studiert gleichzeitig ein Aktenpapier.
Umberto tritt nah heran, haucht kräftig: „Hhhhhherr Direktor, Sie wollten mich sprechen.“
Die Nasenlöcher des Angesprochenen, aus denen rötliche Härchen sprießen, weiten sich. „0 Gott, hast du wieder mal das Zeug gekaut?“
Umberto gelingt eine unschuldige, aufrichtige Stimmlage. „Was Sie immer denken. Es kann höchstens vom Mittagessen kommen.“ Er schüttelt den Kopf mit nachsichtigem Tadel.
„Heute gab’s Milchreis, Spinnkopp. Wenn du nur ja mit irgendwas auffallen kannst.“ Der Direktor schnauft, öffnet das Fenster, stellt den Besucherstuhl weit vom Schreibtisch weg neben die Tür. „Nimm Platz. Hör zu, überlege gründlich!“
Umberto gehorcht. Unbehagen beschleicht ihn. Mit Mühe gelingt ihm ein kleines knackendes Schmatzgeräusch beim Öffnen des linken Mundwinkels, jene Grimasse, die er einst einem alten Kumpel abguckte.
Der Direktor macht es heute feierlich, die Hand mit dem amtlichen Papier verrät seinen Tatterich. „Ich lese dir aus einem Schreiben des Jugendamtes deiner Heimatstadt Walda vor: ‘••• hat die hier ansässige Frau Medock, Ilona die Heimentlassung beantragt für ihre beiden Kinder Medock, Umberto und Medock, Bianca, da sie in einem der alten Bundesländer eine passende Wohnung gefunden hat und einen neuen Anfang … ‘“
„’nüber nach ‚m Westen?“, entfährt es Umberto.
„rüber und ’nüber, das gibt’s nicht mehr“, unterbricht Mehnert sein Vorlesen. „Trotzdem muss ich dich fragen, Junge: Willst du wirklich mit? Du hast hier die achte Klasse abgeschlossen und in Kürze einen Beruf in der Tasche. Wegziehen heißt die Ausbildung unterbrechen. Und die Mitarbeiter in deiner Kolonne mögen dich. Sie sagen, du kannst ranklotzen, wenn du willst.“
Umberto stößt alle Atemluft aus. Knoblauchdampf hüllt ihn ein. Guck an, Ilona, denkt er. Hat sie sich doch noch mal zu ’ner Tat aufgeschwungen.
„Und Bianca soll auch mit?“ vergewissert er sich. Die vierjährige Schwester lebt in einem Kinderheim in Dresden.
„Hier steht’s so.“
„Dann muss ich auch. Ohne mich lässt sie die Kleine verkommen.“
Der Direktor seufzt. „Dein letztes Wort?“
„Wenn ich’s sage. Sie lässt sie eingehen wie ’ne Primel.“
„Dann hol morgen früh deine Papiere. Auf der Arbeit meldest du dich selber ab. Bist alt genug.“
Umberto steht auf, saugt diesmal beim Handgeben Luft in den Brustkasten und stellt danach rasch den Abstand wieder her. Mehnert hat schon den Telefonhörer abgehoben und dreht die Scheibe. Umberto greift zur Türklinke.
„Moment! Schuhe?“ fragt der Direktor aus alter Gewohnheit.
Umberto präsentiert im „Stillgestanden“ seine ledernen Treter und verlässt das Büro.“
Bereits 1962 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Bert, der Einzelgänger“ von Brigitte Birnbaum: Der vaterlos aufwachsende Bert verliert durch eine tückische Krankheit auch seine Mutter und soll nun zur Großmutter, die er noch nie gesehen hat. Die alte, vom Leben gebeutelte Frau will den Jungen nicht. Erst als sie erfährt, wer ihn dann bei sich aufnehmen würde, sagt sie zu. Die beiden haben es schwer miteinander, verstehen sich nicht. Das Dorf ist Bert fremd, seine bisherigen Freunde leben in der Stadt und in der neuen Schule gibts nur Schwierigkeiten. Warum und wie sich das Blatt für den einsamen Jungen wendet, erzählt das Buch. Hier aber zunächst der schockierende Anfang, als Bert ein Sterben erlebt:
„I. Kapitel
Die Dämmerung sank auf die Dächer der Stadt. Kalt war der Märzwind, der durch die breite Straße zwischen den Neubauten mit den roten, blauen und gelben Balkons fegte. Fast hätte er dem alten Mann, der auf dem Bürgersteig daherkam, die Mütze vom Kopf gerissen. Der Mann zog sich seine Kopfbedeckung tiefer in die Stirn und stiefelte weiter. Die Straßenlampen brannten noch nicht, und doch sah er vor sich den kleinen Gegenstand. Die lederne Geldbörse lag mitten auf dem Gehsteig. Ein Kinderportemonnaie, dachte er, der arme Tropf wird jammern. Mühsam bückte er sich und griff nach dem Geldtäschchen. Wie von Zauberhand berührt, schnellte es nach rechts. Der alte Mann wusste sofort, dass er gefoppt worden war. Er richtete sich wieder auf und ging ruhig seines Weges. Hinter sich hörte er Kinder johlen. Sie amüsierten sich über ihren Streich. Sie waren aus dem Hausflur herausgekommen, und der Größte von ihnen befahl: „Los, Bert! Leg es noch einmal hin!“
„Warum immer ich?“, fragte Bert maulend.
