"Die Unfallrisiken für Zweiradfahrer sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. In der Schweiz starben 2020 insgesamt 102 Zweiradfahrerinnen und -fahrer im Strassenverkehr, das sind fast 45 Prozent aller Verkehrstoten. Auch der Anteil der Schwerverletzten stieg 2020 mit über 2’500 auf einen Anteil von über zwei Drittel der Verkehrsopfer", sagt Markus Deplazes, Leiter Schaden der Allianz Suisse. Zum Vergleich: In Deutschland lag dieser Anteil im Vergleichszeitraum bei rund 49 Prozent. Auch für das Jahr 2021 weisen die soeben vom Bundesamt für Strassen (ASTRA) bekannt gegebenen vorläufigen Zweiradopferzahlen 66 Prozent aller Schwerverletzten und fast 45 Prozent aller Getöteten aus. 2001 waren es noch 25 Prozent aller Getöteten und 39 Prozent aller Schwerverletzten. "Diese Entwicklung im Zweiradverkehr ist besorgniserregend", so Deplazes.
E-Bikes und E-Trottinettes sind keine Spielgeräte
Der deutliche Anstieg bei den Zweirädern ist auch dem Trend zu Elektrozweirädern geschuldet. In Deutschland und der Schweiz ist jeder dritte, in Österreich sogar jeder zweite auf dem Fahrrad getötete ein E-Fahrradnutzer, das Verhältnis ist in Bezug auf die Fahrleistung und dem Anteil der E-Bikes überproportional. Auch die neuesten Zahlen zeigen für 2021 einen Anstieg der E-Bike-Opfer, während die Opferzahl der übrigen Fahrräder sogar sank. Die Allianz Studie zeigt ausserdem: Das Getötetenrisiko (bei Verletzung tödlich verletzt zu sein) für Fahrradfahrer in Deutschland ist nach Berechnung des Allianz Zentrum für Technik (AZT) beim E-Fahrrad gegenüber dem herkömmlichen Rad im langjährigen Mittel dreimal höher. Ein höheres Risiko findet sich nicht nur bei Senioren, sondern auch bei allen Jüngeren. In der Schweiz war das Risiko einer tödlichen oder schweren Verletzung mit dem E-Fahrrad 2020 um ein Fünftel höher. Obwohl sich damit die E-Bike-Sicherheit in der Schweiz besser darstellt als in Deutschland, wird auch hier die Verletzungsgefahr auf motorisierten Fahrrädern immer noch verkannt. E-Bikes und -Trottinettes zeichnen sich durch besondere Fahrdynamiken aus, auf die sich jeder vorab gut vorbereiten sollte. Vor allem zu Beginn der Fahrradsaison setzen sich viele Wieder- oder Neueinsteiger ohne genügende Fitness oder Übung auf das Rad. "Rasch eine Runde auf dem Hof zum Ausprobieren" ist allerdings kein angemessenes Training, geben die Allianz-Experten zu bedenken.
Ohne Fahrradhelm mehr Kopfverletzungen
Allianz-Schadendaten zeigen, dass Fahrradfahrerinnen und -fahrer ohne Helm 2,5-mal mehr Kopfverletzungen aufwiesen als mit Helm.
Diesbezüglich sind die Schweizerinnen und Schweizer im Vergleich zu den Nachbarländern vorbildhaft: Während hierzulande rund 57 Prozent einen Fahrradhelm aufsetzen, entspricht die Quote in Österreich rund 35 Prozent, in Deutschland sogar nur 26 Prozent. Eine
100-Prozent-Quote ist je nach Szenario erst in ferner Zukunft zu erwarten – aus Sicht der Unfallforscher ist das inakzeptabel. Das Argument, eine Helmpflicht halte vom Radfahren ab, ist durch internationale Forschung nicht zu stützen. Dagegen ist die Akzeptanz einer Pflicht mittlerweile auch bei Radfahrern hoch. "Aus unserer Sicht scheint es dringend geraten, zumindest über eine Helmpflicht für Kinder bis 14 Jahre und für Elektrofahrräder nachzudenken. Beides wirkt nach internationaler Erfahrung unfallmindernd und birgt Signalwirkung für das Sicherheitsbewusstsein aller", sagt Christoph Lauterwasser, Leiter des AZT.
Sicherheitspotenziale von Assistenzsystemen ausschöpfen
Die Möglichkeit, mit Fahrerassistenz in die menschliche Fehlerkette einzugreifen, ist im Zweiradverkehr bei Weitem nicht ausgeschöpft. "Wir begrüssen die EU-Verordnung zur Einführung neuer Fahrzeugsicherheitssysteme. Sie schreibt Notbremssysteme, die Fussgänger und Radfahrer erkennen und selbstständig bremsen, ab 2024 in neuen Fahrzeugtypen und ab 2026 bei Erstzulassungen vor", erläutert Christoph Lauterwasser. "Das hilft, in der Breite die Systeme auf die Strasse zu bringen, die durch Aufprallvermeidung oder Verminderung der Aufprallgeschwindigkeit Leben retten können."
Doch Technik allein reicht nicht. "Gute Fahrzeuge, Verkehrstechnik und Infrastruktur sind essenziell, aber sie kompensieren noch nicht Unerfahrenheit, Unwissenheit, Unachtsamkeit, Müdigkeit, Drogenwirkung, Risikofreude, Rücksichtslosigkeit oder schieren Mutwillen zum Regelbruch, bei allen Verkehrsteilnehmern", sagt Jörg Kubitzki, Studienautor und Sicherheitsforscher im AZT. "Auf der Strasse treffen nicht Fahrzeuge aufeinander, sondern Menschen, und ohne stärkeren Fokus auf Verhaltensrecht und Regelbefolgung wird das Unfall-Lagebild nur schwer zu korrigieren sein."
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