Verkehrs-Whataboutism

Erst Wissing, dann Giffey: Während Verkehrsminister Wissing (FDP) auf der Eurobike-Messe vom Lob aus dem Ausland für tolle Radinfrastruktur träumt, entdeckt die Regierende Bürgermeisterin Giffey (SPD) ihre Abneigung gegen den Radverkehr in Paris wieder. Beide Politiker*innen drücken sich seit Jahren, die Verkehrswende ernsthaft anzugehen. Changing Cities kritisiert, dass sie noch während der schlimmsten Hitzekrise, die Deutschland je erlebt hat, den Status-quo zum Ideal hochstilisieren.

Verkehrsminister Wissing wünscht sich auf Twitter anlässlich der Eurobike-Messe, dass Menschen aus dem Ausland nach Deutschland kommen, "um sich hier anzuschauen, wie wir mit geschützten Radwegen, sicheren Kreuzungen und Brücken das Rad zum selbstverständlichen Bestandteil der Mobilität gemacht haben". Wohlgemerkt: gemacht haben – mission accomplished. Obwohl der Verkehrssektor zum X-ten Mal die Emissionsreduktionsziele gerissen hat, muss sich niemand um nichts kümmern: Man darf statt dessen auf Lob aus dem Ausland hoffen.

Aus ihrem Besuch in Paris zog die Berliner Bürgermeisterin Giffey eine andere Lehre. Der Ausbau der dortigen Radwege habe zu neuen Konflikten geführt, aber laut der Regierenden wenig erreicht, weil das Auto immer noch das wichtigste Fortbewegungsmittel in Paris sei. Damit erkennt Frau Giffey ja eigentlich die Notwendigkeit an, den Kfz-Verkehr zu reduzieren. Warum sagt sie dann aber im nächsten Atemzug der Verkehrswende in Berlin adé wegen eines Beinahe-Unfalls mit einem E-Bike? Das ist unverständlich.

In beiden Fällen wird deutlich, wie ignorant deutsche Politiker*innen mit der Klimakrise und der erforderlichen Anpassung von Infrastrukturen umgehen. Sie haben den Schuss zwar inzwischen gehört, lenken mit ihrem "Whataboutism" – dem Reflex, statt Problemlösungen anzugehen, immer mit der Nennung eines anderen, vermeintlich genauso unlösbaren Problems zu kontern – aber vom eigentlichen Desaster ab: Der Pfad, auf dem wir uns befinden, ist selbstmörderisch. Nein, die Menschheit wird nicht aussterben, aber das Überleben eines Großteils der Menschen steht auf dem Spiel.

Die Zulassungszahlen von Kfz stiegen in Berlin im Jahr 2021 auf 1,48 Millionen – das sind so viele wie nie zuvor. Die CO2-Emissionen im Verkehrssektor sind seit 1990 unverändert hoch, obwohl etwa eine Halbierung bis 2030 laut der Bundesregierung erforderlich ist. Wissing und Giffey sind nur zwei prominente Beispiele, die auf bewusste Ablenkung und Faktenverdrehung setzen. Weil die Wahrheit sie zu sehr schmerzt: Sie haben die Macht und die Möglichkeit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, trauen sich aber offenbar nicht. Haben sie Angst vor der Verantwortung? Haben sie Angst, sich unbeliebt zu machen? Oder stecken dahinter Lobbyist*innen und eine Klientel, deren Interessen vor dem Wohlergehen der Mehrheit geschützt werden sollen?

Wir wissen es nicht. Aber wir sehen, dass ihre Argumente schwinden. Nur mit aggressivem agenda cutting, dem Herunterspielen von Realitäten in der öffentlichen Agenda durch selektive Presseberichterstattung, schaffen sie es, die wissenschaftlich begründeten Notwendigkeiten zu verdrängen.

Über den Changing Cities e.V.

Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

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