„Du bist der Jüngste! Bist erst zwölf. Nun mach!“, erhielt er zur Antwort.
Bert huschte zum Geldtäschchen, legte es erneut zurecht und zog dabei den Zwirnsfaden vorsichtig nach. Dann standen die Jungen wieder im Hausflur.
„Passt auf!“, flüsterte einer und hüpfte von einem Bein auf das andere. Sie lugten übereinander durch den Türspalt. Der Vorderste kniete. Er deutete auf eine Frau, die langsam die Straße entlang ging. Ein schwarzer Pudel stolzierte neben ihr her.
Als die Frau das Portemonnaie sah, stutzte sie. Zuerst stieß sie es mit dem Fuß leicht weiter, dann bückte sie sich und versuchte, die Geldbörse zu ergreifen. Ruckartig flog da das Ledertäschchen davon. Die Frau richtete sich mit rotem Gesicht wieder auf und schimpfte wütend: „Ihr Bengels! So eine Unverschämtheit! Ich werde euch bei eurem Lehrer melden!“ Der Pudel kläffte. Die Jungen grölten und versuchten den Hund zu ärgern. Die Horde umtanzte die Schimpfende und den Hund, der wild an seiner Leine zerrte.
Während die Jungen die Frau verfolgten, hatte unten an der Ecke der Autobus gehalten. Vor den vorüberkommenden Menschen verzogen sich die Übeltäter. Unter den von der Arbeit Heimkommenden war auch eine schmächtige, junge Frau in dunkelblauer Uniform. Sie knöpfte ihre Jacke bis oben zu, so dass die beiden blanken Posthörner auf dem Kragen verdeckt wurden, und zog die Schultern hoch. Sie fror. Die Tasche mit den Briefen und Zeitungen, die sie treppauf und treppab getragen hatte, war ihr heute sehr schwer geworden. Sie hätte mittags aufhören sollen. Aber zwei Kolleginnen lagen grippekrank zu Hause, da konnte sie nicht auch noch ausfallen. Plötzlich hob sie den Kopf. Die Jungen lärmten noch immer.
„Bert!“
Bert sah seine Mutter auf der anderen Straßenseite.
„Mensch, bleib hier! Lass deine Alte doch gehen!“, sagte der Große und stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Bert!“, rief die Frau abermals. Sie war stehengeblieben.
Bert schob die Hände tiefer in die Hosentaschen und stakte über die Straße.
„Was habt ihr da wieder angestellt?“, fragte seine Mutter unwillig, „könnt ihr denn nicht vernünftig spielen? Immer musst du mit denen zusammen sein. Das gefällt mir gar nicht!“
„Wieso?“, antwortete er. „Da war doch nichts.“
„Komm!“, sagte die Frau nur.
„Och …“ Widerwillig trottete Bert neben seiner Mutter her. Sie strich ihrem Jungen die dunklen Locken aus dem Gesicht. Bert spürte, dass die Hand seiner Mutter heiß war.
Sie gingen nur noch wenige Schritte und stiegen dann in einem Neubau die Treppen bis in die zweite Etage hinauf. HÖRBER stand in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Schildchen an der Tür. Frau Hörber schloss auf und hängte ihre Jacke in dem schmalen Flur an die Garderobe. Sie eilte in die Küche, wo sie sogleich das Gas auf dem Herd anzündete.
Bert warf seinen braunen Anorak in der Stube achtlos über einen Stuhl. Auf der Straße brannten jetzt die Neonlampen. Ihr bläulicher Schein fiel in das dunkle Zimmer.
„Hast du deine Schularbeiten gemacht?“, fragte Frau Hörber aus der Küche. Bert hörte, dass seine Mutter Brot schnitt.
„Wir haben nichts auf“, antwortete er.
„Bert … !“
„Bestimmt – wir haben morgen zwei Stunden Werken, da …“
„Und die anderen vier Stunden?“, unterbrach ihn seine Mutter von der Küche her. „Wenn du einen Vater hättest, wärest du vielleicht nicht so faul. Er würde dich schärfer Rannehmen.“ Sie seufzte nach ihren Worten.
„Dann hättest du auch mehr Zeit für mich. Dann könnten wir mal zusammen in den Tierpark gehen.“ Bert kam in die Küche. In der Hand trug er seine Schuhe. „Und warum habe ich keinen Vater?“
„Ach, Junge.“ Die Frau wandte sich zum Herd. Sie drehte das Gas ab. „Ich habe dir doch schon erzählt, dass dein Vater damals fortgegangen ist. Ständig kommst du mir damit.“
„Ja, ich weiß! Noch bevor ich geboren wurde, sagst du immer; mehr auch nicht.“ Bert warf seine Schuhe vor den Herd und setzte sich an den Tisch.
„Mehr kann ich dir auch nicht erzählen. Dass deine Großmutter mich nicht verstanden hat und nicht wollte, dass ich deinen Vater gern hatte, habe ich dir auch schon erzählt und dass sie mir darum noch heute böse ist.“
„Ich weiß ja, daher besuchen wir sie auch nie.“
Bert löffelte seine Milchsuppe und sprach dazwischen weiter: „Ich will sie auch nicht sehen, wenn sie zu dir hässlich war.“ Er sah zu seiner Mutter hinüber, die schon wieder aufstand.
„Iss nur, Bert. Ich habe keinen Hunger mehr.“ Sie ging ins Zimmer und zog die bunten Gardinen zu. Dann setzte sie sich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände. Ihr gebeugter Körper zitterte, als weine sie.
„Mutti …“ Bert stand mit seinem Käsebrot in der Hand auf der Schwelle. „Ich habe wirklich nur Mathe auf und die mache ich noch schnell. Du brauchst doch deshalb nicht zu weinen.“
Frau Hörber nahm die Hände vom Gesicht. Sie weinte nicht; aber ihr Gesicht war gerötet, und die Augen glänzten seltsam.
„Warum hast du mich erst angelogen?“ Ihre Stimme klang matt.
„Ach, Mutti … ich … ist dir nicht gut?“ Bert hockte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schulter.
„Ich fühle mich nicht ganz wohl, aber morgen bin ich wieder gesund. Ich muss mich ein bisschen erkältet haben. Beim Atmen schmerzt mir die Brust.“ Wieder zitterte ihr Körper.
„Leg dich hin, Mutti. Ich räume den Tisch ab und spül schnell das Geschirr. Mit Mathe bin ich bald fertig.“ Bert sprang auf und rannte in die Küche. In Windeseile war der Tisch leer. Nur gut, dass die Butterdose unzerbrechlich war, denn in seiner Hast fiel sie ihm aus den Händen. Nun ließ er in das Spülbecken warmes Wasser laufen.
„Abzutrocknen brauchst du nicht“, sagte die Mutter, die noch einmal in die Küche schaute, „ich ordne morgen alles.“ Dann ging sie schleppend in das Schlafzimmer, das sie mit Bert teilte.
Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich Bert ins Schlafzimmer schlich. Er zog sich im Dunkeln aus, um seine Mutter nicht zu wecken. Heute sprang er auch nicht ins Bett, sondern legte sich langsam hin. Die Matratze sollte nicht quietschen.
Der Vorhang an der Tür zum Balkon war nicht ganz zugezogen. Bert sah ein Stückchen schwarzen Himmel, ein paar Sterne und die gelbe Mondsichel. Es dauert nicht mehr lange, dann kann ich die Hälfte sehen, dachte er und kreuzte die Arme unter seinem Kopf. Da erschrak er. Seine Mutter stöhnte laut auf. Sie richtete sich hoch und redete vor sich hin. Es war wirr und unverständlich.
„Mutti!“, schrie Bert entsetzt und knipste die Nachttischlampe an.
Frau Hörber fiel in die Kissen zurück, warf sich auf die andere Seite und stöhnte. Sie starrte Bert an und schien ihn doch nicht zu sehen. „Das Bild …“, sagte sie dann deutlich, „Mutter, es ist doch mein Junge!“
Bert begriff nichts. Noch nie hatte er seine Mutter so gesehen. Warum sprach sie jetzt von der Großmutter, die er nicht kannte. In seiner Angst stürzte er hinaus auf die Treppe und klingelte wie rasend nebenan.
Eine ältere Frau öffnete. „Schnell! Sie müssen kommen! Ich glaube Mutti stirbt.“ Er packte die Frau am Arm und riss sie mit.“
Erstmals 2001 veröffentlichte Dietmar Beetz im Allitera Verlag München „Tamba und seine Tiere. Nach alten Quellen neu erzählt“: Märchen anderer Völker üben einen besonderen Reiz auf uns aus. Je ferner die Vorstellungswelt der Kulturen unseren vertrauten Sehweisen ist, umso mehr sind wir fasziniert von den fremden Mythen und Geschichten. Erzählern wie Dietmar Beetz gelingt es, die fremden Bilder und die ungewohnten Erzählungen in unsere Sprache zu kleiden und lebendig zu machen. Ob es der junge Bauer Tamba ist, der mithilfe seiner Tiere und unerschrockenem Mut die Königstochter gewinnt, der verschmitzte Märchenerzähler Abunawas oder die Steinbockfamilie, die durch List dem Löwen entrinnt: die Menschen und Tiere in den Geschichten dieses Buches werden zu liebenswerten, vertrauten Freunden.
Beetz hat zehn afrikanische Märchen nach alten Quellen neu erzählt. Aus der Feder des begabten Fabulierers sind ebenso kluge wie spannende und rührende Geschichten entstanden, an denen Jung und Alt ihre Freude haben. Hier der Anfang des titelgebenden Märchens:
„Tamba und seine Tiere
Einst herrschte am Fuße der Löwenberge ein gefürchteter König. Ritt er mit seiner Gefolgschaft über Land, verstummten in der Luft die Vögel: legte er am Fluss eine Rast ein, verkroch sich selbst das Krokodil. Am meisten aber zitterten die Untertanen vor ihrem Herrscher und vor seinem Minister.
Der König hatte eine Tochter, die jung war und schön. Die Sänger bei Hofe und die Märchenerzähler auf den Märkten wetteiferten, die Anmut der Prinzessin zu preisen, wobei sie nicht vergaßen, daran zu erinnern, dass der Gemahl der Königstochter König werden würde.
Viele Burschen hatten schon ihr Glück versucht und alle dafür mit dem Leben gebüßt. Keinem war es gelungen, den Inhalt des Amuletts, das der König auf der Brust trug, zu erraten. Wer aber um die Hand der Prinzessin anhielt und das Rätsel nicht zu lösen vermochte, wurde geköpft und den Krokodilen im Fluss zum Fraß vorgeworfen.
Eines Tages hörte auch Tamba vom Los der Unglücklichen und von der Schönheit der Königstochter. Er war auf den Markt gekommen, um Handel zu treiben, doch hatte niemand von seinen Waren gekauft. Trotzdem ließ Tamba den Kopf nicht hängen, im Gegenteil.
„Die Prinzessin heiraten und König werden – das ist genau das Richtige für mich“, sagte er zu Siaka, seinem Freund und Nachbarn. „Ich werde mich mal gleich auf den Weg machen. Wenn du Lust hast, kannst du mitkommen und Minister werden.“
Tamba war für seinen Mut bekannt. Dennoch wunderte sich Siaka über die Absicht des Freundes. Er hielt dies zunächst für eine verrückte Idee. „Dir juckt wohl der Hals?“, fragte er. „Willst du mit dem Schwert des Henkers Bekanntschaft machen? Locken dich die Zähne des Krokodils?“
Tamba hatte sich von seiner Matte erhoben. Bedächtig band er das Huhn und den Hahn, die er zum Markt gebracht hatte, an den Füßen zusammen, lud der Ziege, die gleichfalls ohne Käufer geblieben war, den Sack mit dem unverkauften Reis auf. bückte sich nach der Matte und griff nach Huhn und Hahn.
„Na, Siaka, kommst du nun mit? Bedenke: Als Minister bist du ein mächtiger Mann, kannst helfen, die Geschicke der anderen zu lenken, und brauchst nicht wie ein Bettler auf dem Marktplatz zu hocken.“
„Mag sein, Tamba, aber sei doch vernünftig! Du bist denen bei Hofe nicht gewachsen; du wirst nie und nimmer König werden. Und ich – ich will kein Minister sein, um nichts auf der Welt!“
„Wart ab, Siaka, bis ich dich berufe!“
„Leb wohl, Tamba, und überlege dir jeden Schritt!“
In der einen Hand die Matte aus Reisstroh, in der anderen einen Strick mit der Ziege daran und über der Schulter Huhn und Hahn, so zog Tamba los. Der Weg war weit und führte durch sonnenversengte Savanne. Die Ziege fand kaum einen Halm, Hahn und Huhn suchten vergebens nach einem Körnchen, und auch Tamba darbte. Wenn die Qual überhand nahm, fütterte er dem Huhn und dem Hahn ein paar Körner Reis, aß selber eine Hand voll und ließ die Ziege an der Stohmatte knabbern.
So teilte Tamba die karge Kost, und dabei wuchsen ihm seine Tiere ans Herz. Längst sah er in ihnen mehr als Schlachtvieh, das er gefüttert hatte, um es auf dem Markt zu verkaufen. Sie waren für ihn zu Gefährten geworden, zu Freunden, deren Schicksal in seiner Hand lag.
Bald wurden sie alle vor eine erste Entscheidung gestellt. Eines Abends stießen sie auf eine kranke Schildkröte. Die hatte Fieber, war halb verhungert und fürchtete sich vor der Kälte der Nacht.
„Gib ihr die Matte!“, sagte die Ziege zu Tamba. „Die wärmt, und das Stroh, aus dem sie geflochten ist, schmeckt nicht schlecht.“
„Einverstanden!“, rief der Hahn, und das Huhn riet, die Krankenkost durch ein paar Reiskörner zu ergänzen.
„Das werde ich euch nie vergessen“, gelobte die Schildkröte beim Abschied. „Rufe mich, Tamba, wenn du in Not bist! Ich werde zur Stelle sein und dir helfen.“
Tags darauf gerieten die Tiere und Tamba in ein Ameisenlager, in ein gieriges, fleischfressendes Millionenheer. Diesmal ging es um mehr als bei der Schildkröte, und es blieb kaum eine Wahl. Die Ameisen fielen über die Eindringlinge her, bissen sie und verlangten von ihnen den Reis, den ganzen Sack.
„Gib ihnen, gib schon, gib!“, schrieen Ziege, Hahn und Huhn.
Tamba streute den Reis aus, und die Ameisen ließen ab, um zu den Körnern zu eilen.
„Na und?“, fragte der Hahn. „Werdet ihr euch auch erkenntlich zeigen?“
„Das werden wir“, versprachen die Ameisen gelangweilt. „Wenn Tamba Hilfe braucht, soll er rufen.“
Schweigend zogen er und die Tiere weiter. Längst waren der Hahn und das Huhn nicht mehr an den Füßen gefesselt. Sie wankten wie Krieger nach einer verlustreichen Schlacht hinter der Ziege her. Am Schluss der Kolonne tappte Tamba. Er wurde vom selben Gedanken wie seine Gefährten bedrückt. Was, fragte er sich, werden wir als Nächstes hergeben müssen?“
Zugegeben, diese Märchen aus Afrika klingen etwas anders und ungewohnt. Die Einladung dazu sollte man aber dennoch annehmen. Denn auch in ihnen steckt ein besonderer Zauber. Und vielleicht ist es gerade in diesen vorweihnachtlichen Zeiten gar nicht mal so eine schlechte Idee, diese afrikanischen Märchen nicht nur selbst zu lesen, sondern sie einander vorzulesen …
So oder so: Viel Vergnügen beim Lesen (oder Vorlesen), bleiben Sie auch in diesen Tagen weiter vorsichtig, und weiter vor allem schön gesund und munter, Fröhliche Weihnachten und bis demnächst – dem letzten Newsletter dieses nun mit schnellen Schritten zu Ende gehenden Jahres.
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